Was schön war, Donnerstag, 25. Juli 2019 – „Tannhäuser“-Livestream

Morgens hoffnungsvoll aufgewacht – und sogleich enttäuscht worden. Das Internet funktionierte immer noch nicht. Aber mit meinem 24-Stunden-unbegrenzt-Gigabyte-runterschaufeln-Pass konnte ich tethern und bloggen.

Um kurz vor 10 saß ich in einem perfekt klimatisierten Bus, um mich zum Museum Brandhorst shutteln zu lassen. Dort wartete eine Fotografin der Süddeutschen auf uns Fehlfarben-Bunnys, um uns für den demnächst erscheinenden Artikel abzulichten. Mit Profis arbeiten ist toll: In einer Viertelstunde waren wir fertig.

Vorher gab es per Gruppen-DM ein paar Diskussionen zur Kleiderfrage: Shirts, Hemd/Bluse, Polos … F. meinte, dass es gut wäre, wenn wir das einheitlich machten, woraufhin ich meinte, warum das denn, wir sind doch nicht Kraftwerk. Also sehen wir auf dem Foto so aus, wie wir halt aussehen: F. im Bandshirt, Florian und ich im Nicht-Band-Shirt. Auch unsere offensive Schüchternheit, mit einer Fotografin zu arbeiten, die schon diverse bekannte Menschen vor der Kamera hatte, war unbegründet. (Meine Hochachtung dafür, Bret Easton Ellis wie das Man Child aussehen zu lassen, das er ist.)

Danach raffte ich mich noch zur Packstation auf, das Buch im Abholfach der Stabi wird da aber wohl liegenbleiben. Jeder Gang, der gerade nicht sein muss, fällt aus, sorry, Stabi.

Nachmittags hatte ich noch einen vor mir, auf den ich mich aber freute, denn er fand in der Klimakammer aka dem Vorlageraum des Lenbachhauses statt, wo ich zum dritten und vorerst letzten Mal in der Protzen-Mappe blättern durfte. Ich war nämlich bei zwischenzeitigen Recherchen (DAS HÖRT JA NIE AUF!) auf Dinge gestoßen, die mir die These ermöglichen, dass ein paar der dortigen Werke diejenigen sind, die Protzen zwischen 1927 und 1931, dem Jahr des Glaspalastbrandes, an eben diesem Ort ausstellte. Gestern suchte ich die betreffenden Werke noch einmal zusammen, fotografierte sie anständig, die Kuratorin half mir beim Vermessen – habe ich das auch mal gelernt – und ich behaupte jetzt, alle seine Grafiken von immerhin 1927 und 1929 nachweisen zu können.

Schnell wieder in die mit geschätzt 25 Grad geradezu kühle Wohnung, denn fünf Minuten, nachdem ich zuhause ankam, begann der Livestream von den Bayreuther Festspielen. Es gab den Tannhäuser, den ich gerade erst am Dienstag auf der Generalprobe gesehen hatte. Den Stream könnt ihr übrigens immer noch sehen. Macht das mal, bitte. Lohnt sich.

Der Tannhäuser erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden kann. Die beiden Damen bilden den beknackten Gegensatz Hure (Venus) und Heilige (Elisabeth) ab, und eigentlich kann man den Stoff echt nicht mehr ertragen. Den Gegensatz kann man auch in modernen Inszenierungen nie ganz wegdeuten, aber man kann ihn besser verpacken, und meiner Meinung nach hat das hier hervorragend geklappt.

Während der Ouvertüre beginnt schon eine Videosequenz, die klarmacht, dass wir heute nicht nur auf eine bespielte Bühne gucken, sondern noch eine zweite Ebene haben. Zuerst im Bild: die Wartburg, auf der der Sängerwettstreit stattfindet. Dann epische Drohnenflüge über den doitschen Wald, wo ich schon unangenehm zusammenzuckte, weil das offensichtlich Schöne ja gerne einen doppelten Boden hat. Hier kommt irgendwann ein Citroen HY ins Bild – mit einem gelben Hasen aus dem beknackten Schlingensief-Parsifal auf dem Dach –, der dann an einem Hinweisschild auf eine Biogas-Anlage vorbeifährt, an das ein Mann das Schild „Mangels Nachfrage geschlossen“ klebt. Das war natürlich eine kleine Spitze gegen den vorherigen Tannhäuser in Bayreuth, der in einer solchen Anlage gespielt wurde und der, soweit ich mich erinnere, großflächig bei Kritik und Publikum durchgefallen war. Ab diesem kleinen Scherz hatte mich die Inszenierung fest in der Tasche.

