Tagebuch Mittwoch, 19. Juni 2019 – Technische Störung

Gestern vormittag wollte ich eigentlich im Stadtarchiv sitzen und lustige Archivalien durchlesen zu einigen Münchner Künstlervereinigungen, in denen Protzen Mitglied war, sowie zur Kameradschaft deutscher Künstler, in der alle 1938 aufgehen mussten. Wie ich gerade im Wikipedia-Link sehe, gibt es dazu noch keine wissenschaftliche Literatur. Auch meine kunsthistorische Suchmaschine weiß dazu rein gar nichts. Hallo, Diss-Thema! Gebe ich mal uneigennützig weiter.

Ich hatte die Archivalien brav am Montag bestellt, weil man ja alles zwei Tage vorher bestellen soll, kam frohgemut um Punkt 9 im Archiv an, denn der Lesesaal war nur bis 12 Uhr geöffnet, und ich hatte viel vor. War dem Archiv aber egal, denn wegen einer technischen Störung (Fahrstuhlausfall) waren keine Archivalien für mich da. „Am besten vorher anrufen.“ Gna. Das Stadtarchiv ist personell unterbesetzt, und jetzt auch noch Technikfirlefanz, was auch nicht das erste Mal vorkommt. Hier bitte den üblichen Rant einfügen über Dinge, für die die Stadt Geld hat und wofür offensichtlich nicht.

Dann saß ich halt stattdessen den ganzen Tag am heimischen Schreibtisch, wo ein Ventilator die Arbeit auch deutlich angenehmer machte. Jetzt hatte ich nämlich keine Ausrede mehr, mich endlich um die Neustrukturierung der bisher geschriebenen Kapitel zu kümmern, und genau das tat ich dann auch. Was bisher thematisch geordnet war, ist nun größtenteils chronologisch aufgebaut. Mit dem vorgestern verfassten Forschungsstand war ich zufrieden, die Quellen kann ich eh noch nicht vollständig aufschreiben, weil ich noch längst nicht alle eingesehen habe, die mir vorschweben. Und natürlich hoffe ich auch noch auf neue, vor allem das originale Werkverzeichnis des Künstlers.

Ich erwähnte bereits, dass das Verzeichnis zur Gedächtnisausstellung 1976 kopiert und diese Kopie dann irgendwann mal eingescannt wurde und auch, dass sich die Datei genau so liest: wie ein Scan einer 40 Jahre alten Kopie. Protzens Handschrift, wenn man den Scan denn entziffern kann, ist netterweise halbwegs lesbar, manchmal kommt ein bisschen Sütterlin durch, was ich immer noch nicht kann, obwohl hier seit Jahren ein Lehrbuch rumliegt. Ich glaube, ich mache jetzt ernsthaft einen Kurs, falls es einen gibt, denn mindestens für das Gästebuch des Ehepaars brauche ich das. Gleich den ersten Eintrag von 1926, der vermutlich vom Vater der Ehefrau stammt, kann ich nur raten statt lesen.

Trotzdem hatte ich mit dem Werkverzeichnis viel Spaß, weil in solchen Dokumenten ja grundsätzlich mehr steckt als man beim ersten – oder siebzehnten – Ãœberfliegen merkt. Da ich jetzt chronologisch arbeite, ignorierte ich die Autobahnbilder, an denen ich bisher rumgeknabbert hatte, sondern fing ganz brav vorne an. In einem Lexikoneintrag – mehr wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Maler gibt’s halt noch nicht – hatte ich gelesen, dass ihm nach „nach 1933 eine Art Monumentalität“ zugesprochen wird. Das zweifelte ich sowohl von den Bildinhalten als auch schlicht von den Bildgrößen an, und so verbrachte ich – vermutlich sinnlos, aber für mich dann doch interessant – zwei Stunden damit, mal zu gucken, wie groß seine Bilder denn ab 1916 waren und ob sie wirklich monumentaler wurden. Würde ich jetzt spontan verneinen, ich habe aber nur ein paar Jahre mal durchgerechnet, also ernsthaft die durchschnittliche Quadratzentimeterzahl seiner Werke berechnet und geschaut, ob es nach 33 brachial aufwärts ging. Ging’s nicht. Ja, die Bilder wurden größer, aber nicht sprunghaft, und als monumental groß würde ich sie auch nicht bezeichnen. Weiß ich noch nicht, ob diese Info wirklich in den Text gehört oder ob das doofes Nitpicking ist, aber für mich ist erstmal alles spannend.

