Sonntag, 28. Februar 2021 – Beim Zugfahren ansatzweise heulen

Ich hatte tagelang Panik vor der Zugfahrt, weil ich es seit einem Jahr relativ konsequent vermeide, in geschlossenen Räumen mit mehreren Menschen länger zusammenzusein. Ich weiß immer noch nicht, wie ich mich in den Tantris-Besuch im November reingequatscht habe. Vermutlich weil es das Tantris ist.

Der ICE war netterweise leerer als die Sternebude, ich meine, wir waren nie mehr als zehn Menschlein im Großraumwagen (erste Klasse). Ich las Klemperer, bis mir einfiel, dass ich seit November nicht mehr Zug gefahren und auch seit dieser Zeit nicht aus München rausgekommen bin, also guckte ich aus dem Fenster, nachdem wir Ingolstadt hinter uns hatten. Das ist immer die erste und letzte Hürde auf der Fahrt nach Hannover: Bis Ingolstadt zieht sich’s, wo ich gefühlt schon in Nürnberg bin, und auf der Rückfahrt zieht sich’s, weil wir doch schon aus Nürnberg raus sind, da muss doch jetzt München kommen. Ingolstadt nervt immer. Würzburg hingegen nervt nie: Obwohl es ungefähr in der Mitte der Strecke liegt, denke ich in Würzburg immer, egal ob Richtung Norden oder Süden, jetzt hab ich’s gleich geschafft, schon fast zuhause, keine Ahnung, warum. In Richtung Norden kommen danach die ganzen Halte im Halbstundentakt, Fulda, Kassel, Göttingen, da hat man immer das Gefühl, voranzukommen. Auf dem Rückweg kommt nach Würzburg nur noch Nürnberg (ich ignoriere Ingolstadt, bis wir da im Bahnhof stehen), das ist ja schon fast München.

Mein Gehirn war vor der Pandemie auch schon so, was Entfernungen angeht, das liegt ausnahmsweise mal nicht am Virus.

Wie immer im Zug hörte ich den Beethoven-Podcast mit Herrn Levit, gestern gab’s die Sonate Nummer 22, und Levit spielte zwischendurch mal eben „das Lied von der Teekanne“ aus Disney’s „Beauty and the Beast“, litt unter einem schlimmen Kalauer seines Gesprächspartners – „da erzähle ich dir seit Jahren die besten jüdischen Witze und dann kommt sowas“ – und erklärte, dass er sich wie ein Tausendfüßler fühle, wenn er im zweiten Satz sei. Danach hörte ich die Sonate ganz und musste völlig unvermittelt meine Tränen unterdrücken. F. und ich haben theoretisch Karten für Levit Anfang April in München, aber ich gehe davon aus, dass das Konzert verschoben wird. Damit rechnen wir seit Monaten, aber gestern erwischte die Traurigkeit darüber mich ganz frisch.

Schnell Popmusik hören, da werde ich anscheinend weniger sentimental. Mit 80er-Jahre-Kram auf den Ohren in Hannover eingefahren.