Tweet 1606 vom 20.9.: Reichstag – check! Checkpoint Charlie … äh … check! Jetzt „Tropic Thunder“ gucken.

Jetzt bin ich mit Unterbrechungen bereits seit Mai in Berlin gebucht und habe noch nicht so wahnsinnig viel von der Stadt gesehen. Das muss anders werden. Also bin ich dieses Wochenende nicht nach Hamburg zum Kerl gefahren, sondern lege ein Singlewochenende in Berlin ein. Nein, ich gehe nicht auf wilde Partys und trinke zuviel. Viel besser: Ich guck mir unser Parlament an.

Es gibt mehrmals täglich Führungen im Reichstag (dessen Haltestelle im Bus übrigens „Reichstag/Bundestag“ heißt, was ich sehr lustig fand), für die man sich anmelden muss. Man kann aber auch auf gut Glück vorbeigucken und hoffen, dass vielleicht jemand verschlafen hat und es noch ein Plätzchen für einen gibt. So zuckelte ich gestern erst mit der Tram M4 zum Alexanderplatz, stieg da in den 100-er Bus und kam um kurz vor halb elf am Reichstag an, vor dem sich schon eine geschätzt 100 Meter lange Schlange von Menschen befand, die alle in die Kuppel klettern wollten.

Auf die Führung musste ich nicht so lange warten, denn ich hatte Glück: Jemand hatte verschlafen, und ich durfte mit rein. Bei der Sicherheitskontrolle wurde ich gebeten, die Mütze abzunehmen – und sie im gesamten Gebäude nicht wieder aufzusetzen: „Wie in der Kirche.“ Da ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass ich auch in der Kirche immer die Mütze auflasse. Nun gut. Das ändere ich dann jetzt auch.

Nach einer kleinen Wartezeit am Fahrstuhl ging es auf die Besucherebene des Plenarsaals. Dort verteilten wir uns auf den Besuchertribünen – und ich fand es auf einmal total aufregend, im Bundestag zu sitzen. Das ist mir nachher beim Bummel durchs Regierungsviertel nochmal aufgefallen: Wie großartig ist es bitte, dass wir einfach so der Regierung beim Arbeiten zugucken können? Wir können 40 Meter entfernt von der Bundeskanzlerin sitzen und zuhören. Wir können uns allen (?) Regierungsgebäuden einfach so nähern und gucken. Demokratie rockt, Baby.

Unsere Führerin hat uns dann ausgesprochen launig eine knappe Stunde etwas über das Reichstagsgebäude erzählt, die Architektur, die Geschichte („Der Reichstag wurde größtenteils aus Reparationszahlungen Frankreichs aus dem verlorenen Krieg 1870/71 gebaut. Das freut unsere französischen Besuchergruppen immer sehr.“), die verschiedenen Funktionen, die das Haus während und nach dem zweiten Weltkrieg hatte („Der Reichstag wurde teilweise sogar als Entbindungsstation genutzt. Es kommen ab und zu Besucher her, die zusätzlich zu ihrem Personalausweis noch ihr Stammbuch dabeihaben, in dem vermerkt steht, dass sie hier geboren wurden. Das bringt Ihnen im richtigen Leben zwar nichts, aber es kann Sie durchaus mal in eine ausgebuchte Führung bringen, wenn Sie sagen können, Sie sind von hier.“) und über den Umbau nach der Wende („Sir Norman Foster wollte überhaupt keine Kuppel bauen, wurde aber per Ausschussbeschluss dazu gezwungen. Heute ist die Kuppel eins der meistbesuchten Ziele Berlins.“).

Und auf eben diese Kuppel durften wir dann nach der Stunde im Plenarsaal auch. Leider nirgends anders mehr im Haus, was mich doch etwas enttäuscht hat – aber vielleicht ist das wieder eine andere Führung. Muss ich mich mal schlaumachen. Ich fand den Blick vom Reichstagsdach viel spannender als den aus der Kuppel, weil man nicht dauernd Streben oder Spiegel im Sichtfeld hat. Man kann einmal komplett um die Kuppel gehen und hat eine wirklich beeindruckende Aussicht über die ganze Stadt. Das Brandenburger Tor sieht im Vergleich sehr winzig aus; das Sony-Center mit seinem markanten Dach ragt wie ein Ufo aus dem sehr, sehr grünen Tiergarten hervor, direkt nebendran steht die Siegessäule, ach und guck, da ist der Hauptbahnhof … ich war ein standesgemäß beeindruckter Touri und hab mich sehr gefreut, dass ich die Führung mitmachen konnte.

Bevor man auf den Rundgang in die Kuppel geht, kann man am unteren Ende des Spiegeldingensda noch ein paar Schautafeln angucken, an denen Fotos aus der wandelvollen Zeit des Reichstags zu sehen sind. Die Eröffnung, einige Sitzungen in der Weimarer Republik, Reichstagsbrand (der „nur“ den Plenarsaal und die Glaskuppel zerstörte), das Hissen der Flagge der Sowjetsoldaten, Popkonzerte direkt an der Mauer – und dann der 9. November 1989. Ich wusste schon vorher, dass ich eine weinerliche Memme bin, wenn’s um die Wiedervereinigung geht; jedesmal, wenn ich den Fernsehausschnitt mit Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft sehe, ist bei mir alles vorbei, da heule ich auf Knopfdruck. Gestern durfte ich feststellen: Das geht auch durch Schwarzweißfotos vom Reichstag. Vielleicht war es das Bewusstsein, gerade an einem historischen Ort zu stehen, vielleicht war es die fotografische Reise, die auf diesen Tag zulief, keine Ahnung. Jedenfalls war ich bei den letzten Fotos arg damit beschäftigt, mich lautstark zu schneuzen und nicht zu auffällig zu flennen. (Willy Brandt eröffnet als ältester Abgeordneter die erste gesamtdeutsche Sitzung – wääääh!)

Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, bin ich an der Spree entlang zum S-Bahnhof Friedrichstraße gegangen (wo übrigens Lush ist, yay). Von dort aus fuhr die S-Bahn zur Kochstraße/Checkpoint Charlie.

Ich erinnere mich, dass wir damals auf Klassenfahrt vor der Wende auch zum Checkpoint Charlie gefahren sind. Ich weiß allerdings nicht mehr, ob es damals dort diese komischen Aussichtsplattformen gab, die es z.B. am Potsdamer Platz gab, von denen man in den Ostsektor gucken konnte. Ich bin mir fast sicher, dass dort welche standen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, dass wir drauf waren. An das Museum erinnere ich mich aber; das ist heute etwas größer als damals, aber noch genauso bedrückend.

Den Checkpoint selber allerdings fand ich sehr, sehr seltsam. Die Holzbude des eigentlichen Checkpoints steht mitten auf der Friedrichstraße. Darum führt ganz normal der Autoverkehr. Und auf dem Bürgersteig steht eins der Schilder, die für mich bis 1989 Berlin bedeutet haben: You are leaving the American sector. Es hat sich sehr unheimlich angefühlt, diesem Schild wiederzubegegnen. Im Museum ist das Schild ebenfalls zu sehen; ich nehme fast an, dass das das Original ist und unten auf dem touristenüberfüllten Bürgersteig, vor dem Reisebuss en masse parken, nur eine Kopie.

Was ich überhaupt nicht in meinen Kopf reingekriegt habe: dass sowohl die Holzbude als auch das Schild nur noch simple Fotostopps sind. Es ist nichts mehr zu sehen, keine Linie zeigt den ehemaligen Grenzverlauf an, es sieht aus wie eine normale Straßenkreuzung, stilecht mit Balzac, Starbucks und Subway, und nicht wie ein Platz in Berlin, an dem sich zwei Weltmächte so dicht wie sonst nirgends gegenübergestanden haben. Vor der Bude steht ein Flaggenmast mit der amerikanischen Flagge – und eine Praktikantin in einer alten US-Uniform, mit der man sich gegen Geld fotografieren lassen kann. Und damit nicht genug: Zehn Meter neben einem Original-DDR-Grenzpfosten, der deutlich auf Westseite steht und damit nicht mehr am Originalplatz (und so auch nur noch Kulisse ist), steht ein Souvenirkarren, an dem man DDR-Nummernschilder, NVA-Zeug und russische Militärmützen kaufen kann. Gerne auch Shirts mit CCCP drauf.

Ich hab ja so gar nichts gegen Merchandising. Wenn ich wüsste, was ich damit soll, würde ich nach jedem Pixarfilm zehn Happy Meals kaufen, um alles Plastikspielzeug, was drin ist, zu kriegen. Aber dass ausgerechnet am Checkpoint Charlie Devotionalien aus der ehemaligen Sowjetunion verkauft werden, fand ich mehr als geschmacklos. Aber ich glaube, ich war die einzige Besucherin, die das irgendwie komisch fand. Ich habe um mich herum nur fremde Sprachen gehört, und für ausländische Besucher ist es wahrscheinlich auch nur ein exotisches Fotomotiv. Ich fand’s scheiße.

Mir ist erst danach aufgefallen, wie wenig man noch erkennen kann, wo mal Ost- und wo West-Berlin war. Ich erinnere mich daran, dass man in der Friedrichsstraße das Visum und den Pass vorzeigen musste, bevor man nach oben auf die Gleise zur S-Bahn durfte, um nach Ost-Berlin zu fahren. Aber wo genau verlief die Grenze? Die Agentur, in der ich gerade sitze, residiert in Mitte, und manchmal gucke ich aus dem Fenster, sehe den Fernsehturm und denke: Ach Mensch, du bist ja im Osten. Wie cool ist das denn. Wenn ich mit dem Bus am Palast der Republik vorbeifahre, frage ich mich immer, warum er so komplett dem Erdboden gleichgemacht werden muss. Im Mai, als ich das erste Mal da war, konnte man noch erkennen, dass es ein Gebäude war; man sah noch Stahlträger, die mal das Dach oder die Stockwerke bildeten und konnte sogar noch einen Grundriss erahnen. Gestern habe ich nur noch sechs oder acht Betonsäulen gesehen, die vielleicht mal Treppenhäuser waren. Mehr ist nicht mehr zu sehen. Ich wette, wenn ich hier im Dezember meine Zelte abbreche, ist er völlig verschwunden – und damit ein sehr wichtiger Teil der deutschen Geschichte.

Ich kann es nicht nachvollziehen, dass so wenig vom Grenzverlauf übriggeblieben ist. Klar, gerade hier in Berlin könnte man wahrscheinlich alle 20 Meter eine Gedenktafel für irgendwas anbringen, und es ist ja auch großartig, dass die Stadt irgendwie einfach da weiter macht, wo sie 1961 gezwungenermaßen aufgehört hat. Vielleicht ist es auch nur die Tatsache, dass ich eben nicht aus Berlin komme und daher bewusst nach Spuren der Teilung suche, während die Berliner ganz froh darüber sind, dass sie nicht da sind. Keine Ahnung. Mich hat der gestrige Tag jedenfalls sehr bewegt, und ich musste daran denken, dass ich damit erwachsen geworden bin, zwei Deutschlands zu kennen. Und wie unglaublich dankbar ich dafür bin, heute nur noch eins zu haben.