An Bord des Transporters: Tannhäuser im Clownskostüm, Venus im schwarzen Glitzeranzug und vermutlich zum ersten Mal in einem Tannhäuser die schwarze Dragqueen Le Gateau Chocolat sowie Manni Laudenbach als Oskar Matzerath. Die vier bilden das anarchische Quartett, das auf Regeln in der Kunst pfeift und macht, was es will. Das Video zeigt aber auch, dass sie sich dabei an wirklich keine gesellschaftlich gesetzte Regel halten: Bei einem Überfall auf einen Burger King wird ein Wachmann überfahren, der sich dem Transporter in den Weg stellt. Tannhäuser hadert hier also im ersten Akt nicht damit, dass er die fleischliche Lust im Venusberg irgendwie über hat, sondern damit, wie weit er für seine Kunst gehen will – und wie weit eben nicht. Im Video sieht man ihn nachdenklich im Transporter sitzen, im Hintergrund das Gesicht von Botticellis Venus deutlich im Bild, was mich die ganze Generalprobe irritiert hat, weil ich die Dame nicht mit der Venus vor mir auf der Bühne zusammenbekommen habe.

Der erste Teil des ersten Akts findet auf einem Rastplatz statt, wo erstmal die erbeuteten Burger ausgepackt werden und Tannhäuser rumhadern darf, während er sich seiner orangefarbenen Clownsperücke entledigt. Venus hat daraufhin irgendwann die Schnauze voll, der Mann jammert immer, dass sein Heil in Maria liegt (also der hohen Kunst und nicht diesem anarchischen Trash), dann soll er doch gehen, er fliegt aus der Band – und findet sich vor dem Festspielhaus wieder. Im Hintergrund ist das unverkennbare Gebäude zu sehen, der Vordergrund ist die Straße, die während der Festspielzeit mit einer rot-weißen Begrenzung abgesperrt ist – und selbstverständlich war auch die da. Auch wegen solcher kleinen Details fand ich das Bühnenbild ausgezeichnet. Der junge Hirte ist hier eine Radlerin, natürlich mit Fahrradklammer ums Hosenbein, wie sich das gehört, und die Pilger, die sonst von der Wartburg kommen – „Zu dir wall’ ich, mein Jesus Christ / der du des Pilgers Hoffnung bist!“ – sind hier, großartig, Festspielbesucher*innen in Abendroben und Anzügen, die auf Kommando gleichzeitig mit ihren Programmen und Eintrittskarten rumfächern, denn auf dem Hügel ist es bekanntlich immer zu heiß. Sie pilgern zu ihrem Heiland, dem Herrn Wagner, der in ihren Augen unantastbar ist, weswegen in Bayreuth auch immer gebuht wird, ganz egal, was vorne passiert. Der Wagnerianer an sich findet erstmal alles scheiße, was nicht so aussieht als hätte Ritchie es selbst inszeniert. F. als jemand, dem ich das nie erklären konnte, fand sich ganz in seinem Element, und auch deswegen bin ich im Nachhinein so froh, dass es ausgerechnet diese Inszenierung war, die er als erste in Bayreuth zu sehen bekam.

Die Ritter, mit denen Tannhäuser sich verkracht hatte, sind Festspielmitarbeiter, stilecht mit Lanyard und Ausweis um den Hals und teilweise in biederen Kostümen. Tannhäuser zieht seine alte, grüne Edition-Peters-Partitur aus dem Reisesäckchen, will wieder ernsthafte Kunst machen und keine Drag-Revuen, was die Ritter freut, Elisabeth, in Sneakers und Bademantel, anscheinend kurz mal aus der Künstlerinnengarderobe auf ne Zigarette draußen, sieht Tannhäuser – und ohrfeigt ihn. Endlich kriegt der Blödmann mal eine geknallt, darauf habe ich so lange gewartet! Akt zuende, Vorhang, Freude im Publikum bzw. auf dem Sofa bzw. meiner Twitter-Blase.

