Bücher 2009, Oktober

Marcel Proust/Eva Rechel-Mertens (Übers.) – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 6: Die Flüchtige

Wenn der Erzähler in den ersten fünf Bänden schon eine Menge Zeit mit Introspektive verbracht hat, dann macht er im sechsten fast nichts anderes. Seine Geliebte hat ihn verlassen, und er sinniert nun, wie er die Gute wieder zurückkriegt. Sie schreiben sich Briefe, für die man beide mal wieder gehörig durchschütteln möchte („Ich schreibe ihr, dass sie wegbleiben soll, denn dann weiß sie, dass sie zurückkommen soll“ – WAAAAH!), lernt aber gleichzeitig noch mehr über den anstrengenden Charakter der Hauptperson. Ich fand es wie immer sehr spannend, ihm bei seinen Gedankengängen zuzugucken, auch wenn sie mich wahnsinnig gemacht haben. Schließlich erhält Marcel eine Todesnachricht, und damit beschäftigt sich so gut wie der komplette Rest des Bändchens (420 Seiten ist für die Recherche ja lächerlich): Wie geht es Marcel beim ersten Lesen, wie beim zweiten, wie beim ersten Schock, wie beim allmählichen Vergessens der betreffenden Person. Hört sich wie immer spinnert an, liest sich aber unwiderstehlich.

Charles Burns – Black Hole

Spooky stuff. Diesen Comic habe ich abends nur gelesen, wenn ich wusste, dass der Kerl noch wach war, damit er mir notfalls eine plüschige Geschichte von regenbogenfarbenen Einhörnern und langhaarigen Prinzessinnen in ihren Unterwasserschlössern aus Gold erzählen könnte. Tagsüber war die bizarre Geschichte etwas leichter zu verdauen. Es geht um High-School-Schüler und -Schülerinnen, der Mode nach zu urteilen, in den 70er Jahren. Einige von ihnen sind von einer sexuell übertragbaren Krankheit befallen, was einigen von ihnen Schwänze wachsen lässt oder einem anderen einen zweiten Mund am Hals, der sogar sprechen kann. Das Buch dreht sich um vier Charaktere, erzählt die Geschichte von einem von ihnen, springt wieder zu den anderen, setzt alle vier in Verbindung und konzentriert sich wieder auf eine Figur.

Was das Buch so verstörend macht, ist nicht nur der Inhalt, den ich mal als Metapher auf der Erwachsenwerden und den schwierigen Umgang mit Sexualität deute, sondern die Zeichnungen. Das Buch ist gefühlt zu 80 Prozent schwarz, die weißen Flächen sehen aus wie mit dem Holzschnittmesser aus dem Papier gefräst. Die Bilder sind sehr präzise und gleichzeitig sehr reduziert, was die grotesken Krankheitsmuster noch unheimlicher erscheinen lässt. Und hinter allem scheint eine große, schwere Schwärze nur darauf zu warten, alles zu überfluten. Nicht unbedingt ein Gute-Laune-Buch, aber definitiv eins, das mich sehr beeindruckt hat.

Marcel Proust/Eva Rechel-Mertens (Übers.) – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7: Die wiedergefundene Zeit

Das große Finale – das sich gar nicht wie eins anfühlt, sondern eher wie ein langer Abschied von den vielen Figuren, die einen über 3.500 Seiten begleitet haben. Die Realität hält kurz Einzug in die Recherche: Der Erste Weltkrieg reißt einige der Charaktere mit sich, die Witwen gehen neue Verbindungen ein, und daraus entstehen neue Verwandschaftsverhältnisse, die beim letzten Salon des Buchs wie immer für Gesprächsstoff sorgen.

Das Hauptmotiv des siebten Bandes ist aber die Zeit. Endlich wird dem Erzähler klar, wie viel er schon davon verschwendet hat und wie wenig ihm noch bleibt. Er findet seine Berufung – Schriftsteller –, aber in dem Moment, in dem er weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll, naht sich ihm der Tod. Ganz blöd könnte man die vielen, vielen Buchseiten also mit „Nutze den Tag“ zusammenfassen, aber ich ahne, dass man damit Proust nicht ganz gerecht wird.

Wie es mir damit geht, eines der ganz großen Werke der Weltliteratur durchgelesen zu haben, habe ich hier aufgeschrieben.

Gerbrand Bakker/Andreas Ecke (Übers.) – Oben ist es still

Ganz andere Schiene als der Herr Proust. Wenige Worte, wenig, was passiert, karge Landschaft, viel Regen – und doch brodelt im ganzen Buch so viel Last, die Hauptfigur Helmer mit sich herumschleppt. Er ist 55, die eine Hälfte eines Zwillingspaares, und das Buch beginnt damit, dass Helmer seinen alten Vater vom Erdgeschoss in den ersten Stock des elterlichen Hauses trägt, damit dieser sterben kann. Im Laufe des Buchs erfahren wir, wie es der anderen Zwillingshälfte geht, dessen Freundin, deren Sohn und eben Helmer und seinem Vater, die viel Zeit aufarbeiten. Mit wenigen Worten und noch weniger Taten. Ich mochte die klare, einfache Sprache sehr gerne, die viel Raum für eigene Gedanken lässt und einen doch zielgerichtet an die Hand nimmt. Danke an Isa für den Hinweis.

