Tagebuch Dienstag, 8. Januar 2019 –  Das Abo ist tot, es lebe das Abo

Vormittags einen Text abgegeben, für den ich eigentlich eine Korrekturschleife eingeplant hatte – die dann aber nicht nötig war. Weniger Arbeit ist zwar nett, aber jetzt kriege ich auch weniger Geld. Muss schlechter texten.

Aber ich konnte mich sehr über eine Mail freuen:

Eigentlich wollte ich deswegen nett sein und die SZ statt der FAZ kaufen, aber der Vorsatz hielt nur bis zur Lektüre vom Perlentaucher, der mich auf einen Artikel über Religionsunterricht im FAZ-Feuilleton aufmerksam machte (hinter der Paywall). Also FAZ erstanden. Und dann, nach lausigen, lächerlichen, wirklich lachhaft albernen acht Tagen Abolosigkeit wieder ein Abo abgeschlossen. Muss woanders sparen. Und schlechter texten.

Abends eine Kundenmail bekommen, über die ich länger nachdenken musste, was meinen lauschigen Feierabend etwas ruinierte. Missverständnisse kommen vor, aber als Dienstleister dürfen sie mir eigentlich nicht passieren; es ging um organisatorische Dinge, nicht Textqualität. Mich über mich selbst geärgert und Frustschrott gegessen statt schöner Dinge mit Brokkoli, die ich eigentlich geplant hatte. Mal sehen, ob ich das jemals hinkriege: mich nicht selbst doppelt für Fehler zu bestrafen (Ärger plus mieses Futter). Oder ob ich es schaffe, Seelenstress vom Essen zu entkoppeln. Ich ahne, dass ich das nicht mehr hinkriege, diese Bewältigungsstrategie fahre ich schon zu lange.

Die Musik zum Tag (Year of Wonder) kommt von Arcangelo Corelli, den ich meinte, als Namensgeber für einen Nicholas-Cage-Film zu kennen, den ich bis heute aber nicht gesehen habe und von dem ich jetzt nach der Lektüre des Wikipedia-Eintrags weiß, dass die beiden Corellis gar nichts miteinander zu tun haben. Ähem.

Und jetzt muss ich doch mal ein winziges Hühnchen rupfen, denn das Largo aus Corellis Concerto Grosso in D-Dur, Op. 6, No. 1, dauert ernsthaft nur eine Minute. Ein bisschen mehr darf mir die Verfasserin ruhig zumuten. Also klickte ich auf den Album-Link der Spotify-Playlist und hörte das ganze Concerto Grosso, das eh nur entspannte 13 Minuten dauert. Barock ist zwar nicht meins, aber das hat mir gefallen. Und ich weiß jetzt, was ein Concerto Grosso ist.

Wo wir gerade bei der FAZ waren – da stand Montag in meiner Lieblingsrubrik „Die Gegenwart“ ein langer Artikel über den Populismus (leider nicht online). Der Politikwissenschaftler Torben Lütjen arbeitet den Unterschied zwischen den heutigen Schreihälsen und den historischen heraus, was mich etwas hoffnungsvoller gestimmt hat, im Gegensatz zum Autor.

Zunächst ging es um den Zusammenhang von Autoritarismus und Populismus:

„Der Begriff [des Autoritarismus] zielt gleichsam auf eine vorpolitische Bewusstseinsebene und beschreibt einen generellen Zugang zur Welt. Personen mit einem autoritären Weltbild, so die Annahme, richten sich an konventionellen Verhaltensweisen aus, orientieren sich an starken Vaterfiguren und neigen dazu, Fremdes als Bedrohung wahrzunehmen.

Nun ist einiges an dem behaupteten Zusammenhang zwischen Rechtspopulismus und Autoritarismus offensichtlich. Schließlich wissen wir, dass die Anhänger der AfD ebenso wie die Wähler anderer rechtspopulistischer Parteien in Meinungsumfragen eine stärkere Präferenz für „starke Führer“ bekunden und mit bestimmten Erscheinungsformen der repräsentativen Demokratie hadern. […]

Und doch ist die Erzählung vom autoritären Populismus allenfalls die halbe Wahrheit. Der moderne Rechtspopulismus ist widersprüchlich und gebrochen. Er besitzt eine Art doppelten Boden, in dem sich eine Geisteshaltung findet, die sich mit autoritärem Denken nicht besonders gut verträgt – was die Sache nicht unbedingt ungefährlicher macht.“

Lütjen beschreibt dann die Parallelwelt von Verschwörungstheoretikern, angefangen von der Alt-Right-Bewegung, die Außenstehende als unwissende Schafe beschreibt, …

„… die den Lügen der Mainstream-Medien glauben, den Versprechungen der Politiker, die nicht mit offenen Augen durch die Welt gehen und sich leicht manipulieren lassen. In der Sprache der AfD ist es hingegen der ‚mündige Bürger‘, der durchschaut hat, wie die Dinge wirklich sind. […]