Der zweite Akt wurde dann noch besser. Hier ist die Bühne größtenteils zweigeteilt: Unten ist eine Art Guckkastenbühne, mit Neonröhren umfasst, auf der eine altmodische Tannhäuser-Inszenierung gegeben wird, während in der obereren Hälfte meist ein Video läuft, das Szenen hinter der Bühne bzw. rund um das Festspielhaus zeigt. Die Bühne auf der Bühne und ihre Mitwirkenden sehen genauso aus, wie ewiggestrige Wagnerianer vermutlich gerne mal wieder einen Tannhäuser sehen wollen würden: In der großen Halle stehen klobige Möbel, ein güldener Kronleuchter hängt rum, die Architektur ist ein unauffälliger Zwitter zwischen Romanik und Renaissance, alles hübsch aufgeräumt. Die Kostüme sind ebenso ordentlich und herrschaftlich: dunkelblau und gold, während Elisabeth mit Krönchen und langem Gewand aussieht wie Uta von Naumburg. Haben wir also alle Stilepochen beieinander, bevor mit dem Barock alle irre wurden.

Auf der Bühne geht die Aufführung brav vor sich, während im Video zu sehen ist, wie Venus, Le Gateau Chocolat und Oskarchen ins Festspielhaus einbrechen und ein Banner mit dem Wagner-Motto „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“ vom Balkon hängen, auf dem die Bläser in der Pause immer das Ende derselben anzeigen, indem sie ein Motiv aus dem nun folgenden Satz spielen. Regisseur Tobias Kratzer geht es also vermutlich nicht nur generell um den ewigen Streit zwischen E und U, sondern er erinnert auch daran, dass Wagner selbst mit seiner Richtung haderte. Nicht umsonst gelten der Holländer, Tannhäuser und Lohengrin heute noch als eher klassisch-romantische Opern, während er mit dem Ring, Tristan und Isolde sowie Parsifal die Opernwelt revolutionierte. Auch er war also ein Wandler zwischen den angeblich feindlichen Welten. Je länger ich über die Inszenierung nachdenke, desto besser und schlüssiger finde ich sie.

Zurück zu unserer Chaos-Truppe, die sich nun ihren Weg durchs Festspielhaus bahnt. Wir sehen die Besuchergarderoben, die Erinnerungstafel an die Uraufführung vom Ring, alles nett für Festspielbesucher*innen, weil man sich halt wiederfindet. Dann geht’s hinter die Kulissen, wo in der Generalprobe sehr laut gelacht wurde, im Stream habe ich es nicht so auffällig wahrgenommen: In der Fotogalerie der ganzen Dirigenten (hat schon mal eine Frau auf dem Hügel dirigiert?) bleibt der Blick von Le Gateau Chocolat bzw. der Kamera einen Hauch länger als nötig auf dem Bild von Christian Thielemann, dem Musikdirektor der Festspiele.

Dann ein schöner Kniff, auch einer, der mir total logisch vorkam: Venus überfällt eine Dame, die einen Edelknaben singt, zieht sich ihr Kostüm an und sitzt nun mit im Saal, wo Tannhäuser mit anderen Rittern um die Gunst von Elisabeth singt – was Venus völlig zu recht entgeistert mimisch kommentiert. Elena Zhidkova hat ein großartiges komödiantisches Timing, ich habe sie sehr genossen. Wie gesagt, völlig logisch, dass Venus nicht fassen kann, was hier stattfindet, und ich fand es sehr schön, eine Art Bundesgenossin vor der Nase zu haben und mich nicht nur alleine zu fragen, warum Elisabeth dieses Spiel mitspielt. Sie ist hier netterweise mehr als nur die keusche Jungfrau, die sich schließlich für ihren Kerl opfert (Augenrollen, immer!), sondern vielschichter. Sie hat sich ihr Korsett aus Verpflichtungen und Maßstäben vielleicht sogar selbst ausgesucht, aber es schwingt immer mit, dass dieses Korsett eins der Männergesellschaft ist, in der sie sich bewegt. Sie spielt so gut mit, wie es geht, aber spätestens im dritten Akt geht es eben nicht mehr.

Ich mochte am zweiten Akt diese Doppelbödigkeit, dieses Aufrechterhalten des, im wahrsten Sinne, schönen Scheins, der da gülden aus dem Guckkasten kommt. Die Videos waren willkommener Comic Relief, aber bis auf wenige Ausnahmen hatte ich nie das Gefühl, dass das Regiekonzept das Ursprungsmaterial übertüncht. Beim ewig langen Einmarsch der Edlen zum Beispiel wurde die Guckkastenbühne ganz von der Leinwand überdeckt, es gab nur noch ein Video zu sehen. Das war einerseits nett, weil diese Szene schlicht schnarchig ist, aber ich musste mich selbst zwischendurch daran erinnern, dass ich hier keinem Film mit hübschem Soundtrack zugucke, sondern einer Theateraufführung.

