Krächz

Wenn mir das mal vorher jemand hätte sagen können, dass ich nach einer guten Stunde Singen ab und zu aussehe wie nach einer Stunde Fitnessstudio … dann wäre das zwar nett gewesen, aber ich hätte es nicht geglaubt. Ich vergesse es auch immer gerne wieder. Bis zu den Stunden, die so ablaufen wie die am Montag, als mich Tony listig fragte, was ich denn gerne singen würde, worauf ich leichtsinnigerweise die Arie aus The Ballad of Baby Doe wählte, denn die mag ich sehr gerne – und übe sie zuhause immer fünf Töne zu tief. Und ich weiß auch, warum.

Das Lied liegt am allerhöchsten Ende meines gesanglichen Spektrums und kostet Hölle viel Kraft. Wir haben nur die erste Seite der insgesamt fünf bearbeitet, denn die reicht schon, um mir den Schweiß den Nacken runterlaufen zu lassen. Zuerst habe ich den Text mal Text sein lassen dürfen und die Melodie nur auf A gesungen. Möglichst ohne das A abzusetzen, einfach einen Bogen singen. (Wenn ich „einfach“ sage, meine ich damit Mund aufreißen, nicht bei den höchsten Tönen anfangen zu kieksen oder lauter werden, bei den tieferen Tönen dementsprechend nicht leiser und ab und zu mal ans Atmen denken.)

Nachdem die Töne irgendwie im Kopf waren und sich mein Mund an den Raum gewöhnt hatte, den das A geschaffen hat, kam ein Konsonant dazu. Das doofe N, das den Mund sofort wieder winzig klein macht. Jetzt singe ich also na-na-na. Ich muss mich bei jeder Note daran erinnern, dass ich GROSS bleibe, offen, weit und das ganze natürlich total entspannt und ü-ber-haupt nicht angestrengt, kein Thema, logisch, dann mal los. (Ächz.)

Wenn Tonfolgen schwierig zu singen sind, bin ich inzwischen dazu übergegangen, mit den Händen Bewegungen zu beschreiben, die ich gesanglich ausdrücken will. Beispiel: Wenn ich eine Tonfolge singe, die nach oben geht, neige ich automatisch dazu, den höchsten Ton lauter zu singen als die anderen. Das will ich aber nicht, und so beschreiben meine Hände eine ebene Linie, um meinen Kopf daran zu erinnern, dass ich „eben“ singe und keine Welle beschreibe. Komischerweise funktioniert das wirklich. Ich hebe auch ab und zu meine Hände über den Kopf und drücke eine imaginäre Wand nach oben, um den Raum zu erweitern, den ich stimmlich habe. Funktioniert auch. Ich sehe zwar meist extrem bescheuert aus, wenn ich singe, weil ich dabei wild in der Gegend rumgestikuliere, aber was soll’s. Noch guckt mir dabei ja keiner zu. Außer Tony, und von dem habe ich schließlich diese Ideen.

Als ich das Na-na-na einigermaßen drin hatte, durfte ich die richtigen Konsonanten singen, aber noch nicht die richtigen Vokale. Quasi die drei Chinesen mit dem Kontrabass. Der Text lautet im Original so: “Always through the changing of sun and shadow, time and space …” Aber was ich gesungen habe war: “Alwas thra tha changang af san and shadaw, tame and space …” Zu dieser Zeit war ich bereits eine halbe Stunde damit beschäftigt, meine Stimmbänder zu quälen. Ich war so gut wie durchgeschwitzt, und meine Stimme wurde allmählich kieksiger. Als ich schließlich die richtigen Vokale singen durfte, ist die Stimme irgendwann einfach weggekippt. Ich hatte nicht mehr die Kraft, die oberen Töne zu halten, nicht mal eine halbe Sekunde lang. Sobald Tony das gemerkt hat, hat er das Lied für heute zu den Akten gelegt, und wir haben zur Erholung mal wieder Ich hab geträumt vor langer Zeit aus Les Misérables gesungen. Das ist ungefähr eine Oktave tiefer, aber selbst das habe ich nicht mehr ganz gebacken gekriegt. Meine Stimme war so darauf gedrillt, irgendwo da oben rumzugurken, dass es mir wirklich schwer fiel, sie wieder auf „normales“ Niveau runterzubremsen und nicht bei jeder Note klanglich übers Ziel hinauszuschießen.

Am Ende der Stunde habe ich mich etwas heiser gefühlt, aber auch ziemlich stolz, dass ich überhaupt so lange durchgehalten habe. Tony meinte, dass ich die Höhe auf jeden Fall drin hätte, nur die Kondition eben noch nicht, um länger dort oben zu verweilen. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, dass man Kondition braucht, dass man sich quasi Muskeln antrainieren muss, um länger in unbequemen Höhen singen zu können. Je länger ich Unterricht nehme, desto größer wird mein Respekt vor Berufssängern. Gerade vor denen, die sechs Stunden Wagner singen.

Wer wissen will, wie das Lied klingt, an dem ich mich vergehe, der darf mal hier klicken. Da hört ihr aber gottlob nicht die gestern etwas krächzig klingende Anke, sondern Beverly Sills mit dem New York City Opera Orchestra aus der Gesamtaufnahme von 1959.

Ach ja, und die eine Stelle im Mittelteil, die so richtig fies nach oben geht, darf ich netterweise eine Oktave tiefer singen.

7 Antworten:

  1. RESPEKT baby ! :)

  2. Ich möchte darauf hinweisen, dass ich nicht mal annähernd so gut klinge :-)

  3. wähäää. ich will auch mal wieder gesangsunterricht nehmen. ich hatte drei jahre lang einen ganz tollen lehrer, aber naja, arbeitsanfang, neue stadt, und man kann halt auch leider nicht alles machen. ich singe jetzt in einer band, was natürlich auch toll ist – aber dieses richtig an der stimme arbeiten ist eben etwas anderes. und zu musical und klassik kommt man in ‘ner natürlich auch nicht. von daher: viel spaß weiterhin beim trällern :o)

  4. Immerhin traust du dich, vor Leuten zu singen. Ich bring das immer noch nicht über mich. Ich sing ja nicht mal vor dem Kerl.

  5. Dabei wäre der Kerl garantiert ganz hin und weg. Musikalität macht Sex Appeal! ^^

  6. wow – so hoch kann ich gar nicht denken! Ist eine schönes Stück. Das mit den Konsonanten und Vokalen fand ich interessant und einleuchtend. Werde ich auch mal ausprobieren. Hehe – online Gesangsunterricht.

  7. Super, daß du singst. Mach weiter. Jana