Mittwoch, 3. April 2024 – Zuschauende und Restitution

Lesetag am heimischen Schreibtisch. Unter anderem einen Aufsatz zum „unschuldigen Zuschauer“ in der NS-Zeit sowie einen zu Raubkunst und Restitution nach 1945. Beide Zitate sind wegen der besseren Lesbarkeit nicht eingerückt.

„Als die Entnazifizierung abklang und Verstöße, die geringere Strafen nach sich zogen, nicht mehr bestraft wurden, konnten neue Verhaltensweisen eingeübt werden. Seit den 1950er Jahren unterstützte die selektive Betonung von Aspekten des Schreckensapparats der Nationalsozialisten – insbesondere in Bezug auf die SS, die von einem Historiker als »Alibi einer Nation« bezeichnet wurde – das verbreitete Narrativ von der mangelnden Handlungsfähigkeit, dem anderen entscheidenden Element der Geschichte von den »unschuldigen Zuschauern«.

Verstärkt wurde das alles durch den besonderen Charakter der »Vergangenheitspolitik« in allen drei Nachfolgestaaten des Dritten Reiches. Mit je nach geopolitischem Ort und den Entwicklungen des Kalten Krieges unterschiedlicher Modulation wurde der Kreis der Schuldigen immer enger gezogen; der Raum für die Behauptung, nur ein unschuldiger Zuschauer gewesen zu sein, wurde entsprechend immer größer.

Die Narrative des Nichtwissens und der Unschuld wurden in Westdeutschland unter Adenauer durch die Rehabilitation und Reintegration derjenigen gefördert, die als »nominelle« Mitglieder der NSDAP eingeschätzt wurden, und sie ermöglichten Amnestien selbst für bedeutende Täter, die Ende der 1940er Jahre langjährige Haftstrafen erhalten hatten. Ironischerweise war ein ähnlicher Prozess auch im ostdeutschen »antifaschistischen Staat« mit seinem offiziellen Mythos von unschuldigen »Arbeitern und Bauern« evident, die von der Roten Armee »befreit« worden waren. Es bedurfte des Wettbewerbs zwischen Ost- und Westdeutschland in den späten 1950er Jahren um die Frage, wer besser bei der Überwindung der Vergangenheit« war, um erneute rechtliche Aktivität zu stimulieren – im Westen gestützt durch die Einrichtung der Zentralen Stelle Ludwigsburg. Aber der Kreis der Schuldigen wurde immer enger gezogen.

Trotz der massiven Aufmerksamkeit für den »Umgang mit der Vergangenheit« in Westdeutschland war die Zahl derjenigen, die angeklagt wurden, minimal; die Urteile fielen oft schockierend milde aus. Als Oskar Gröning 2018 im Alter von 96 Jahren starb, bevor er seine Haftstrafe antrat, war er erst der 6657ste NS-Täter, der in der Bundesrepublik verurteilt wurde. Die Situation in Ostdeutschland war strenger. In der SBZ und in der DDR gab es bis 1989 insgesamt 12.890 Verurteilungen (oder 9495 ohne die Schnellverfahren der Waldheimer Prozesse). Berücksichtigt man die jeweilige Bevölkerungszahl, bedeutet das, dass in Ostdeutschland ehemalige Nationalsozialisten mit sechs- bis siebenfach höherer Wahrscheinlichkeit vor Gericht gestellt wurden als in Westdeutschland; überdies waren die Urteile strenger. Aber die Politisierung der Strafverfolgung, die die Präsenz ehemaliger Nationalsozialisten in Westdeutschland hervorhob und gleichzeitig zur politisch genehmen Verdeckung und zum Kleinreden der Kontinuitäten im Osten herangezogen wurde, befleckte dann bald den Ruf der DDR, ehemalige Nationalsozialisten konsequenter vor Gericht zu stellen.

Es lohnt sich, eine Nebenbemerkung über Österreich hinzuzufügen, das selbsternannte »erste Opfer der NS-Aggression«, wo die ursprüngliche Konfrontation mit der einheimischen Beteiligung am Nationalsozialismus bald einer massiven Entlastung von wichtigen Kriegsverbrechern Platz machte. Im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg waren die Zahlen der Gerichtsverfahren vor dem Volksgericht für ein Land mit einer so geringen Bevölkerungszahl hoch, auch wenn es oft um relativ geringfügige »inländische« Verstöße wie die damals illegale Mitgliedschaft in der NSDAP vor 1938 ging. Aber in den Jahrzehnten nach der Abschaffung der Volksgerichte gab es nur 39 Fälle vor Gerichten, und wichtige Prozesse endeten oft mit schockierenden Freisprüchen selbst für die manifest Schuldigen.

