„TAGEBUCH: Heute habe ich, der Zoologe, gelernt: Die Afrikanische Wüstenheuschrecke hat eine ostdeutsche Verwandte, die Bücherheuschrecke (Locusta bibliophila), eine species auf zwei Beinen, gekleidet in „Wisent“- oder „Boxer“-Jeans, selbstgestrickte Rollkragenpullover und olivgrüne oder erdbraune „Kutten“ (Parkas), deren Säume bis über die Waden reichen (Sonderanfertigung aus der Pelzschneiderei „Harmonie“ an der Rißleite,vorgenommen in der Freizeit oder in Absprache mit dem Chef – auch er hat Lesevorlieben –, worauf Barbara und, je nach Anfrage, eine Kollegin für einen oder zwei Tage aus der sozialistischen in die individualistische Planerfüllung umgeleitet werden). Die Locusta blibliophila ernährt sich von Büchern, allerdings nur von solchen aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet. Der Angriff der Bücherheuschrecke wird Wochen vor dem Leipziger Schlaraffen-Ereignis generalstabsmäßig geplant, und ich, willkommener Vorposten im zyklisch wiederkehrenden Kometen aus Papier, wurde in die Pflicht genommen: „Wo sind sie. Wann kommen sie. Du mußt sie vorbereiten. Auf uns. Du mußt Schließfächer im Hauptbahnhof mieten. Wir müssen uns ein Signalsystem überlegen. Vielleicht ein Taschentuch, in das du schnaubst, wenn Gefahr droht. Wieso, es ist doch Erkältungszeit. Natürlich mußt du auch arbeiten – aber das kannst du doch tun, wenn wir wieder weg sind.“

Die Rüstung der Bücherheuschrecke (besagter „Messe-Mantel“, Typ Parka) wird etwa zwei Wochen vor der Schlacht einer gründlichen Ãœberprüfung unterzogen; rechte Innenseite: in zwei Reihen nebeneinander je fünf Taschen, von Ãœberbrust- bis in etwa Kniehöhe eingenäht (teilweise überlappend), Format 21 x 14cm, die Leichtgängigkeit wird mittels des in der Pelzschneiderei „Harmonie“ befindlichen Exemplars Heinrich Böll, „Wanderer, kommst du nach Spa …“ kontrolliert, welches
„widerstandslos“
„sauber bedeckt“
„wölbungsarm“
in der Tasche Platz finden muß. Die Kutte ist zwei Nummern zu groß und nicht mit dem handelsüblichen Solidor-Reißverschluß versehen (der Verschluß unten klemmt oft, läge bei dieser Kutten-Version auch so tief, daß man sich bücken müßte, was der angestrebten Wölbungsarmut u. U. abträglich sein könnte), sondern mit Druckknöpfen, die sich schneller – und punktuell – schließen lassen. Auf der linken Innenseite finden sich zwei große Taschen für Prachtbildbände und sonstige Werke ungewöhnlichen Formats. Auf der Außenseite des „Messe-Mantels“ gibt es weitere große, knöpfbare Taschen, dazu, über jeder Hüfte, einen starken Schnapp-Karabiner in haltbarer Lederschlaufe: Darin werden die mannigfachen Plastbeutel, in denen man Kugelschreiber, Broschüren, Bücher, Schokolade, Kataloge, Bananen, noch mehr Kugelschreiber, West-Zigaretten und noch mehr Bücher aufzubewahren gedenkt, eingeklinkt – man hat die Hände frei, und die Beutel können nicht von Zeit- und Leidgenossen an sich gebracht werden.

