Tagebuch, Sonntag, 22. Juli 2018 – #ausgehetzt

Zu herrlichem Regen aufgewacht. Einfach noch ein Stündchen bei offenem Fenster im Bett rumgelungert und dem Wetter zugehört.

Angela Leinens Wie man den Bachmannpreis gewinnt ausgelesen. Das war sehr amüsant, vielen Dank für die Zusammenstellung und die Hinweise auf gute (und miese) Texte und warum sie gut (oder mies) sind. Ich arbeite mich langsam rückwärts durchs Bachmannarchiv (Texte online seit 1999) und kann daher jetzt gezielt nach den Perlen schauen. Das Büchlein gibt’s übrigens gerade für fast kein Geld, nur so als Tipp für den Urlaubsstrand.

Gegen 13 Uhr machte ich mich dann auf einen Weg, den ich schon lange nicht mehr gegangen war.

Ein breites Bündnis hatte zur Demo #ausgehetzt aufgerufen, die sich unter anderem gegen die Verrohrung der politischen Sprache bzw. dem Umgang miteinander wandte. Gerade die CSU hatte sich in den letzten Wochen mit grauenhaften Wortschöpfungen wie „Asyltourismus“ hervorgetan; auf dem Demoplakat waren daher auch Söder, Seehofer und Dobrindt abgebildet. Der CSU scheint ein bisschen der Arsch auf Grundeis zu gehen, denn sonst hätten sie das Ganze einfach an sich vorbeiziehen lassen anstatt die ganze Demostrecke mit Plakaten oder fahrbaren Werbewänden vollzuknallen und ihr beknacktes Motiv auch noch zu inserieren.

Einige Plakate an der Strecke wurden dann „optimiert.“

Ich meine mich daran zu erinnern, dass es im Vorfeld hieße, wenn 10.000 zur Demo kämen, wäre das schon ein Erfolg. Ich ging nicht von Anfang an vom Goetheplatz mit, sondern reihte mich erst am Hauptbahnhof ein. Bis dahin hatte der Regen auch fast aufgehört, aber trotzdem waren schon am Anfang der Strecke bei strömendem Regen 18.000 Leute gezählt worden, wie jemand auf der Abschlusskundgebung am Königsplatz von der Bühne rief. Wir gingen über die Luisen- und dann die Katharina-von-Bora-Straße, wo ich mein geliebtes Zentralinstitut mal aus anderer Perspektive sehen durfte. Auf der Straße stehe ich dort nämlich nie.

Irgendjemand twitterte, sein Teil des Demozuges stünde noch an der Theresienwiese, während der vorderste Zug, in dem ich anscheinend mitgelaufen war, schon am Endpunkt wäre. Der Zug hatte so mal eben die halbe Innenstadt lahmgelegt. Die Begleitung durch die Polizei fiel mir übrigens, wenn überhaupt, nur sehr positiv auf. Da waren zwar durchaus Menschen in voller Sturmmontur zu sehen, aber sie hielten sich sehr zurück und standen eher am Rand. Um mich herum marschierten viele Leute in meinem Alter und darüber, was ich teilweise sehr putzig fand. Eine ältere Dame dengelte des Öfteren von hinten in mich rein, bis ich mich umdrehte und sie fragte, ob sie vielleicht vorbeiwollte, woraufhin sie meinte: „Ja, Entschuldigung, ich muss doch zu meinem Plakat.“ Sprach’s und wuselte sich weiter nach vorne, wo vermutlich Freund*innen mit Postern gingen.

Durch die Menschenmengen mussten die Sightseeingbusse am Hauptbahnhof stehenbleiben. Die Touris nutzten dieses hübsche Fotomotiv und knipsten aus den Bussen heraus. Einige winkten uns zu, warum auch immer. Wir winkten zurück.

In meiner Ecke verstummten Gesänge, die sich explizit gegen die CSU richteten bzw. von der Wortwahl eher Fußballstadionqualität hatten, sehr schnell, weil niemand sie singen wollte, ich auch nicht. Generell fand ich es sehr ruhig, obwohl ich auf dem Königsplatz schließlich in der Nähe einer Vuvuzela stand. Daran hätte ich natürlich auch denken können, F. hat mehrere zuhause rumstehen.