Zu den bemerkenswerten Beispielen zählen die Freisprüche von Franz Murer 1963, dem »Schlächter von Vilnius«, von Walter Dejaco und Fritz Ertl (die die Gaskammern von Auschwitz entworfen hatten) sowie des SS-Wachmanns in Auschwitz Otto Graf 1972 in Wien und die Prozesse gegen Johann Vinzenz Gogl, ehemals Wachmann im Konzentrationslager Mauthausen und im Nebenlager Ebensee, der 1972 in Linz (unter dem Jubel der im Gerichtssaal anwesenden ehemaligen SS-Angehörigen) und 1975 in Wien freigesprochen wurde. Während dieser Prozesse wurden die überlebenden Zeugen häufig verspottet und gedemütigt.

Der westdeutsche Umgang mit der Vergangenheit war weit entfernt von einer ungetrübten Erfolgsgeschichte, wie sie die Bundesregierung manchmal präsentierte. Die Anwendung des Strafrechts zur Definition von Mord als Tat von subjektiver Motivation und übermäßiger Brutalität erwies sich als vollkommen inadäquat für den Umgang mit organisiertem Massenmord und führte zu zahlreichen Freisprüchen oder übertrieben milden Urteilen. Die Justiz, die hohe Beamtenschaft und andere Berufsgruppen (darunter namhafte Mediziner, die am Euthanasieprogramm T4 beteiligt gewesen waren) wurden überwiegend nicht zur Rechenschaft gezogen, während die entnazitizierte Anwaltschaft sich sogar für nicht schuldfähig erklärte, da sie nur die Gesetze des NS-Regimes angewande habe. Die juristische Auseinandersetzung in Westdeutschland läst sich eher als Topographie des Unrechts betrachten: die winzige Minderheit der tatsächlich verurteilten Täter, die politischen Entscheidungen über legale Praktiken, die Eliten, die sich der Justiz entzogen, und nicht zuletzt das schreckliche Ungleichgewicht zwischen dem Wohlstand vieler früherer Täter und der anhaltenden Not der Uberlebenden, die weder Anerkennung noch Entschädigung erhielten, was manche Gruppen sehr viel härter traf als andere.“

Mary Fulbrook: „‚Unschuldige Zuschauer‘ in deutscher Geschichte und Erinnerung“, in: Tim Schanetzky, Tobias Freimüller, Kristina Meyer, Sybille Steinbacher, Dietmar Süß, Annette Weinke (Hrsg.): Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts, Göttingen 2020, S. 51–64, hier S. 58–60.

„Etwas mehr Zeit brauchten die Alliierten, um die innere Rückerstattung von Vermögenswerten, die innerhalb des Deutsches Reichs verfolgungsbedingt entzogen worden waren, anzugehen. Während die Sowjetunion kein Interesse an der Wiederherstellung privater Eigentumsverhältnisse hatte und auf diesem Gebiet entsprechend zurückhaltend agierte, konnten sich auch die Westmächte nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Die amerikanische Militärregierung erließ am 10. November 1947 unilateral das Gesetz Nr. 59, das die »Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen« regelte. Demnach konnten alle Personen, die »aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Weltanschauung oder politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus« Vermögen verloren hatten, die Rückerstattung beantragen. Neben direkten Enteignungen durch Staat und Partei – die Bundesländer bzw. die Bundesrepublik agierten hier als Rechtsnachfolger – konnten auch private Rechtsgeschäfte angefochten werden, wenn sie dem Druck der Verhältnisse geschuldet waren. Anträge auf innere Rückerstattung mussten bis zum 31. Dezember 1948 bei einem Zentralanmeldeamt in Bad Nauheim eingereicht werden und wurden vor deutschen Behörden und Gerichten verhandelt; ein Board of Review der amerikanischen Militärregierung griff bei Streitfällen in letzter Instanz ein. Die Franzosen erließen zeitgleich eine vergleichbare Verordnung, die Briten zogen erst im Frühjahr 1949 nach.

In der deutschen Bevölkerung waren diese Restitutionsgesetze überwiegend unbeliebt. Zwar galt die Rückerstattung von Vermögen, das durch die NSDAP oder den Staat enteignet worden war, mehrheitlich als gerecht. An der Möglichkeit zur Rückabwicklung privater Rechtsgeschäfte entzündete sich hingegen scharfer Protest, auch weil sie viele Privatleute direkt betreffen konnte. In den westlichen Besatzungszonen bildeten sich Lobbygruppen, die sich 1950 zur Bundesvereinigung für loyale Rückerstattung zusammenschlossen und mit der Zeitschrift Die Restitution ein eigenes Publikationsorgan unterhielten; die teilweise scharfen Debattenbeiträge machen auch das Fortbestehen antisemitischer Ressentiments sichtbar. Die ablehnende Haltung ging aber weit über diese Interessenverbände hinaus. Sie war symptomatisch für die deutsche Nachkriegsgesellschaft, die an die Vergangenheit eher nicht erinnert und keine Schuld an den Verbrechen der NS-Zeit zugewiesen erhalten wollte. Die Verantwortung wurde allein Staat, Partei und oberster politischer Führung zugeschoben.“

Johannes Gramlich: „NS-Raubkunst und die Herausforderungen der Restitution. Ein Überblick“, in: Magnus Brechtken (Hrsg.): Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2021, S. 584–613, hier S. 610/611.