Groupietum, 500 Jahre zu spät

Nachdem ich in Rom gemerkt hatte, wie wundervoll das ist, sich mal wieder ein bisschen altes Zeug anzugucken, buchte ich am Wochenende äußerst spontan einen Flug nach München, um a) mit Frau Kaltmamsell gut essen zu gehen und b) vorher der Alten Pinakothek einen Besuch abzustatten. Ich sparte mir das gesamte Erdgeschoss, denn ich wollte nur eins: den Herrn Raffael wiedersehen, dessen Stanzen mich im Vatikan so beeindruckt hatten.

Vor den italienischen Malern bot der erste Stock aber erstmal ein paar Franzosen, Holländer und Flamen. (Nein, keine _innen.) Ein paar Bilder notierte ich mir, um sie zuhause in Ruhe zu ergoogeln, weil sie mir so gut gefallen haben, dass ich mehr über sie wissen wollte. Über die meisten erzählte mir freundlicherweise der hervorragende Audioguide etwas. Mit den Dingern stehe ich manchmal auf Kriegsfuß – das letzte Mal schleppte ich sie im Grünen Gewölbe mit mir rum, und da reichten zehn Minuten, um sie mir zu verleiden. Den hier kann ich aber weiterempfehlen: Die Infos sind gefühlt um die fünf Minuten lang, nicht zu kurz, nicht zu schnarchig, die Sprecher_innen gut ausgewählt, und zu den meisten Bildern kommt ein Fakt, den man sich prima für Small Talk merken kann. So zum Beispiel zu „Das Große Jüngste Gericht“ von Rubens, eines der größten Bilder, die je in Europa gemalt wurden. Der Saal, in dem das Bild hängt, wurde eigens dafür konzipiert – und der Rest des Museums wurde dann um diesen Raum herum gebaut. Das „Gericht“ ist das einzige Bild, das noch am gleichen Ort hängt, an dem es zur Eröffnung des Museums 1836 hing.

(Ich mag solche Geschichten.)

Im Vatikan hatte ich gelernt, dass man auch „punktuell“ durch ein Museum gehen kann, ja, dass das vielleicht sogar die schlaueste Methode ist, um sich nicht selbst zu langweilen. Also: nicht jedes Bild angucken bzw. vor jedem pflichtbewusst stehenbleiben, sondern sich die rauspicken, die einen sofort erwischen. Ich gucke mir im Cinemaxx ja auch nicht alle zehn Filme an, nur weil sie da sind, sondern nur den, den ich eben sehen möchte. Also ließ ich in jedem der Räume den Blick erstmal schweifen, sah sofort ein, zwei, drei Bilder, die mich anlachten, machte trotzdem brav eine Runde – manches sieht ja erst auf den zweiten Blick toll aus –, schlenderte aber doch relativ zielstrebig zu den Auserwählten und gönnte mir dann dort eine etwas längere Zeit. Es war leider nicht zu allen etwas auf dem Audioguide zu finden, aber deswegen notierte ich mir die Titel ja auch.

Eins der ersten Bilder, das mir auffiel – auch wegen seiner Größe, aber noch mehr wegen des Inhalts – war nochmal ein Rubens: „Der Höllensturz der Verdammten“. Vor dem Gemälde kann man durchaus einen halben Tag zubringen, um alle Figuren zu erfassen, die dort ins Fegefeuer stürzen. Es kam mir sehr modern vor, und ich habe mich an Moores und Gaimans Comics erinnert gefühlt. (Nein, ich behaupte, damit tue ich weder Herrn Rubens noch den anderen beiden Jungs unrecht.)

Ein kleiner Ausgleich: die weltliche Pracht des „Obst- und Gemüseladens“ von Frans Snyders. Sieht in Wirklichkeit deutlich schmackhafter aus. Und wenn man nach dem Mann googelt, findet man noch viele weitere leckere Stillleben.

Dann fiel mir Tintorettos „Bildnis eines Jünglings mit einer Skulptur der Lucretia“ ins Auge, weil es zwischen der ganzen Farbenpracht und dem Jesus-Maria-Apostel-Overkill sehr herausstach. Es sieht fast schwarzweiß aus, so stark ist der Kontrast zwischen dem dunkel gekleideten Jüngling und der weißen Statue, an der er lehnt. (Finde ich nicht bei Google. Hm.)