Warren Ellis/Darick Robertson – Transmetropolitan 2 – Lust for Life

Der zweite Sammelband der Storys um Spider Jerusalem, dem Comicreporter, der Hunter S. Thompson nachempfunden wurde. Genauso gut wie der erste, wenn auch die Überraschung über die futuristische (und sehr anstrengende) Welt fehlte. Dafür versteckt sich in diesem Band zwischen den ganzen Schimpfworten, Obszönitäten, Folterfernsehen und sprechenden Polizeihunden eine Geschichte über eine Frau, die sich in unserer Zeit per Kryonik hat einfrieren lassen. Sie wird brutal in der Zukunft geweckt, auf die sie natürlich überhaupt nicht vorbereitet ist – und die sie sich garantiert etwas puscheliger vorgestellt hat. Ich fand das Gedankenspiel sehr interessant: Was ist mit den ganzen Nasen, die sich heute auf Eis legen lassen? Mal abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass man sie wiederbeleben kann, aber wenn doch: Wird es ihnen so gehen wie der Frau in der Geschichte, die vor allem feststellen muss, dass die Gegenwart den Besuch aus der Vergangenheit so gar nicht zu würdigen weiß? Ein fast poetischer Einschub im lauten Transmetropolitan.

Guido Sieber – Des Engels letzter Fall

Ein Relikt von 1992 aus dem Kerl’schen Regal. Optik: als ob ein schlechtgelaunter Max Beckmann Comics zeichnet. Sehr expressiv, vulgär – und damit sehr faszinierend. Sprache: selten so gelacht und politisch mehr als unkorrekt. In Engel geht es um einen, ja genau, Engel, der vom Teufel verführt wird, sich die Hölle mal anzugucken, weil in ihr deutlich mehr los ist als im Himmel, in den ja keiner mehr kommt, denn wer ist heute schon ohne Sünde. Oder wie der Engel es ausdrückt: „Wir kriegen nur noch Totgeborene, ewig Kranke, Verhungerte, na dritte Welt und so! Kein schöner Anblick! Das kann ich dir sagen! Kannst dir ja vorstellen, dass da nicht allzuviel zu tun ist. Die meisten von uns sind erstmal auf unbefristete Zeit zwangsbeurlaubt.“ — Teufel: „Junge, Junge.“ Ein zweiter Handlungsstrang beschäftigt sich mit Herrn el Lobo, einem Privatdetektiv, der eher damit beschäftigt ist, peinliche Anmachsprüche loszulassen als seinen Job zu machen, weswegen er über kurz oder lang den Engel trifft, der sich gerade auf verbotenem Terrain bewegt. Engel hat ein paar philosophische Einschübe, die aber netterweise fast untergehen im krachledernen Getümmel. Schönes Ding.

Kyle Baker – Why I hate Saturn

Auch schon etwas älter (1990) und daher teilweise leicht angestaubter Humor. Saturn erzählt von Anne, einer bewusst dauerbetrunkenen Schriftstellerin, die sich mit einer Kolumne über Wasser hält, keinen Führerschein oder ID hat und sich mit ihrem Kumpel Ricky total tiefsinnige Diskussionen darüber liefert, was Männer an Frauen tollfinden (hint: tits and ass). Der Comic liest sich wie eine gezeichnete Sitcom und hat teilweise sehr hübsche Captions, nervt aber nach einer kurzen Zeit ziemlich. Auch wegen der angesprochenen tits-and-ass-Problematik. Und der jammerigen Heldin.

Muriel Barbery/Gabriela Zehnder (Übers.) – Die letzte Delikatesse

Barberys erster Roman und gleichzeitig der vor dem Welterfolg Die Eleganz des Igels. Beim Igel mochte ich den versponnenen und teilweise arg überkandidelten Sprachstil ja ganz gerne, aber Delikatesse hat fast konstant genervt. Die Struktur ist allerdings spannend: Ein im Sterben liegender Restaurantkritiker erzählt davon, wie er ein letztes Mal ein bestimmtes Gericht essen will, wenn er nur wüsste welches, weshalb er sich in einer Rückschau an vieles erinnert, was er schon gegessen hat. Um seine Kapitel herum erzählen andere, wie sie diesen Kritiker zu Lebzeiten wahrgenommen haben: kurz gesagt, als Mistkerl. Das Dumme ist, dass Barbery zu wenig aus dieser Idee macht; die einzelnen Kapitel sind viel zu kurz, um Tiefe entwickeln zu können, weswegen die Hauptfigur ein blödes Klischee bleibt.

Das dazu auch noch einen ganz schlimmen Tonfall drauf hat, voller Worte, die schmeckig klingen sollen und doch nur schiefe Bezüge sind. Wie zum Beispiel „Die Fleischklößchen, mit dem gebührenden Respekt für ihre Festigkeit gebraten und trotz der Feuertaufe kein bißchen trocken, erfüllten meinen Mund des professionellen Fleischfressers mit einer warmen, würzigen, saftigen und kompakten Welle des Kauvergnügens. Die süßen Paprikaschoten, ölig und frisch, besänftigten meine von der männlichen Strenge des Fleisches beherrschten Geschmacksknospen und bereiten sie erneut auf diesen mächtigen Angriff vor.“

„Meinen“ Mund des Fleischfressers? „Welle des Kauvergnügens“? Und dann sind da noch etliche seltsame Ãœbersetzungsschnitzer drin, wie zum Beispiel „Ich machte einen langen Spaziergang auf der Omaha Beach“ – im Französischen ist „Strand“ weiblich, bei uns aber nicht. Ich weiß nicht, ob der Verlag Delikatesse innerhalb von fünf Minuten auf den Markt geworfen hat, als sich abzeichnete, dass Igel so toll laufen würde – wenn ja: dumme Idee.

(Für gute Fressbeschreibungen empfehle ich ja immer Herrn Paul. Bei dem klingt das nämlich so, als ob er alles wirklich gegessen hat anstatt sich in einem kleinen Schreibstübchen nur vorzustellen, wie wohl Frikadellen mit Gemüse munden.)