Bücher Januar 2012

So einen Monat hätte ich gerne immer: nur – tolle – Bücher. Und davon gleich ne Menge. Aber das scheint so ein Januar-Ding zu sein; wenn ich mir die letzten beiden Jahre so anschaue, lag im Januar immer ein recht großer Stapel am Monatsende zum Fotografieren bereit.

Hanns-Josef Ortheil – Das Verlangen nach Liebe

Der Klappentext zitiert Die Zeit, die meinte, dass Ortheil glücklich Buch nach Buch schreibe und an seiner Rolle als Kunst- und Liebesbeschwörer feile, und das fasst so ziemlich alle seine Bücher zusammen. Es passiert recht wenig, meistens wird gegessen, getrunken, geküsst, musiziert oder in Museen rumgehangen oder man redet über Essen, Trinken, Liebe, MusikBücherKunst, und dann ist das Buch vorbei, und ich bin satt und zufrieden.

(Leseprobe bei amazon.de.)

Judith Schalansky – Der Hals der Giraffe: Bildungsroman

Die Biologielehrerin Lohmark lebt in Mecklenburg-Vorpommern; sie unterrichtet Biologie seit gefühlten 100 Jahren, und sie hat sich ein Weltbild zurechtgezimmert, von dem sie nicht abweicht. Die Stärkeren werden gewinnen, Darwin hatte Recht, man kann sich nicht über alles aufregen, und was ich nicht sehe, passiert auch nicht. Das mag man als verbittert empfinden; ich habe es als „das war schon immer so und das bleibt so und das ist auch gut so“ empfunden. Eben eine kleine, eigene Insel; nicht unbedingt voll Glückseligkeit, aber eine, die Schutz bietet vor dem Wandel, die immer da ist, ganz gleich was passiert. Und dann ereignet sich eben doch etwas; eine Schülerin erregt Lohmarks Aufmerksamkeit, was ihr spanisch vorkommt. Auf einmal dockt die Insel am Festland an. Es passiert eigentlich nicht viel, die Giraffe ist mehr ein langer stream of consciousness, in dem Charaktere auf- und wieder abtauchen, aber mich hat das Buch absolut gefesselt. Ich mochte die sparsame Sprache, die an der Grenze zur Hartherzigkeit entlangschrammt, und ich mochte die Figur, um die sich alles dreht. Das heißt nicht, dass ich sie sympathisch fand, ganz im Gegenteil, aber vielleicht mochte ich das Buch deshalb so sehr. Weil es so weit von mir weg ist und mich trotzdem berührt hat.

(Kritiken beim Perlentaucher, Leseprobe bei amazon.de.)

Émile Zola – Der Bauch von Paris

Klassiker, über den ich, wie über die meisten Klassiker, kaum was sagen kann oder will. Vielleicht nur: Selten habe ich so gerne eine Buchseite über Käse gelesen, und ich habe mich gefreut, dass in dem Buch Dicksein als etwa Posititves empfunden wurde, auf das man neidisch war. Weil es sich eben nicht jeder leisten konnte, dick zu sein. Ich habe die Beschreibung der Metzgersfrau sehr genossen; wie sinnlich Zola ihre speckglänzenden Arme beschreibt, ihr gerötetes Gesicht, die Kraft, die in ihr steckt und die Gesundheit, die sie ausstrahlt. Las sich für mich als model- und Hollywooderzogenes Ding sehr ungewohnt und sehr schön.

(Volltext beim Projekt Gutenberg, wo leider, genau wie bei meiner verlinkten Ausgabe, kein Ãœbersetzer_innenname angegeben wird.)

Eugen Ruge – In Zeiten des abnehmenden Lichts: Roman einer Familie

Das Buch, das ich euch von den Januarbüchern am dringendsten ans Herz legen möchte, wobei die Auswahl diesmal wirklich schwer fiel. Licht handelt von einer Familie – das lese ich ja grundsätzlich gerne –, deren Geschichte im 3. Reich beginnt, in der Sowjetunion und in der DDR weitergeht und schließlich im wiedervereinigten Deutschland und Mexiko endet. So ziemlich jedes Familienmitglied hat eine eigene Stimme und erzählt Begebenheiten aus seiner oder ihrer Sicht, was am Anfang ein bisschen kompliziert ist, vor allem, weil wir auch in der Zeit vor- und zurückspringen, was aber irgendwann ein äußerst feinteiliges und überwältigendes Bild ergibt, das mich sehr beeindruckt hat. Zuerst war mir diese oder jede Person sympatisch, dann hörte ich über sie aus anderem Mund etwas, und alles änderte sich, dann kam noch eine Perspektive, und wieder war alles anders. Es wird einem ständig der Boden unter den Füßen weggezogen, ganz so, wie es auch dieser Familie ergeht. Die deutsche Geschichte spielt auch eine Rolle, aber ich habe sie eher als sehr gut gestaltete Tapete empfunden. Das Drama kommt aus den Figuren, und die sind allesamt großartig. Licht hat 2011 den Deutschen Buchpreis gewonnen.

