Tagebuch Sonntag, 27. Oktober 2019 – Bis 18 Uhr war’s ziemlich nett

Ausgeschlafen. Trotz Zeitumstellung viel zu lange, aber mei, war anscheinend nötig. Immer wenn mein Körper Dinge tut, über die ich die Stirn runzele, denke ich mir, passt schon, ich habe dich 25 Jahre lang mies behandelt und ständig beschimpft, da darfst du dann auch mal zickig oder müde sein. Mach nur. Wir sind ja jetzt Freundinnen, da geht das.

Kaffee übersprungen und gleich eine Kanne Tee gekocht, auf dem Sofa gelesen und gedaddelt.

Mittags die Jacke übers T-Shirt gezogen, um zum Ballabeni zu radeln, F. und ich wollten die Eisdielen-Saison für dieses Jahr beschließen. Draußen die Jacke sofort wieder ausgezogen, so warm war es. Mit Freude radgefahren, beim Ballabeni ein bisschen gewartet, bis F. kam, als ein Mann auf einem Hochrad auf der anderen Straßenseite vorbeifuhr. Ich twitterte, dass mein Zeitgefühl dadurch nachhaltig verwirrt wurde, und als Replys kamen die ganzen Witze über die falsch angegangene Zeitumstellung, die ich im Tweet hätte machen können. Ich so zu F.: „Ich bin nicht geeignet für Schmunzeltwitter!“ Er so: „Für Ausdenktwitter, meinst du.“ Touché.

Zwei Kugeln in der Knusperwaffel, Zitrone-Basilikum und Schokolade, sowie ein Probierlöffelchen Griechischer Jogurt. Ein würdiger Abschied.

Auf nach Nachhauseweg Kuchen vom Bäcker um die Ecke geholt. Bei meinen Eltern gab es jeden Nachmittag Kaffee und Kuchen, immer ungefähr zur gleichen Zeit, damit Papa eine Routine hat, und das fehlt mir komischerweise immer noch. Also gab es ein Stück Käse-Sahne und ein bisschen später noch ein Stück Himbeer, dazu die zweite Kanne Tee des Tages.

Der FC Augsburg war in Wolfsburg zu Gast, ich bibberte 90 Minuten lang mit und freute mich nach dem 0:0 erstens über den unerwarteten Punktgewinn und zweitens darüber, wieder eine unangenehme Mannschaft gesehen zu haben. Ich ahne, warum alle anderen den FCA so hassen – das sieht selten gut aus, was die Jungs da machen und lässt sich vermutlich auch nur eklig bespielen, aber mehr kann der FCA halt nicht, und wenn das für den Klassenerhalt nötig ist, dann macht das halt so.

Die Damen von Bayern haben hingegen teilweise wunderschöne Tore geschossen.

Um 18 Uhr war der gute Tag dann vorbei, denn dann kamen die ersten Hochrechnungen aus Thüringen. Ich muss gestehen, ich hatte ein bisschen auf einen Halle-Effekt gehofft – seht her, das passiert, wenn wir Hass und Hetze als normale politische Kommunikation durchgehen lassen. Und nebenbei Misogynie, 8chan und Antisemitismus, aber hey, nicht alles auf einmal, erstmal wieder die Nazis fragen, warum sie so schlechte Laune habe. Die Tweets gestern ähnelten denen nach den anderen Landtagswahlen, und normalerweise lasse ich Twitter an solchen Tagen aus, aber gestern war ich brastig und wütend und pissig und noch tausend andere Worte für GET YOUR FUCKING SHIT TOGETHER. Jemand twitterte, wir leben in einem der reichsten und sichersten Länder, was kann man denn noch tun, damit sich niemand abgehängt fühlt? Und obwohl ich den Tweet theoretisch richtig finde, ahne ich inzwischen immer mehr: Das Abgehängtsein ist nicht das Problem, die fehlende demokratische Auseinandersetzung ist es. Die ehemaligen DDR-Bürger*innen durften sie nie lernen, die Nachwendekinder hatten genug damit zu tun, überhaupt damit klarzukommen, dass niemand mehr aus dem eigenen Umfeld die Regeln kennt – diejenigen, die sie kennen, waren inzwischen im Westen –, und so ist es einfacher, sich in Verschwörungstheorien zu ergehen anstatt sich ernsthaft mit dem Scheiß auseinanderzusetzen, den Höcke und seine Truppen so von sich geben.

Ich wage inzwischen die Theorie, dass die fehlende Auseinandersetzung mit dem NS dazu geführt hat, dass dieser seine bescheuerte Faszination behalten konnte anstatt wie im Westen etwas weiträumiger entzaubert zu werden. Der angebliche „Schuldkult“ hat meiner Meinung nach nämlich durchaus funktioniert. Ja, hier wählen leider auch noch zuviele Menschen die Faschos, aber nicht in dem Ausmaß wie im Osten. Die DDR hat sich 1948 bequem auf die Aussage „Aber wir sind ein antifaschistischer Staat“ zurückgezogen, ohne das je in der Realität durchgeholt zu haben. Die Rechtsnachfolgerin des „Dritten Reichs“ war allein die Bundesrepublik. Weswegen übrigens auch die ganzen Nazischinken in westdeutschen bzw. Berliner Museumsdepots rumliegen, praktisch für mich. Alleine den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen gehören über 900 Werke, das ist die größte zusammenhängende Sammlung an systemkonformer Kunst des NS.

Zurück zu Thüringen: Mir fällt nichts mehr ein. Und ich kann auch 24 Prozent Wählerstimmen für Faschisten nicht kleinreden, ganz egal, wie wenige Einwohner*innen das Land im Vergleich zu anderen Bundesländern hat. Ich bin weiterhin pissig.

Und weil ich mir gestern so richtig den Abend versauen wollte, habe ich mich noch an die Diss gesetzt und wieder in Originaltexten der Altfaschisten gelesen, denen die Neufaschisten nacheifern, diese beschissenen Arschlöcher.