Noch spannender war dann die Preisentwicklung. So richtig reich ist Protzen vor 1933 nicht mit seiner Kunst geworden, und auch im NS-Staat gehörte er nicht zu den Großverdienern – aber immerhin zu den Mittelprächtigverdienern, jedenfalls nach meinem bisherigen Wissensstand. Jetzt wühlte ich mal in den 20er-Jahren rum, wo ich bisher nur punktuell geschaut hatte und konnte ein bisschen deutsche Geschichte erfassen. Momentan steht im Textdok dieser Abschnitt, wobei „WV“ Werkverzeichnis bedeutet und die Zahl dahinter die entsprechende Gemäldenummer:

„Die in der Gefangenschaft entstandenen Werke Belgodère Steineichen (1916, WV 5, 66 x 78 cm) sowie Eucalyptus Castelluccio (1918, WV 11, 67 x 51 cm) wurden am 3. Juli 1922 für 4050 bzw. 2250 Mark an den Kunstverein Stuttgart verkauft. [Inflation? – damit meine ich, dass ich da den Wertverfall der Mark nochmal belegen möchte, denn diese Summen sind deutlich zu hoch] Das im September 1917 gemaltes Ajaccio (WV 13, 68 x 58 cm) wurde laut Werkverzeichnis am 28. November 1922 an eine/n Dr. Hennigsen in oder aus Kopenhagen verkauft. Die im Werkverzeichnis notierte Zahl 120, die nicht so recht in die Zeit der Inflation im Deutschen Reich passen will, könnten daher dänische Kronen gewesen sein.

Die Inflation zeigt sich auch in weiteren Kaufsummen: Pinia (hell) (1916, WV 4, 66 x 78 cm) wurde am 26. Dezember 1922 für 35.000 Mark verkauft, während ein Käufer für Pinia mit Bergen (1917, WV 7, 66 x 66 cm) am 29. April 1923 bereits 150.000 Mark zahlen musste. Für Rue Fesch Ajaccio (vermut. 1918, WV 19, unbekannte Maße) erhielt Protzen am 30. Mai dann schon 180.000 Mark, sein Bild Freibergsee II (1919, WV 38, unbekannte Maße) wurde über den Feldgrauen Künstlerbund am 20. Juni für 400.000 Mark verkauft, und für Altwasser [?] (1922, WV 92, 75 x 69 cm) bekam er am 8. August 1923 von Herrn oder Frau Kolberg zweieinhalb Millionen Mark.“

Außerdem fand ich bei vier Bildern die Notiz „Deutsche Kunst Gesswein Augsburg“. Das passt hervorragend zu einem Brief seines Vaters von 1922, der bedauerte, dass Sohnemann in Augsburg nichts verkauft hätte. Ich wundere mich zwar, dass ein Münchner Student schon eine Galerie in Augsburg hat, die seine Werke vertritt, aber okay, so weit kenne ich mich im Kunsthandel der 20er-Jahre noch nicht aus. Was mich aber wahnsinnig macht: Ich finde zu diesem Gesswein nichts. Google findet einen heutigen Bäcker, das Stadtarchiv Augsburg ist online nicht durchsuchbar, das dortige Staatsarchiv auch nicht, aber da vermute ich eh nix, im Münchner Stadtarchiv ist nichts, die Nachlassdatenbank weiß nichts, das Bundesarchiv weiß nichts, das Kunstarchiv in Nürnberg weiß nichts. He, Augsburger – könntet ihr bitte mal eure Großeltern fragen, ob sie eine Kunsthandlung Gesswein kennen? Das gibt es doch gar nicht, dass sich nicht irgendwo ein Fitzelchen Quelle findet!

Um 19.30 Uhr sehr zufrieden Feierabend gemacht, Hummus angerührt, eine halbe Salatgurke aufgeschnitten, mit morgens frisch gekauftem Brot genossen. Noch ein paar Serien weggeguckt, Zeitung ignoriert, Kopf war dicht mit Tagesgeschäft, früh schlafen gegangen. Nicht auf dem Balkon gesessen! Zu warm.