(Kritiken beim Perlentaucher, Leseprobe bei amazon.de.)

Thomas Pletzinger – Gentlemen, wir leben am Abgrund: Eine Saison im deutschen Profi-Basketball

Basketball ist mir total egal. Der Kerl hat ewig versucht, mich mit der NBA anzufixen, aber es hat nie funktioniert. Was ich an Fußball so mag: ein Spielaufbau, den ich optisch nachvollziehen kann und Regeln, die ich kenne. Was ich an Basketball verwirrend finde: dass es viel zu schnell ist und ich keine Ahnung habe, warum da gerade Foul gepfiffen wird. Auch nach Pletzingers Buch finde ich den Sport zu schnell, und ich verstehe die Foulregeln immer noch nicht, aber trotzdem gucke ich seitdem so ziemlich jedes Spiel von Alba Berlin, das übertragen wird. Und als Bayern-Vereinsmitglied gucke ich die jetzt natürlich auch.

Gentlemen entwickelt einen fiesen Sog, dem eine simple, aber äußerst effektive Dramatik zugrunde liegt. Wir fangen am Ende der Saison an, als Alba schon in den Play-offs um die deutsche Meisterschaft steht und gegen die Brose Baskets aus Bamberg antreten muss. Dann springen wir ein paar Monate zurück, begleiten die Jungs bei den Saisonvorbereitungen, im Training, bei den ersten Ligaspielen, beim Eurocup. Eine Halle reiht sich an die nächste, die Busfahrten hören nie auf, und ich hatte die ganze Zeit den Satz „You’re entering the world of pain“ im Hinterkopf, wenn Pletzinger sich den Muskeln und Knochen der Spieler widmet. Namen tauchen auf, verschwinden wieder, wir erfahren zuerst die Pointe und kriegen dann das Set-up, und all das zeichnet ein äußerst fesselndes Bild.

Man merkt dem Buch an, dass es jemand geschrieben hat, der weiß, wovon er redet. Pletzinger hat selbst Basketball gespielt, weiß, wie es sich anfühlt zu gewinnen, zu verlieren, knapp zu verlieren, so nah und doch so fern. Und dieses Wissen macht aus einer reinen Saisonbeschreibung eine Liebeserklärung an den Sport und seine Akteure, der man sich überhaupt nicht entziehen kann.

(Pletzinger liest und noch mehr Zeug bei KiWi)

Jan Brandt – Gegen die Welt

Es gibt Romane, die erschlagen einen einfach, nicht nur weil sie knapp 1.000 Seiten haben, sondern weil sie ein riesiges Panorama an Personen entwerfen, die sich auf ziemlich engem Raum konzentrieren. Gegen die Welt ist so ein Roman. So gut wie die komplette Handlung findet in Jericho statt, einem kleinen Dorf in Ostfriesland. Wir schauen einigen Jungen (und wenigen Mädchen) beim Erwachsen- und ihren Eltern beim Altwerden zu. Wer wie ich in so einem Dorf aufgewachsen ist und das auch noch in den 80ern, so wie die Hauptfiguren, für den ist das Ganze ein fieser Trip in die eigene Vergangenheit, auch wenn meine Mitschüler_innen netterweise nicht ganz so irre waren. Aber wer weiß? Ich habe nicht nach ihnen gegoogelt, und vielleicht ist ihnen genau so eine Story zugestoßen. Denn in Welt geht es nicht „nur“ um ein paar Lebensjahre, sondern gleich noch um Ufos, die Bibel, Musik, Treue, Liebe, Verlangen, Verrat, die Vergangenheit, die Zukunft und den Übergang in eine andere Dimension. Und noch mehr, aber das waren die Motive, die sich mir aufgedrängt haben und dafür sorgten, dass ich den Wälzer in wenigen Tagen durchgelesen habe. Und von mir aus hätte er 2.000 Seiten haben können.

(Kritiken beim Perlentaucher, Leseprobe bei amazon.de.)

Ernest Cline – Ready Player One

Ready würde ich fast in die Fantasy-Ecke stellen – eine Literaturgattung, mit der ich eigentlich wenig anfangen kann. Der Großteil des Romans spielt nämlich in OASIS, einer Simulation à la Second Life, aber natürlich viel toller und bunter und verlässlicher, und außerdem befinden wir uns circa 2045, wo ja eh alles anders ist. Fast. Denn der Erfinder von OASIS ist durch eben diese Erfindung unfassbar reich geworden, hat aber niemanden, dem er seine Kohle vermachen kann und ruft daher zu Ostereierjagd: Alle Avatare in OASIS dürfen sein Easter Egg suchen, das er programmiert hat und dessen Fund eine satte Erbschaft nach sich zieht. Klingt erstmal komisch: ein Buch über ein Videospiel, und das ist dann auch die Schwachstelle des Romans. Klar ist das lustig, dem üblichen „Gute Avatare gegen böse Avatare“ zuzugucken, und weil der Erfinder ein Fan der 80er Jahre war, steckt das Buch voller Anspielungen auf dieses Jahrzehnt. Das ist nett, aber der offensichtliche Versuch, möglichst viele Videospiele, Bands, Songtitel, TV- und Filmreferenzen aus dem Hut zu zaubern, überdeckt manchmal die Geschichte. Außerdem ist das Set-up in OASIS sehr erklärungsbedürftig, und diese Stellen verzögern den Lesefluss ziemlich. Trotzdem ist es spannend genug geschrieben, dass man sich durch die Bedienungsanleitung halt durchquält, weil man weiß, dass es danach wieder lustig bunt wird. Die Figuren sind leider auch eher Avatar-Qualität – sehr durchschaubare Biografien, sehr plakatives Schwarz-Weiß, nun ja.

