Sonntag, 21. April 2024 – Textilmuseum Augsburg

Seit wir das 49-Euro-Ticket haben, sprechen F. und ich vage von „Da könnte man sich ja einfach mal am Wochenende in den Zug setzen, alles bis zu circa einer Stunde, irgendwo hinfahren, ein Museum angucken, was Nettes essen und dann wieder nach Hause“. Das haben wir natürlich bisher noch nie gemacht, aber gestern war endlich die Zeit reif.

Es ging – nach Augsburg. Das ist jetzt vielleicht eher unspannend für Leute mit FCA-Dauerkarten (ich ja seit einer Saison? zwei Saisons? nicht mehr), aber ich muss zugeben, bis auf den Weg zum Stadion, den Christkindlesmarkt und ein paar wenige Dinge, die wir glücklicherweise ein halbes Jahr vor Papas Schlaganfall noch mit der ganzen Familie besichtigt hatten, kenne ich sehr wenig von der Stadt. Im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg (TIM) war ich jedenfalls noch nicht.


Das ist nicht das Museum, sondern die Textilfabrik davor, aber die sah halt spannender aus. Sorry, TIM. Im Gebäude des TIM befindet sich auch das Stadtarchiv sowie die Stadtarchäologie.
Ich so: „Stadtarchäologie?“ F. so: „Wenn du in Augsburg eine Baugrube aushebst, kommt immer was aus dem Mittelalter oder dem alten Rom.“ True dat, Augusta Vindelicorum.
Ich dann so: „Nette Wohngegend hier. Life goal: einmal in der Nähe des Stadtarchivs wohnen!“ F. so: „Tust du doch schon.“ Ich so: *mind-blown* *hakt ein Lebensziel ab*

Mich hatte die Sonderausstellung „Kleider. Geschichten. Der textile Nachlass von Arno und Alice Schmidt“ gereizt. Ich stellte mir vor, anhand von Kleidungsstücken ein bisschen bundesrepublikanische Geschichte nähergebracht zu bekommen. Genau das war es dann auch, aber um so viel facetten- und detailreicher als ich geahnt hatte. Große Empfehlung! Die Ausstellung läuft noch bis zum 13. Oktober.

Ich copypaste mal einen Teil des Vorworts im Katalog, den ich natürlich brav erworben habe; der ordnet ganz gut ein, warum sowohl die Sammlung an sich spannend ist als auch das, was man anhand von ihr erzählen kann:

„Alice und Arno Schmidt teilten zunächst das historische Schicksal Millionen anderer Menschen, die sich aufgrund des vom nationalsozialistischen Regime entfesselten Zweiten Weltkriegs zur Flucht aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reichs in die westlichen Besatzungszonen gezwungen sahen. Mit nur wenigen Habseligkeiten im Fluchtgepäck begannen die Schmidts ihr neues Leben im Westen Deutschlands – ein Leben, das für einige Jahre von großen materiellen Entbehrungen geprägt war.

Zunächst galten die Anstrengungen von Alice und Arno Schmidt deshalb dem Ziel, die bloße Existenz zu bestreiten: für Unterkunft, Nahrung und Kleidung zu sorgen. Nur langsam gelang es, den Lebensunterhalt zu sichern und mittels Konsum ein wenig am notorischen deutschen »Wirtschaftswunder« zu partizipieren.

Vielleicht hat diese so grundlegende Erfahrung von Flucht, Verlust und Mangel das Ehepaar Schmidt dazu veranlasst, seinen kompletten textilen Hausstand sorgfältig aufzubewahren, der mit manchen Kleidungsstücken bis in die 1930er Jahre zurückreicht. Damit hat sich ein textiler Nachlass von ungewöhnlichem Ausmaß erhalten, der um die 1000 Einzelteile umfasst.