Und dann kam ein Bild, das ich von nun an als mein neues Lieblingsbild bezeichne (sorry, Seerosen): „Die mystische Vermählung der hl. Katharina“ von Lorenzo Lotto, der mir vorher, ehrlich gesagt, unbekannt war. Weder mein Monitor noch das Buch, das ich sofort im Museumsshop erwarb, kann die Farbpracht auch nur annähernd wiedergeben, die einem entgegenleuchtet, wenn man vor dem Werk steht. Es erzeugt eine tiefe Ruhe, der knarrende Fußboden ist auf einmal egal, die Schulklasse im Raum hinter einem auch, ich versank völlig in den Falten der Gewänder, dem ruhigen Gesicht von Maria und dem weichgrünen Vorhang, der die Intimität der Szene noch verstärkt. Ein wunderschönes Bild, und mir fehlen absolut die Worte, es adäquat zu beschreiben. (Und mir fehlt die Fähigkeit, das iPhone ruhig zu halten.)

Von Fra Filippo Lippi mochte ich besonders „Maria mit dem Kind“, das Google nur in winzig ausspuckt bzw. anscheinend hat der gute Mann 700 Bilder gemalt, in denen die Worte „Maria“, „Madonna“, „Kind“ etc. vorkommen. Ich meine das hier. Die Gesichter waren nicht so plüschig wie die meisten anderen, und die Details sind so feinziseliert, dass es sehr neu aussieht. Klingt blöd, weiß ich, aber es wirkt eben, als wären die Ärmel gestern bestickt worden, weil sie heute noch so golden schimmern.

Verstörend, selbst wenn man christlichen Motiven nichts abgewinnen kann: „Die Beweinung Christi“ von Botticelli. Auch hier muss man davorgestanden haben, anstatt einen Link anzuklicken. Die Farbigkeit ist nicht so intensiv wie bei Lotto, aber die verzerrten Gesichter und die dramatischen Posen haben mich sehr gefangen. Und auch hier: Es sieht nicht so aus, als sei es 500 Jahre alt. Die Figuren haben mich an Picasso und den Kubismus erinnert, denn sie sind nicht ganz perspektivisch korrekt bzw. eindeutig nicht so gemalt, als sollten sie ein Abbild sein. Die erschienen mir wie Sinnbilder, und sie sind nicht so rund, wie sie unter dem Link aussehen. Mir kamen sie sehr scharfkantig vor; man fühlt mit ihnen, was sie fühlen. (Verdammt, Bilder zu beschreiben ist noch schwieriger als Wein!)

Und dann kamen schließlich die drei Werke von Raffael, für die ich den Flug gebucht hatte. „Die Heilige Familie aus dem Hause Canigiani“, „Die Madonna Tempi“ (das ist die Dame oben in diesem Posting) und „Die Madonna della Tenda“. Alle drei scheinen von innen zu strahlen, und wenn man den Saal betritt und sich einmal umschaut, bleibt man sofort an ihnen hängen. Ich weiß schon gar nicht mehr, was noch an den Wänden war. Ich setzte mich erstmal direkt vor sie und gucke einfach zehn Minuten vor mich hin. Auch sie verströmen eine ganz eigene Ruhe, fast eine Aura. Während andere Bilder, zum Beispiel der bewegte „Höllensturz“ voller Aktion sind, sind diese drei eine Momentaufnahme – aber die scheint sich zur Ewigkeit auszudehnen. Alle Figuren fühlen sich bewusst an, in ihrem Tun gefestigt, so dass das, was sie gerade machen, nie an Gültigkeit verlieren wird.

Danach schlenderte ich noch an ein paar Holbeins und Dürers vorbei, und das war auch alles wunderbar, aber ich glaube, ich habe mein Herz an die italienische Renaissance verloren. Obwohl ich mich durchaus auch von Treppenhäusern in Museen beeindrucken lasse.

Ich weiß nicht, warum mich die Kunst gerade jetzt so erwischt. Vielleicht ist es noch ein Rom-Nachklingen, vielleicht musste ich erstmal gestresst genug sein, um zu spüren, wie wundervoll es ist, sich von der Ruhe und Präsenz eines Bildes einfangen zu lassen, vielleicht ist es eine Altersfrage. Aber auch wenn das alles gerade nicht auf euch zutrifft, kann ich euch die Alte Pinakothek sehr ans Herz legen. Ich habe zwei Stunden in ihr zugebracht, aber sie scheinen nicht aufzuhören.