Tagebuch, Sonntag, 27. Mai 2018 – „Long ago I was a king / Now I do this kind of thing“

Lange gemeinsam ausgeschlafen, rumgelegen, die Handys leergelesen. Irgendwann ging ich nach Hause und besorgte auf dem Weg noch zwei Schokocroissants für mein Sonntagsfrühstück, die ich mit Aeropress-Kaffee und Himbeermarmelade kombinierte.

Ein bisschen gearbeitet. Die Texte, die ich Freitag erstellt hatte, lagen lange genug rum. Jetzt las ich noch einmal drüber, änderte an ein paar Stellen etwas, war aber insgesamt zufrieden. Die gehen heute zum Kunden.

Eine andere Kundin meldete sich per Mail, dass ihr meine Texte sehr gut gefallen hatten. Das freute mich, denn das ist eine Neukundin, und beim ersten Schwung weiß man nie so recht, ob man den geforderten Ton getroffen hat bzw. alle Inhalte stimmen. Wir sprechen morgen dazu.

Ansonsten widmete ich mich dem riesigen Circe-Kapitel im Ulysses, das ich allerdings nicht durchbekam; irgendwie geriet mir ein Schläfchen dazwischen. Mein Plan ist es, das Buch bis zum 15. Juni durchgelesen zu haben, denn am 16. ist bekanntlich Bloomsday, und den könnte ich dann in diesem Jahr erstmals mitfeiern. Zumindest im Geist, nach Dublin fahren werde ich dazu nicht. Aber ich könnte eine schöne Zitronenseife kaufen.

Vorher muss ich aber noch ein bisschen lesen. Circe ist in Form eines Theaterstücks geschrieben. Die Regieanweisungen sind genauso surreal wie die theoretisch gesprochenen Texte, und was mir in diesem Kapitel zum ersten Mal im Buch passierte, ist, dass sich das Gefühl beim Lesen dauernd ändert. Klar gibt es auch in den anderen Kapiteln Spannungsbögen – oder eben nicht –, aber gestern stellte ich quasi alle fünf Minuten fest, dass ich mich anders fühlte als eben noch.

Es gibt Stellen, bei denen ich keine Ahnung habe, worum es gerade geht, aber auch das kenne ich schon, und ich glaube inzwischen, das muss so sein. Ich lasse mich von den Worten und Beschreibungen mittragen, ohne dass ich weiß, was sie von mir wollen; es ist ein bisschen wie Touristin in einem fremden Land zu sein, dessen Sprache man nicht spricht. Man wird zu irgendeiner Feier eingeladen, es gibt Dinge zu essen und zu trinken, die man nicht kennt, und man macht halt mit und es ist irgendwie okay. Wenige Seiten später merkte ich, dass ich traurig war und nicht einmal sagen konnte, warum eigentlich. Bloom muss sich verteidigen, er stottert Wortbrocken vor sich hin, beschreibt die Beerdigung, von der er kommt, bis sogar der Leichnam persönlich seine Aussage bestätigt. Wieder einige Seiten später scheint Bloom erst zum Bürgermeister Dublins zu werden und dann gottähnlich, es folgen Beschreibungen von üppigen Festivitäten mit riesigen Aufbauten und Menschenmengen, und ich wurde ehrfürchtig (und mochte die Beschreibungen gern).

„BLOOM My beloved subjects, a new era is about to dawn. I, Bloom, tell you verily it is even now at hand. Yea, on the word of a Bloom, ye shall ere long enter into the golden city which is to be, the new Bloomusalem in the Nova Hibernia of the future.

(Thirtytwo workmen wearing rosettes, from all the counties of Ireland, under the guidance of Derwan the builder construct the new Bloomusalem. It is a colossal edifice, with crystal roof built in the shape of a huge pork kidney, containing forty thousand rooms. In the course of its extension several buildings and monuments are demolished. Government offices are temporarily transferred to railway sheds. Numerous houses are razed to the ground. The inhabitants are lodged in barrels and boxes, all marked in red with the letters: L. B. Several paupers fall from a ladder. A part of the walls of Dublin, crowded with loyal sightseers, collapses.)

