Die Tante Jolesch

„Um eine konkrete Namens-Angelegenheit ging es im Fall des ehrgeizigen Bankbeamten Nelkenblum, der seinen Namen geändert haben wollte – wie das in jenen Jahren von den Inhabern ausgefallener oder komisch klingender und obendrein deklariert jüdischer Familiennamen häufig gewünscht wurde (meistens als Vorbereitung zur Taufe).
Herr Nelkenblum reichte also ein Gesuch um Namensänderung ein und wurde von der zuständigen Behörde aufgefordert, eine ausreichende Begründung für seinen Wunsch beizubringen.
Der Name Nelkenblum sei ihm bei seiner Berufskarriere hinderlich, brachte Herr Nelkenblum bei. Das müssten seine Arbeitgeber bestätigen, antwortete die Behörde.
Herr Nelkenblum begab sich zu seinen Arbeitgebern in die Direktion der Prager Kommerzbank, trug ihnen sein Anliegen vor und verließ das Direktionszimmer mit einem Dokument folgenden Wortlauts:

‘Auf Wunsch von Herrn Bernhard Nelkenblum bestätigen wir gerne die Notwendigkeit der von ihm angestrebten Namensänderung, da sich der Name Nelkenblum auf ein berufliches Fortkommen nachteilig auswirken könnte. (Gezeichnet) Feilchenfeld, Generaldirektor, Rosenblatt, Prokurist.’ “

Nachdem die Kaltmamsell so oft und immer überschwänglich Die Tante Jolesch von Friedrich Torberg erwähnt hat, habe ich dieses Buch irgendwann auf meinen Wunschzettel gepackt, Maike hat es mir irgendwann geschenkt – und ich habe es ein bisschen warten lassen. Bis letzten Donnerstag abend, um genau zu sein.

In unserem Wohnzimmer steht eins der Sofas ziemlich nah an meinem Bücherregal, so dass ich bei langweiligen DVDs oder Werbepausen im perfekten Dinner gerne mal meinen Blick schweifen lasse. Und Donnerstag bin ich eben beim T hängengeblieben, hatte gerade keine Lust auf was Englisches und griff zur Tante, nahm sie nach beendetem DVD-Konsum mit ins Bett und begann zu lesen. Und las weiter und weiter und lieh am Wochenende keine Filme aus und ging nicht ins Kino, sondern wanderte durch Prag und Wien und New York, las über Zuckerbäcker und Journalisten und Kellner und Anwälte, über die Emigration, Immigration, Flucht – und hätte gerne noch einen zweiten Band gehabt, um noch mehr Menschen kennenzulernen, die eine gewisse Zeit in der deutschen Geschichte nicht überlebt haben, und um noch mehr über eine Kultur zu lesen, die ich nie erlebt habe, die mir nun aber schmerzlich fehlt.

Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten ist in einer Sprache verfasst, an die ich mich erst wieder gewöhnen musste. Ich habe das Buch mehrere Male angefangen, war aber anscheinend nie in der richtigen Stimmung. Ich weiß nicht, warum ich gerade jetzt ein so wehmütiges und liebevolles und gleichzeitig unglaublich komisches Buch lesen musste, aber ich sehr froh, es endlich gelesen zu haben. Ich will gar keine große Kritik darüber schreiben; ich möchte euch nur bitten, mal in eure Buchhandlung zu gehen, die Tante zu suchen und ein bisschen in ihr rumzublättern. Und sie dann gleich mitzunehmen.

Seit gestern ist übrigens Hundert Jahre Einsamkeit in Arbeit, das mir ein ehemaliger Kollege zum 26. Geburtstag geschenkt hat, wie ich der Widmung entnehme. Señor Márquez musste zwölf Jahre warten. Da war Herr Torberg schneller.