Der Rechtspopulismus rechnet in seiner Ansprache tatsächlich mit Menschen, die sich für so kompetent halten, dass sie die Komplexität der Welt ohne fremde Hilfe und damit selbst verstehen. Sie brauchen dafür keine vermittelnden Instanzen, keine Übersetzer und keine Mediatoren. Es geht, so kontraintuitiv das vielleicht klingen mag, um individuelle Selbstermächtigung, oder wie es auf Neudeutsch heißt: Empowerment.“

Was mir in diesem Zusammenhang gefehlt hat, war der Hinweis auf die durchaus vorhandenen Mediatoren: die Facebookgruppen, die Twitter-Threads, die WhatsApp-Gruppen, in denen man seine eigene Meinung gegencheckt – man ist also vielleicht doch nicht ganz so mündig, sondern sucht Gleichgesinnte, die eine Richtung vorgeben. Oder eine Verschwörungstheorie, ein verfremdetes Bild, eine verkürzte Bundestagsrede von Frau Weidel. Außerdem hätte ich mir eine Distanzierung vom Begriff der „Mainstream-Medien“ gewünscht, aber das mag persönliche Befindlichkeit sein.

Lütjen kommt dann zum Kern des Ganzen:

„Im Faschismus […] ist der individuelle Anspruch auf Wahrheit im Grunde suspendiert. Hier ist es der von der Vorsehung erwählte Führer, in dem sich die Wahrheit manifestiert. […] Im Linksautoritarismus existiert ebenfalls nicht die Idee der individuellen Welterklärung: Die Wahrheit wird hier von der Partei als bürokratischer Organisation verwaltet oder von den offiziell beglaubigten Parteiintellektuellen. NIcht jeder ist schließlich berufen, Marx zu verstehen.“

Hier fragte ich mich, ob das auch ein Grund dafür sein könnte, warum im Osten anscheinend mehr Menschen mit Zeitungen und Fernsehen hadern als im Westen – weil man es sich 40 Jahre lang antrainiert hatte, eben diesen Medien nicht zu glauben?

Spannend fand ich diese Überlegung zu den individuellen AfD- oder Rechtswähler*innen:

„Die Rechtspopulisten von heute aber scheinen kaum nach dem Aufgehen in der Masse zu lechzen, scheinen überhaupt wenig Sehnsucht nach Gemeinschaft oder Bindung zu verspüren. Weder fallen sie als regelmäßige Kirchgänger noch sonst irgendwie als begeisterte Vereinsmeier auf [dafür hätte ich gerne eine Quelle gehabt]. […] Auch sie sind, wie der Soziologe Andreas Reckwitz es bezeichnet hat, ein Teil der ‚Gesellschaft der Singularitäten‘, und nicht etwa (wie es allerdings Reckwitz und andere wohl meinen) deren regressiver Gegenentwurf.“

Lütjen spricht dann noch über das innerparteiliche Chaos in der AfD, wo Führungsfiguren relativ unerbittlich ersetzt werden – eigentlich nicht unbedingt ein Zeichen von Führertreue. Wobei die modernen Vorsitzenden auch eher Pseudo-Führer*innen sind:

„Auch sollte man bezweifeln, dass es sich bei all den Trumps und Orbáns, den Salvinis, Gaulands und Straches um jene berüchtigten ‚strengen Vaterfiguren‘ der Autoritarismus-Forschung handelt, die ihre eigenen Zöglinge züchtigen und erziehen wollen. Eher sind es wohl moderne Kumpel-Väter, die ihren verzogenen Kindern gegen die bevormundenden Lehrer den Rücken stärken und sie dabei noch weiter dazu anstacheln, sie sollten sich nicht weiter vorschreiben lassen, wie sie lebten, was sie zu fühlen und woran sie zu glauben hätten. Der Populismus (das ist seine größte Stärke und seine größte Schwäche zugleich} fordert den Menschen intellektuell und moralisch gar nichts ab – schon gar keine Opfer im Namen einer historischen Idee oder Mission.“

Und das sehe ich als Hoffnungsschimmer: Die heutigen AfD-Wähler mag ich für verblendet und denkfaul halten, ich habe aber keine Angst davor, dass sie Verkehrsflugzeuge in Hochhäuser lenken. Und gerade weil sich die Partei eigentlich nur in der Flüchtlingspolitik halbwegs einig ist, hoffe ich darauf, dass sie sich schlicht selbst erledigt. Das hat die Ein-Thema-Partei der Piraten ja auch prima hingekriegt.

(Alle Zitate aus: Torben Lütjen: „Populismus oder die entgleiste Aufklärung“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.1.2019, S. 6.)