Was superschön und dann superscheiße war, Freitag, 6. September 2019 – Doktorandenkolloquium, Tag 1

Gestern war der erste Tag des Doktorandenkolloquiums. Ich wartete vormittags noch auf Kundenfeedback, das erwartungsgemäß nicht kam, dann ging ich noch einmal durch mein kurzes Referat und machte mich um 14 Uhr ins kunsthistorische Institut auf.

Ich war in den letzten Monaten jedesmal so glücklich, wenn ich im Archiv sitzen konnte, wenn ich in der Bibliothek in den Bücherbergen versank, wenn ich am Schreibtisch an der Diss weitertippte und beim Korrigieren merkte, das wird gut oder wenigstens sehr ordentlich. In diesen Momenten vergaß ich immer gern, dass der ganze Kram Eskapismus ist und ich in Wirklichkeit ja einen Beruf habe und eine Miete, die irgendwie bezahlt werden will und ich außerdem keine 25 mehr bin.

Und dann saß ich im Kolloquium inmitten von lauter schlauen Menschen, die sich mit sehr ähnlichen Themen wie dem meinen befassen und die daher wissen, wie sich die Beschäftigung mit dieser angeblichen Schmuddelecke der Kunstgeschichte anfühlt. Die wissen, wie dünn das Eis ist, wenn man sich mit Täter- anstatt mit Opferbiografien befasst, die die moralischen Untiefen kennen und die verkopfte Emotionalität, weil man dem eigenen Forschungsobjekt dauernd eine reinhauen will. Die wissen, wie anstrengend die Ambivalenz des Ganzen ist und die einen deswegen gut auffangen. Gestern wurde bei einem Vortrag der Begriff „Safe Space“ in der Diskussion benutzt – „euch darf ich das sagen, oder? Das geht hier, oder?“ –, weil eine junge Wissenschaftlerin ernsthaft von irgendeinem 80-jährigen Nachkommen verklagt wurde – wegen einer Erwähnung in einer Bachelorarbeit.

Jede*r, der*die forscht, egal, ob geistes- oder naturwissenschaftlich, weiß: Wir ordnen ständig Dinge ein, wir vergleichen, wir gleichen ab. Um eine Frage zu beantworten, guckt man sich auch gerne Antworten auf Fragen an, die in der Nachbarschaft rumliegen, um eine Art Basis zu schaffen, auf der man sich bewegt. Und genau die fehlt uns allen, weil die Historiker*innen sich nicht für Kunst als Medium oder Artefakt interessiert haben und die Kunstgeschichte sich jahrzehntelang auf der bequemen Idee ausgeruht hat, die systemkonformen Künstler*innen des NS seien nicht wichtig, weswegen man sie ignorierte. Inzwischen hat sich das immerhin ansatzweise geändert, aber wir betreiben jetzt gerade Grundlagenforschung, die eigentlich vor 70 Jahren schon hätte erledigt werden müssen. Uns fehlt diese Basis, uns fehlen Netzwerke und die Antworten aus der Nachbarschaft, weil wir jetzt erst Fragen dahingehend stellen. Auch deswegen war es für mich äußerst hilfreich, Feedback auf meine These zu bekommen und ein paar Anregungen, wie man sie vielleicht besser einordnen könnte, ehe ich mich verrenne.

Wir haben viel erfahren, viel gelacht, viel diskutiert, viele Visitenkarten ausgetauscht. Ich habe die Aussicht auf einen Archivbestand, von dem ich dachte, dass er nicht existiere. Und ich habe den Verfasser des Wikipedia-Eintrags zu Protzen kennengelernt, weil auch er bei meinem Doktorvater promoviert, und mich natürlich lautstark über seine Formulierung „zu Recht vergessener Künstler“ aufgedotzt. Er meinte, er sei schon sehr darauf gespannt, wie ich den Eintrag ändern werde.

So saß ich sieben Stunden lang in einer kleinen Blase der gelehrten Glückseligkeit und staunte und überlegte und notierte und lernte und kam mit einem völligen Überschwang an Hibbeligkeit und Tatendrang wieder nach Hause, als ob ich ein Kilo Zucker durch die Nase gezogen hätte, und wenn ich joggen könnte, wäre ich noch ein paar Kilometer durch die Nacht gelaufen, weil sich alles SO GROSSARTIG anfühlte.

Und zwei Stunden später wurde mir wieder zum tausendsten Mal klar, dass die Menschen im Kolloquium alle entweder in Museen oder Archiven arbeiten oder noch jung genug sind, um das zu tun. Während ich am Montag wieder am Schreibtisch sitze, um mir Adjektive für Produkte auszudenken, die niemand braucht.

Fuck.