Der Akt endet damit, dass im Video Festspielchefin Katharina Wagner die Polizei ruft, die dann auch den Grünen Hügel rauffährt – und ich hatte fast damit gerechnet, dass in der Pause noch ein Polizeiwagen vor dem Haus steht. Das war nicht der Fall, aber das gehisste Banner hing wirklich draußen. Im Saal auf der Guckkastenbühne Tumulte, Venus hat sich zu erkennen gegeben, als Tannhäuser klar geworden war, dass ihm die hohe Kultur genauso auf den Zeiger geht wie vorher die Anarchie. Oskarchen trommelt zum Weltuntergang, Le Gateau Chocolat wirft eine Regenbogenflagge über die goldene, natürlich, goldene Harfe, auf der vorher die Sänger begleitet wurden, Tannhäuser wird abgeführt, Vorhang, Applaus.

Mit dem dritten Akt habe ich direkt nach der Probe etwas gehadert, der erschloss sich mir nicht sofort. Gestern im Livestream passte dann aber auf einmal alles. Die Bühne ist dunkel und abgewrackt, der Transporter nur noch Schrott, Oskar kocht sich Suppe in seiner Trommel – und bietet der umherirrenden Elisabeth, die seit Jahren Tannhäuser sucht, mildtätig und mitleidig etwas davon an. Sie nimmt dankbar an. Wolfram, der Elisabeth bisher erfolglos und keusch aus der Ferne angeschmachtet hat – das wurde auch im zweiten Akt schön im Video eingefangen, auch Tannhäusers Augenrollen über seine blutleere Verehrung im Gesang – nähert sich, tröstet, ist halt der Kumpel, den man manchmal echt nicht braucht. Mein geliebter Pilgerchor besteht aus Obdachlosen, die die Bühne nun von allem noch verwertbaren Schrott befreien und sie quasi leeräumen. Auch Oskars Trommel ist weg, das Kapitel ist zuende. Tannhäuser war nicht zwischen den Pilgern, Elisabeths letzte Hoffnung ist dahin. Und dann kam die Szene, bei der mich die Inszenierung dann endgültig hatte: Wolfram zieht sich Tannhäusers Clownskostüm an, setzt die Perücke auf – und Elisabeth bittet ihn zu sich in den Transporter, wo sie miteinander schlafen. Wolframs Lied an den Abendstern, der olle keusche Schmachtfetzen, war auf einmal traurig und nicht mehr sehnend, und Elisabeths letzter Versuch, in ihrem beschissenen Korsett zu funktionieren, hat auch nicht geklappt. Zum ersten Mal hat ihr anschließender Selbstmord für mich Sinn ergeben, weil es mehr war als die selbstlose Aufopferung, sondern ein aktives Zerbrechen und ein ebenso aktiver Rückzug aus einem Leben, das schlicht nicht ihres ist.

Ab da wollte ich dann eh nur noch, dass alles vorbei ist. Die Rom-Erzählung von Tannhäuser ist mir meist egal, so auch hier, aber immerhin ein schönes Detail: Wenn er vom „grünen Stab“ singt, dann hat er dabei die zusammengerollte Partitur in der Hand, was mal wieder passt. Es passt überhaupt fast alles, eine wirklich tolle Inszenierung. Nur das Ende ist mir beim zweiten Mal ein bisschen schief aufgestoßen: Im Video fahren Tannhäuser und Elisabeth glücklich im Transporter in den Sonnenuntergang. Fand ich beim ersten Mal schlüssig, aber gestern dachte ich plötzlich: wieso ist das das Happy-End? Ist es doch gar nicht, die beiden passen offensichtlich nicht zusammen. Wieso fahren nicht Elisabeth und Venus zusammen weg und machen ihr eigenes Ding, bis Tannhäuser und seine Ritterjungs sich mal klarkriegen? Denn gestern fiel mir nämlich auf, wie ähnlich Elisabeth im dritten Akt mit ihren offenen Haaren der Botticelli-Venus ähnelt. Und da war der schöne Bogen zum Anfang, und ich klatschte sinnlos in Richtung Macbook.

Also nochmal: Stream angucken. Während ich das hier alles verbloggt habe, lief der im Hintergrund, weswegen ich auch weiß, dass dieser Eintrag gute anderthalb Stunden gedauert hat. Nur so als Hinweis Zwinkersmiley.

Hach! Oper! HACH! Ich guck den Stream jetzt einfach zuende.