Und eben das Genre: Ich habe meist Schwierigkeiten mit komplett ausgedachten Welten, weil man sich als Autor oder Autorin immer alles so schön hinlegen kann, wie’s passt. Klar, kann man in „realen“ Settings auch, aber bei Romanen, die in unserer Welt spielen, muss ich davon ausgehen, dass mein Gegenüber nicht plötzlich fliegen kann oder ähnliches. Deswegen fällt es mir schwer, mit Figuren in derartigen Büchern mitzufiebern, weil ich sie als genauso wenig echt empfinde wie ihre Umgebung. Wahrscheinlich hat mir deshalb auch der Teil des Buchs am besten gefallen, der außerhalb von OASIS stattfand.

(Leseprobe bei amazon.de.)

Katharina Greve – Patchwork – Frau Doktor Waldbeck näht sich eine Familie

Das erste Buch von Greve, Ein Mann geht an die Decke, habe ich schon geliebt, und Patchwork ist genauso wundervoll. Dieses Mal geht es um eine Transplantationschirurgin, die sich aus „Resten“ eine Familie zusammenklöppelt. Dass die etwas seltsamen Kreaturen es nicht unbedingt leicht haben, war ihr nicht ganz so klar wie uns, und so muss sich Frau Doktor Waldbeck überraschenderweise mit einer Boulevardzeitung auseinandersetzen, dem Rassisten von nebenan und irgendwie mit Nordkorea. Der Strich ist wieder sparsam, die Dialoge wieder auf den Punkt, und ich lege euch Greves zweites Buch genauso ans Herz wie ihr erstes.

(Leseprobe und weitere Links auf Greves Website freizeitdenker.de.)

Leif Randt – Schimmernder Dunst über CobyCounty

Auf den ersten fünf Seiten war ich äußerst irritiert über den oberflächlichen Stil, den ähnlich dahinplätschernden Inhalt, aber dann war ich plötzlich drin in CobyCounty, einem fiktiven Ort, an dem dauernd die Sonne im Meer glitzert, junge, schlanke Menschen Säfte trinken, als Literaturagent oder Grafikdesigner arbeiten, unverbindliche Affären haben und beim Sex über das richtige Adjektiv zur Gefühlslage nachdenken. CobyCounty flirrt auf jeder Seite und entwirft nebenbei das Bild eines unheimlichen Paradieses, das gleichzeitig anziehend und abstoßend wirkt. Mir hat die Sprache außerordentlich gut gefallen, weil ich bei jedem Wort das Gefühl hatte, dass genau dieses Wort und kein anderes hier hin gehört. Die Geschichte selbst hat mich kaum berührt, aber ich war sehr fasziniert von den präzisen Beschreibungen des Protagonisten.

Nebenbei: Das Buch sollte man als Buch lesen und nicht als eBook. Es ist weiß eingebunden mit einer silbernen Fläche auf dem Titel und geprägten Silberbuchstaben. Wenn irgendein Buch seinen ersten Eindruck von Stil und Tonfall einlöst, dann das hier.

(Kritiken beim Perlentaucher, Leseprobe auf amazon.de.)

Simon Borowiak – Wer Wem Wen. Eine Sommerbeichte

Ein passender Monatsabschluss. In Wer Wem Wen geht es genau darum: wer mit wem und wer hat wen? Zwei Freunde, Cromwell und der Ich-Erzähler, fahren mit der neuen Freundin von Cromwell auf eine winterliche Hütte (schon von Vornherein eine doofe Idee), wo der Erzähler sich als jemand outet, der ab und zu Tabletten braucht, wo Cromwell eigentlich schon beim Losfahren weiß, dass er ohne Freundin wiederkommen wird, was aber die Freundin noch nicht weiß, und wo sich noch drei weitere Menschen dazugesellen, die den Verlauf der Geschichte entscheidend beeinflussen. Die Story ist ziemlich schlicht, die Sprache alles andere als das. Genau wie bei CobyCounty ist sie für eine Grundstimmung zuständig, die ständig schwankt zwischen erzwungener Pärchenharmonie und hysterischen Ausbrüchen. Unter allem wabert eine hinterfotzige Depression, die sich gerne zu unpassenden Momenten Gehör verschafft, und alles zusammen ist schlicht unwiderstehlich.

(Leseprobe bei amazon.de.)

(Unter den Titeln bzw. Leseproben verbergen sich teilweise Amazon-Affiliate-Links)