Weil ich mich so früh eingereiht hatte, war ich mit den ersten auf dem Königsplatz. Die Stufen von Glyptothek und Antikensammlung waren natürlich schon vollbesetzt, weil viele nicht mitgelaufen waren, sondern sich gleich zur Abschlusskundgebung begeben hatten; das war auch F.s Plan. Ich schickte eine DM, dass ich an der Antikensammlung lehnte, Nähe U-Bahn-Abgang (man musste ja auch irgendwann wieder wegkommen). Ich hörte mir einen Teil der Musik und der Reden an, ging dann aber nach einer guten Stunde nach Hause und meinte, meine Aufgabe erledigt zu haben: Ich war da, ich hatte Präsenz gezeigt, ich war hoffentlich mitgezählt worden.

Die Polizei spricht von 25.000 Leuten, die Veranstalter sogar von 50.000, weil längst nicht alle auf den Königsplatz gepasst hatten.

F. schrieb irgendwann, dass er und sein Bekannter jetzt in der Nähe der Antikensammlung seien (das ist das Ding rechts im Bild), aber da kletterte ich gerade in die U-Bahn. Später twitterte er auch ein Foto von seinem Standpunkt, woraufhin ich eine DM schrieb:

Den Abend verbrachten wir gemeinsam und bekamen so auch den dritten Teil der Twitterbotschaften von Mesut Özil mit, bei dem ich nur noch „Oh wow“ sagen konnte. Eine derart scharfe Auseinandersetzung mit dem DFB, dem Umgang mit ihm und dem Alltagsrassismus in Deutschland hatte ich nicht erwartet, war aber begeistert davon, dass endlich mal jemand Klartext redete.

Wir sprachen auch noch einmal über das Foto von ihm und Erdogan, mit dem die Hetze auf ihn begann. Sicher kann man ihm politische Unbedarftheit vorwerfen, aber dass es ausgerechnet der DFB tut, der selber in Länden wie Russland (gerade eben) und Katar (2022) lustig mitspielt, ist eben schon kaum noch Doppelmoral, sondern bescheuert. Ich nehme Özil sein Statement auch durchaus ab, dass ihm beigebracht wurde, nie zu vergessen, wo seine Wurzeln lägen und dass es auch längst nicht das erste Treffen mit Erdogan war (das wusste ich zum Beispiel nicht). Über seine Vorstellung, dass Politik und Fußball schön sauber voneinander zu trennen sind, müssten wir allerdings noch mal reden. Wenn dem so wäre, wäre der Shitstorm nämlich ausgeblieben.

Dass er seinen vorläufigen Rücktritt erklärt („whilst I have this feeling of racism and disrespect“), war daher nachvollziehbar. Wir sprachen über Alternativen, sahen aber selbst auch keine. Mein bockiges „Aber jetzt doch erst recht“, konnte F. sinngemäß entkräften: „Der wird aus Feigheit nicht mehr aufgestellt und dann heißt es, so richtig gut sei er halt nicht mehr, anstatt dass sich der DFB mit den Vorwürfen und auch den Pfiffen von den Rängen auseinandersetzt. Jetzt kann er den Zeitpunkt seines Abschieds selbst bestimmen.“

Wir tranken übrigens den vierten Wein vom Weingut Wechsler, von dem ich jetzt einfach mal alles bestelle. Ich war für unseren Podcast, in dem wir Weine von Winzerinnen trinken wollten, zufällig auf dieses Weingut gestoßen. Der Riesling, den ich hatte, gefiel mir sehr gut, woraufhin ich noch einen Rosé und einen Schaumwein probierte, die auch alle wirklich gut waren. Der Sauvignon blanc von gestern war jetzt eher unaufregend, aber ordentlich. Ich glaube, ich habe nach zehn Jahren Rumsüppeln endlich ein Weingut gefunden, von dem ich blind ordern kann; das wird schon alles schmecken.