Was schön (und traurig) war, Dienstag, 8. Juni 2021 – Abschied von Kalle und ein großartiges Buch über Essen

Ich erwähnte es bereits: Impfschutz komplett, die Bilderbeschaffung für den Diss-Druck liegt in den letzten Zügen, nur ein Berg Abbildungen fehlte noch und den musste ich selber ranholen. Die wenigsten Abbildungen habe ich aus Museen, dazu kommen ein paar aus Büchern und Zeitschriften gescannte Bilder, aber der Großteil liegt als Fotografie im Nachlass von Protzen im Kunstarchiv in Nürnberg. Von diesen Fotos brauchte ich nun druckfähige Scans. Eigentlich kein Problem, aber: Die Fotos sind auf diverse Kartons verteilt, haben keine Signatur oder ein anderes eindeutiges Identifizierungsmerkmal, und daher setzte ich mich, natürlich nach vorheriger Anmeldung, gestern erstmals nach Februar wieder in einen ICE, fuhr ins schöne Nemberch, spazierte den einen Kilometer vom Bahnhof ins Germanische Nationalmuseum, schloss wie immer mein Zeug im Untergeschoss ein und ging in den Lesesaal, wo ich mich, ebenfalls wie immer, erstmal an die Dame der grafischen Sammlung und nicht vom Archiv wandte, um mein Begehr vorzutragen, weil die halt näher an der Tür sitzt. Sie zeigte nur auf die Dame neben sich und meinte: „Sie waren doch schon mal hier.“ Ja, sorry. Ich bin von Abschiedsschmerz zerrissen. Aber sie hat ja recht. Es stehen sogar Schilder vor den beiden, damit man nicht die falsche belästigt.

Ich bekam den Vervielfältigungsauftrag ausgehändigt, den ich ausfüllte, genau wie den üblichen Benutzerantrag, und dann zückte ich meine liebevoll gebastelte Liste mit 58 Bildtiteln und clevererweise eingefügten Abbildungen in mieser Anke-Qualität, die ich im Laufe der letzten vier Jahre mit iPhone und/oder wackeliger Kamera erstellt hatte. Zu jedem Bildtitel hatte ich Kartonnummer und Signatur des Fotoalbums/des Umschlags/des irgendwas notiert und arbeitete mich nun durch mein eigenes Dokument. Nur sechs der 58 Abbildungen musste ich suchen, da wusste ich selbst nur grob, wo sie waren, weil ich es bräsigerweise nicht vernünftig notiert hatte. Die fand ich aber auch schneller als erwartet, legte auf jedes Bild einen Marker auf Papier, hakte es auf meiner Liste ab, blätterte dann einfach nochmal Zeug durch, wenn man schon mal da ist, und war nach nicht mal zwei Stunden fertig.

Ich gab meine Bilderliste einfach mit ab, damit auch stets klar ist, was ich haben will, das freute die für mich zuständige Dame. Dann fragte ich, ob ich den üblichen Scan-Preis von 20 Euro pro Archivstück zahlen müsste oder, wie in den Geschäftsbedingungen notiert, nur zehn, weil wissenschaftliches Werk? Antwort: nur zehn. Puh. Dann erkundigte ich mich nach den Reproduktionsgebühren, bei denen ich letzte Woche einen kleinen Herzinfarkt bekommen hatte, denn angeblich schlägt da jedes Archivstück mit mindestens 40 Euro zu Buche. Auch hier zählt wieder, dass ich ein wissenschaftliches Werk veröffentliche und keine launige Massenware, daher: null Reproduktionsgebühr. Aus dem Herzinfarkt wurde ein sehr großer Stein, der mir vom Herzen rollte. Die Bilder sind immer noch teuer genug, manche Museen nehmen gerne einen Fuffi pro Stück, bei einem Bild weiß ich schon, dass es als Titel gleich 100 kostet, und genau eins von denen wird vermutlich auch der Titel werden, insofern habe ich mich sehr über einige Spenden in den letzten Tagen gefreut, die bei mir ankamen. Werden alle einem sehr sinnvollen Zweck zugeführt.

Ich hatte alles besprochen, durchgeguckt und markiert. Ein letzter Blick auf die 15 Kisten Nachlass, dann verließ ich den Lesesaal und fing ernsthaft auf dem Weg zum Schließfach an, ein winziges bisschen zu weinen. Gut, dass ich eine Maske trug. Weniger gut: eine feuchte Maske nervt total. Den Weg zum Bahnhof legte ich ohne zurück, dann setzte ich am Gebäudeeingang die feuchte Maske auf, entschied mich um, warf sie weg und zückte eine neue aus dem Rucksack.