THE SIGHTSEERS (Dying) Morituri te salutant. (They die.)“

(Gabler-Edition, Kapitel 15, Zeilen 1541–1557)

Ein paar Seiten später musste ich sehr über die neuen Musen dieser neuen Zeit lachen:

„Bloom explains to those near him his schemes for social regeneration. All agree with him. The keeper of the Kildare Street Museum appears, dragging a lorry on which are the shaking statues of several naked goddesses, Venus Callipyge, Venus Pandemos Venus Metempsychosis, and plaster figures, also naked, representing the new nine muses, Commerce, Operatic Music, Amor Publicity, Manufacture, liberty of Speech, Plural Voting, Gastronomy, Private Hygiene, Seaside Concert Entertainments, Painless Obstetrics and Astronomy for the People.“ (1702–1710)

Dann wird Bloom plötzlich zu einer Frau und gebiert Kinder und ich las vermutlich mit offenem Mund und simpler Begeisterung.

„DR DIXON (Reads a bill of health) Professor Bloom is a finished example of the new womanly man. His moral nature is simple and lovable. Many have found him a dear man, a dear person. He is a rather quaint fellow on the whole, coy though not feeble-minded in the medical sense. He has written a really beautiful letter, a poem in itself, to the court missionary of the Reformed Priests’ Protection Society which clears up everything. He is practically a total abstainer and I can affirm that he sleeps on a straw litter and eats the most Spartan food, cold dried grocer’s peas. He wears a hairshirt winter and summer and scourges himself every Saturday. He was, I understand, at one time a firstclass misdemeanant in Glencree reformatory. Another report states that he was a very posthumous child. I appeal for clemency in the name of the most sacred word our vocal organs have ever been called upon to speak. He is about to have a baby.

(General commotion and compassion. Women faint. A wealthy American makes a street collection for Bloom. Gold and silver coins, bank cheques, banknotes, jewels, treasury bonds, maturing bills of exchange, I.O.U.s, wedding rings’ watch-chains, lockets, necklaces and bracelets are rapidly collected.)

BLOOM O, I so want to be a mother.

MRS THORNTON (In nursetender’s gown) Embrace me tight, dear. You’ll be soon over it. Tight, dear.

(Bloom embraces her tightly and bears eight male yellow and white children. They appear on a redcarpeted staircase adorned with expensive plants. All are handsome, with valuable metallic faces, wellmade, respectably dressed and wellconducted, speaking five modern languages fluently and interested in various arts and sciences. Each has his name printed in legible letters on his shirtfront: Nasodoro, Goldfinger, Chrysostomos, Maindorée, Silversmile, Silberselber, Vifargent, Panargros. They are immediately appointed to positions of high public trust in several different countries as managing directors of banks, traffic managers of railways, chairmen of limited liability companies, vice chairmen of hotel syndicates.)“ (1798–1832)

Dann sind wir wieder im Bordell, wo das ganze Kapitel spielt, die anwesenden Damen und ihre körperlichen Vorzüge werden beschrieben, was mich genervt hat, aber immerhin ist Stephen wieder da, dem ich so gerne folge. Und dann singt eine Motte ein Lied, das mich rührte, warum auch immer:

„I’m a tiny tiny thing
Ever flying in the spring
Round and round a ringaring.
Long ago I was a king,
Now I do this kind of thing
On the wing, on the wing!
Bing!“ (2469–2475)

„Long ago I was a king / Now I do this kind of thing“ fand ich sehr schön und gleichzeitig sehr traurig. (Ja, es ist eine Motte, schon gut. Trotzdem.)

Ich beendete das Kapitel bei circa Zeile 2700; auf mich warten noch ungefähr 2300. Die Drogen, die Joyce bei diesem Kapitel eingenommen hat, will ich auch.