Tagebuch, Sonntag, 13. bis Samstag, 19. Oktober 2019 – Pflegedienst

Auf der frühen Zugfahrt von München nach Hannover fast komplett im Halbschlaf unter den Noise-Cancelling-Kopfhörern verschwunden; diese Folge über Kunst in Ost- und Westdeutschland vom Monopol-Podcast gerne gehört, diese hier über DDR-Sprech vom Staatsbürgerkunde-Podcast nur so halb, weil mir das Gespräch fast durchgehend zu weit abschweifte. War vielleicht nicht die beste Reinkommerfolge, keine Ahnung. Hätte ich mir etwas konzentrierter aufs Thema gewünscht.

Papa hat mich die ganze Woche lang erkannt.

Ich bin seit Jahren kein Auto mehr gefahren. In dieser Woche war das ab und zu nötig weil Dorf und keine Öffis und kein passendes Fahrrad für mich und ich mies zu Fuß auf längeren Strecken mit schwerem Einkaufskorb. Die ersten 100 Meter im elterlichen Golf fragte ich mich hysterisch OMG WAS TUE ICH HIER, AUTOFAHREN WAAHH, aber dann war es, Achtung, Super-Kalauer, wie Fahrradfahren – das verlernt man anscheinend nicht. Ba-dumm-tsss. Schön den Arm aus dem Fenster hängengelassen bei Tempo 30 durchs Wohngebiet. Queen of the road!

Ich hatte allerdings überhaupt kein Gefühl für die gefahrene Geschwindigkeit, was natürlich auch am Auto gelegen haben könnte, das neuer ist als alle Karren, die ich jemals besessen habe. Ich wusste nie, ob ich 30 oder 50 fahre und musste alle 20 Sekunden auf den Tacho gucken. (Habe Rocky ein bisschen vermisst, den konnte ich ohne Tacho fahren. Brrmmbrrrm.)

Nach einem Einkaufstrip wollte ich vom Supermarktparkplatz runterfahren und wartete auf eine Lücke im Straßenverkehr. „Oh, ein blauer Karmann Ghia! … Oh, der sieht aus wie der von meiner Schwester! … Oh, das IST meine Schwester!“ Hektisch gewunken, weil ich die Hupe nicht instinktiv fand, Schwesterchen sah mich, winkte hektisch und breit grinsend zurück. Schwester im Dorf treffen habe ich auch seit 30 Jahren nicht mehr gemacht.

Meine Schwester liest mein Blog nicht, aber ich bin mir sicher, sie würde euch darauf hinweisen wollen, dass die Karre Gia ausgesprochen wird und nicht Dschia.

Das Frikadellenrezept von meiner Mama ist von meiner Omi und viel besser als meins. Wird in den eigenen Vorrat übernommen. Das Geheimnis: ZWEI Eier auf ein Pfund Thüringer Mett, nicht nur eins. So fluffig!

Die Abläufe mit den Pflegekräften haben sich automatisiert, alles geht deutlich besser und runder als beim ersten Mal, als ich da war, um meine Mutter zu unterstützen. Es ist trotzdem irre, wie fremdbestimmt man rumrennt. Keine einzige Buchseite gelesen, mal kurz in die Diss geguckt, aber nicht so wirklich, immerhin den Spiegel durchgekriegt, den ich auf der Zugfahrt begonnen hatte.

Fünfmal Hallo Niedersachsen gesehen und diverse Dokumentationen über den Norden, weil Papa das gerne sieht. Totales Heimweh bekommen. Ja, Laugenbrezn, ja, Leberkäs, aber: Wir haben trotzdem den schöneren Dialekt. Und die schöneren Fachwerkhäuser. Außerdem gelernt, dass die Profis einen A320 in 14 Minuten reinigen. Alter!

Jeden Morgen für Papa Thiele-Tee gekocht. Als beinharte Bünting-Trinkerin kann ich das natürlich nur als fiese Plörre bezeichnen. Der Riss geht durch die Familie! Habe trotzdem jeden Morgen zwei Tassen davon genossen. (Schöner taz-Artikel zum Ostfriesentee.)

Am dritten Tag Auto gefahren als hätte ich nie Pause gemacht. Das ist schon schön, dieses einsame Rumgurken. Zumindest auf dem Dorf. Autobahn muss ich nicht wieder haben, ICE ist netter. Fürs Protokoll: Beide Zugfahrten waren ereignislos und pünktlich.

Abends zum Runterkommen das tägliche 24-Stunden-Unbegrenztes-Internet-Paket meines Handyproviders zum Tethern genutzt und eine Serienfolge auf dem Laptop geguckt. Man kann also auch mit LTE-Geschwindigkeit streamen! Nein, meine Eltern haben immer noch kein Internet.

Meiner Mutter den Anfang unserer letzten Podcast-Folge auf dem Handy vorgespielt (ich hatte ihr den Artikel aus der SZ ausgeschnitten und zugeschickt). Ich rede wirklich zu schnell! Fällt mir beim Hören am Rechner nie auf, mit den miesen iPhone-Lautsprechern aber schon; da habe ich mich selbst manchmal nicht verstanden. Mist.

Der Dorf-Supermarkt hat Desinfektionstücher aus einem riesigen Spender für die Einkaufswagengriffe. Will ich auch in München haben! Erste Assoziation war natürlich nicht Grippe, sondern Schweinepest und Maul- und Klauenseuche. (Eben zuerst Mail- und Klauenseuche getippt.)

Musste mich immer zusammenreißen, nicht „Servus“ an der Supermarktkasse zu sagen. Das „Wiederschaun“ ist mir dann aber doch rausgerutscht. Bei Hallo Niedersachsen wird man mit „Moin und Guten Abend“ begrüßt and I think that’s beautiful.

Habe Papa zu einer Partie Bauernskat überreden können. Früher hat er fast wöchentlich mit meiner Schwester Preisskat gespielt. Er wusste noch, was Trumpf bedeutet und kannte die Farben, aber ich musste ihm quasi soufflieren, welche Karte er aufnehmen und wie herum er sie wieder ablegen muss. Aber als ich beim Zählen seiner Stiche „62“ sagte, wusste er, dass er gewonnen hatte. Ich habe mich quasi selbst geschlagen.

Nicht ganz so geschlaucht und geistig fertig gewesen wie beim ersten Mal, weil ich schon wusste, was mich ungefähr erwartet. Trotzdem war die Woche anstrengender als jeder Werbejob und jeder Archivtag, nach denen ich auch immer hirntot bin.

Werde jetzt öfter hochfahren, um meiner Mutter zu helfen.

Auf der Heimfahrt lauschte ich wieder der Jahresklassikliste und fand Danzón No. 2 von Arturo Márquez besonders spannend.

Und kaum bin ich nicht im Stadion, spielt Augsburg gegen Bayern unentschieden.