Dass Arno Schmidt zu einem ebenso gefeierten wie umstrittenen Schriftsteller der deutschen Nachkriegsgeschichte avancieren sollte, verstärkt aus heutiger Perspektive den besonderen Reiz dieser textilen Sammlung. Dies nicht nur, weil das Leben der Schmidts exemplarisch für die historische Situation zahlreicher Fluchtfamilien sowie für die Alltagsgeschichte der sich etablierenden Bundesrepublik steht, sondern weil Arno Schmidt zudem als Autor – vor dem Hintergrund dieser persönlichen Erfahrung – das häufig kleinbürgerliche Personal seiner Literatur bis hin zu Accessoires modisch ausgestattet hat. Damit wandelt sich der textile Nachlass von Arno und Alice Schmidt zu einem Spiegel der vestimentären Kultur der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik, die der Schriftsteller literarisch würdigt.“

Hiermit die Vokabel „vestimentär“ gelernt. Wo ich doch schon von Duolingo „vêtements“ kenne. Ha!

Im Vorraum der Ausstellung werden Zitate aus Schmidts Werken eingeblendet, die irgendwas mit Kleidung zu tun haben, das fand ich einen schönen Reinkommer. Der Ausstellungsraum selbst ist eine einzige Fläche, was mir auch gut gefiel, weil man einfach durch die Gegend wandern kann. Man kapiert aber schon, dass die rechte Reihe aus großformatigen Bildern und Texten ein Abriss der Biografie des Ehepaars ist, der nach Örtlichkeiten aufgeteilt ist; deswegen sind wir auch erst einmal dort entlanggegangen. Neben diesen ersten Stationen befindet sich eine circa 20 Meter lange Regalwand, in der ein Teil der vielen Kleidung liegt. Das fühlte sich ein bisschen so an wie im elterlichen oder großelterlichen Kleiderschrank zu stöbern. Schon hier fiel der Kontrast auf zwischen Stücken, die eher ungenutzt aussahen und den Lieblingsstücken, die vermutlich jeder im Schrank hat: der Pulli mit den zig Stopfstellen und daneben die quasi neuen silbernen Glitzerpumps. Oder auch ein paar Gamaschen, die vermutlich in den 1950er Jahren das letzte Mal getragen wurden.

Bei den blauen Puma-Sneakers überlegte ich sofort, was die heute wohl auf ebay brächten.

Die Stationen direkt am Regal bestehen jeweils aus einem Kleidungsstück mit einer Texttafel sowie einem Foto, auf dem Arno oder Alice zu sehen sind, die dieses Kleidungsstück tragen. Die Texte verweisen meist noch auf einen bestimmten Ort, wenn ich mich richtig erinnere; die restlichen Stationen im Raum sind ort- und zeitloser. Hier ein Beispiel aus Mainz:


Die Texte fand ich übrigens durchweg sehr gut, nicht nur inhaltlich aufschlussreich, sondern auch gut lesbar. Hier wird erneut erwähnt, dass Schmidts Schwester ausgewandert war (ihr Mann war jüdisch), und der Text macht deutlich, wie groß die materielle Not 1951 noch war.


Hier mochte ich die Hinweis auf die letzte Strickwarenfabrik in Deutschland. Das meinte ich vorhin mit Facetten und Detailtiefe. Mehr Stationen habe ich nicht fotografiert, aber ich hoffe, es wird klar, wieviel man anhand von Kleidungsstücken erzählen kann. Die Größe der Ausstellung war genau richtig, es gab genug zu schauen und zu lesen, man wurde aber nicht erschlagen. Clevere Grundiee, richtig gut umgesetzt.

Und natürlich gab es Schmidts Werke im Gift Shop, der auch sonst sehr hübsch ausgestattet war.

Die Dauerausstellung des Museums durchwanderten wir etwas zackiger, aber ich staunte über viele Musterbücher und Webarten und lernte ein bisschen Industriegeschichte Augsburgs in Form von Johann Heinrich Schüle kennen. In den Museumsräumen, durch eine Glaswand abgetrennt, befindet sich die Maschinenhalle, auf der heute noch Dinge hergestellt werden – zum Beispiel die Schürze und die Ofenhandschuhe, die ich gleich mal erwarb. Und ein Handtuch mit Schmidt-Zitat, natürlich.

Für den Handtuchkauf müsst ihr auch nicht nach Augsburg. Für die Ausstellung allerdings schon. Macht das mal.