Der Zug nach München war dann auch extra nett zu mir und hielt nicht in Ingolstadt, der Nervensäge, weswegen ich schon zur Mittagszeit wieder zuhause war. Dort korrigierte ich die Dinge, die ich im Archiv noch hektisch ins Textdokument eingefügt hatte – irgendwas findet man ja immer noch, was man jahrelang nicht gesehen hat –, und damit ist meine Zeit mit dem Nachlass jetzt zuende. Fieps.

Auf Hin- und Rückfahrt las ich in einem Buch, das mir F.s Vater zur Promotion geschenkt hatte: Tikim: Essays on Philippine Food and Culture von Doreen G. Fernandez, eigentlich von 1994, 2019 neu aufgelegt. Im Vorwort von Aileen Suzara fand ich diesen schönen Gedanken zu Essen aus verschiedenen Kulturräumen:

„What happens when immigrants (and the next generations) adapt traditional cooking to a new home? As I write this, a new wave of Filipino American chefs is in the midst of a culinary revival. The mainstream U.S. media is now casting (positive) attention on the foods of a majority-minority community long “hidden” in plain sight. Some chefs emulate family recipes, while others blend influences even as they bend traditions. All are cooking within a new context, with different ingredients and audiences. Yet we cannot forget that young chefs now in the spotlight stand on the shoulders of earlier generations, who struggled with economic and racially discriminatory barriers yet inscribed their mark onto the food world. I wonder how Doreen—no purist—would have regarded this newest chapter in Filipino food and identity formation. “Food, like language, is a living culture,” she wrote. “The old ways are tested and true, the new ways are not necessarily betrayals, if they are appropriate and result in good food.”“

Filipino-Americans sind die zweitgrößte Gruppe von asiatisch-stämmigen Einwanderern bzw. ihren Nachkommen in den USA, weswegen sich dort philippinisches Essen in einigen Gegenden langsam durchsetzt – allerdings an die neue Umgebung angepasst. Zwei Schwestern von F.s Vater leben heute in Los Angeles; im letzten Familiennewsletter wurde ich erstmals erwähnt, was mich sehr gefreut hat:

„Anke likes to cook, and she recently had the good idea of buying a cookbook for Filipino food (by a Fil-Am author) and has tried out “Bistek Tagalog” and “Kare-kare”. Felix said that both meals were very good, capturing what he remembers from his visits and of course, the very good cuisine he enjoyed during his [Familienname] visits. So we are all looking forward to enjoying Filipino cooking on a larger scale after the pandemic.“

Aww! Und OMG der Erwartungsdruck!

Suzara weiter:

Tikim invites us along a lifelong journey of reconnecting to cherished foods. And in light of today’s rapidly changing world, it is a call to action. We live in a time of narrowing biodiversity and an industrialized sameness, when both species and traditions are vulnerable to disappearance. We live in an era when the climate and global food system is fractured and hurting, and immense structural changes are needed. “And how much of our history, and our beings, would be lost when these flavors vanish in the mists of the past?” Doreen asks us. It’s not enough to simply hope these traditions survive into the future. Just like in generations past, we all have a role to play.“

Im ihrem eigenen Vorwort (nicht komplett online) schreibt Fernandez, wie sie sich Mahlzeiten nähert, über die sie schreiben möchte. Es geht um mehr als darum, Synonyme für „schmackhaft“ zu finden.

„[T]he experience of food is ephemeral. What one puts into the mouth is the end result of a process that starts with the sea, the soil, animal life. In the act of cooking, we make statements about ourselves – about our understanding of relationships between ingredients; about our perception of taste and appropriateness. In the act of eating, we ingest the environment, but we do not stop at that, for we Filipinos make eating the occasion for ritual – and ritual the occasion for eating. We build ceremony around it; we create celebration. […] Eating is not just ingestion. Eating is the occasion for the rites and rituals of our lives. […] Eating is language that speaks of the nuances of what we are. Eating is making alive the various and variegated conjugations of our lives. […]

Writing about food should not be left to newspaper food columnists, or to restaurant reporters. It should be taken from us by historians of the culture, by dramatists and essayists, by novelists, and especially by poets. For it is an act of understanding, an extension of experience. If one can savor the word, then one can swallow the world.“

Diese schönen Sätze gebe ich euch mal für den Tag mit.