Der Anflug der Bücherheuschrecke vollzieht sich in Fahrgemeinschaften: Anne und Robert in Rohdes Moskwitsch, Malthakus und Dietzsch in Kühnasts Škoda, Prof. Teerwagen und Frau mit Knabes, deren Wartburg in der Reparatur ist; Schallplattenhändler Trüpel mit Tietzes. Gespräche: Ach, das herrliche Opernbuch, ach, und das herrliche Picasso-Buch (Musikkritiker Däne zu Adeling, die – per Zug anreisen); Strategie zur Täuschung der Ein- und Auslaßdienste (System „Bauernopfer“: einer brüllt, die entstehende Verwirrung wird benutzt, um die Beute in Sicherheit zu bringen). Ich habe die Kollegen vorbereitet, habe zwei (!) Schließfächer im Leipziger Hauptbahnhof mieten können. – „Nur zwei?!“ Musikkritiker Dänes Verzweiflung ist eine ahnungslose, immer noch, nach so vielen Messejahren. Wenn der wüßte, daß Schließfächer in Leipzig vererbt werden.

Der Angriff der Bücherheuschrecke vollzieht sich in Wellen, sein unmittelbar bevorstehender Beginn wird dem scharfen Beobachter dadurch kenntlich, daß sich die ohnehin immer gierig blickenden Augen zu Hungerschlitzen verengen. Der Hunger gilt vorrangig den Farben. Hauptsache: bunt. Je bunter die Beute, desto besser. Und je mehr davon, auch: desto besser. Am versessensten ist die Bücherheuschrecke auf rote Umschläge. Der Verdacht besagt: Das hat etwas mit uns zu tun. Hat der Hungerschlitz einen Dissidenten-Namen registriert, muß sofort gehandelt werden. Der wachhabende Lektor ist von Buchheuschrecke B in ein strategisches Gespräch zu verwickeln, während Buchheuschrecke A mit trommelndem Herzen, in Schweißausbrüchen und erblindet vor Courage blitzschnell ans Regal tappt (der Griff muß weich abfedernd über dem Umschlag der Beute zum Stillstand kommen, das ist die alles entscheidende Pause, die Sekunde glücklicher Furcht: ICH HAB’S! Zwischen meinen Fingern ist es, der Umschlag ist glatt und aus dem Westen), jetzt:
Knöpfe am Messe-Mantel lösen
elegant nach oben schauen, trockne Lippen mit der Zunge netzen
Hustenanfall vortäuschen
bücken
rot werden nicht vergessen
Husten verstärken
Messe-Mantel auf
Augen und zu –
weg
weg
weg

(„He, Sie da, sagen Sie mal, was erlauben Sie sich?“ – „Aber, Sie … haben doch sonst immer weggesehen?“ Tumult. Sperre bilden. Darauf achten, nicht als Einheit wahrgenommen zu werden, da sonst Messeverbot. Messeverbot = Katastrophe. Katastrophe = Heimfahrt mit: „Du hättest es haben können, wärste nich so blöd gewesen!“ Barbara stößt einen Schrei aus, sinkt beiseite. Notfall. „Danke, geht schon wieder.“ Malthakus und Teerwagen entweichen. Beute: Isaak Deutscher, Stalin. Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULag, 1. Teil. Eine Anthologie Schriftsteller gegen Atomwaffen. Friedrich Nietzsche: Warum ich so klug bin. Draußen: Erste Runde vorbei. Beruhigungstabletten aus Ulrichs Autoapotheke. „Ein Komma am Knast vorbei, Herr Professor!“ – „Hat sich aber gelohnt!“ – „Ham’Se schon ‘ne Liste, wer wann mit Lesen drankommt?“ Schluck aus der Teeflasche. Vergleich der Plastbeutel-Inhalte, Kontrolle der Mäntel. Durchatmen. Auf zur zweiten Runde.)“

Passend zur Frankfurter Buchmesse: ein kleiner Ausschnitt aus Uwe Tellkamps Der Turm über die Leipziger Buchmesse. Bin erst auf Seite 334 von 973, kann aber jetzt schon eine absolute Leseempfehlung aussprechen. Fühlt sich sehr altmodisch an, sehr weit weg von deutscher Gegenwartsliteratur. Vielleicht mag ich’s deshalb so gern. Vielleicht auch, weil draußen Herbst ist und ich grad in Stimmung für lange Sätze bin.