Was schön war, Sonntag/Montag, 7./8. Mai 2017 – Laufen, Kunstgucken, Lesen

Sonntagmorgen ging ich wieder laufen bzw. gehen. Ausnahmsweise war ich ganz alleine auf der Strecke, und so begann ich, ganz in Ruhe meine Runden zu drehen, ohne darauf achten zu müssen, ob von hinten ein schnellerer Mensch ankommt, während ich gerade eine Pfütze umrunde. Spotify spielte mir die gesamten melancholischen 80er-Jahre-Songs der Welt vor, es wurde heller und heller, aus der dunklen, grünen Gasse, die am Anfang meiner Läufe/Gänge auf dem alten Nordfriedhof liegt und die ich so mag in ihrer gefühlten Unendlichkeit, wurde eine freundliche Parklandschaft, und ich ging und ging, ein schwarzes Eichhörnchen lief vor mir über den Weg, ein anderes erklomm einen Baum und ich sah ihm zu, bis ich es oben in den Blättern nicht mehr sehen konnte, und ich ging und ging, es begann leicht zu nieseln und hörte wieder auf, ich lief zwischendurch ein wenig, ich las Grabsteine und bewunderte Statuen, und ich ging und ging und ging einfach weiter, obwohl ich die Strecke, die ich mir vorgenommen hatte, schon erlaufen hatte, weil die Musik so gut war, das Wetter genau meins, mir nichts wehtat und mein Kopf immer leerer wurde, bis dieser eine Moment kam, in dem alles klar vor mir lag, wo ich mir keine Sorgen mehr machte um meine Zukunft und die Miete und die Masterarbeit, weil ich wusste, dass gerade alles gut war und alles gut werden würde, und ich ging und ging und ging irgendwann sehr ruhig und glücklich nach Hause.

Um 11 saß ich mit F. in der Pinakothek der Moderne, wo wir uns im Rahmen des Dokfestes Beuys anschauten. Der Saal war sehr gut gefüllt, was mich etwas überraschte; ich hätte nicht gedacht, dass Beuys so zieht. Das Publikum war ungefähr das, was auch in meinen Kunstgeschichtsvorlesungen saß – überwiegend über 60 –, und genau wie dort wunderte ich mich auch hier über viele Lacher im Publikum, wenn sperrige Werktitel von Beuys genannt wurden oder Ausschnitte aus seinen Performances zu sehen waren. Ich hatte vorausgesetzt, dass diese Titel und Arbeiten 30 Jahre nach dem Tod des Künstlers allmählich zur Allgemeinbildung gehörten und selbst wenn nicht, sie kein Grund zur Belustigung waren. F. und ich waren uns einig, dass Lachen auch ein Zeichen von Unsicherheit sein kann – und gerade bei Beuys steht man ja gerne vor Vitrinen und Räumen und weiß nicht so recht, was diese Dinge jetzt von einem wollen. Genau das mag ich aber an Beuys; er war der Künstler, bei dem ich mir abgewöhnt habe, Kunst verstehen zu wollen. Mit Beuys konfrontiere ich mich gerne – besonders im Lenbachhaus – und gucke einfach, was mit mir passiert.

Der Film ist keine Biografie, sondern macht das ähnlich: Er präsentiert Ausschnitte und Versatzstücke von Beuys und überlässt es der Zuschauerin, was sie damit anfangen möchte. Eingebettet ist alles in ein Zitat von Beuys, in dem er sagt, dass seine Kunst nur im Zusammenspiel mit der Gesellschaft geschieht; seine Aufgabe ist es, Fragen zu beantworten, die die Gesellschaft hat, ohne diese Fragen wäre seine Kunst nichts. (Ich hoffe, ich habe das halbwegs richtig paraphrasiert.) Deswegen ist ein großer Teil im Film auch den 7000 Eichen in Kassel gewidmet, was ich sehr clever fand.

Mir war der Film einen Hauch zu lang, und ich persönlich hätte gerne mehr von den Diskussionen um Kunst erfahren, die in den 1960er, 1970er Jahren stattfanden, aber das wäre dann ein anderer Film geworden. Bei einer Szene zuckte ich aber doch schmerzlich zusammen: Wenn Beuys einem Interviewer erzählt, dass nach jedem seiner Fernsehauftritte irgendjemand bei ihm anruft, nur um „Idiot!“ oder „Arschloch!“ ins Telefon zu pöbeln. F. und ich mussten an Leute im Theater denken, die nach Vorstellungen, die ihnen nicht gefallen haben, unbedingt Buhrufe loswerden müssen anstatt einfach zu gehen. Diese Hybris, dass die eigene Meinung so wichtig – und vor allem richtig – ist, dass sie jemandem lautstark mitgeilt werden muss, der diese Meinung nicht teilt, ist so anstrengend. Und meiner Meinung nach auch ein Zeichen von Unsicherheit. Da ist plötzlich etwas, das über mein Verständnis, über meine Kenntnis hinausgeht, das an irgendwas reibt und kratzt und dafür sorgt, dass ich mich unwohl fühle. Dann habe ich die Möglichkeit, am Verständnis oder an der Unkenntnis zu arbeiten, indem ich googele oder in eine Bibliothek gehe oder mich mit anderen Menschen austausche. Oder ich pöbele doof und beschränkt in Kommentarspalten oder Theatersälen rum, das geht natürlich auch.

PS: Die Kritik im Perlentaucher meint auch, dass man nach dem Film sofort was über Beuys lesen möchte (ging mir auch so), weiß aber außerdem viel zum Urheberrecht zu sagen, das für Regisseur Andres Veiel auch Thema war. Einige der Bilder, Werke oder Ausschnitte, die er für seine Erzählung haben wollte, durfte er nicht verwenden, weswegen er vieles umschneiden musste. Ich augenrolle immer härter, wenn es um Bildrechte geht.

Nach dem Film spazierten wir noch durch die Pinakothek, wenn wir schon mal da waren. Ich sagte meinem Kiefer (Nero malt, 1973) Guten Tag, lief wieder auf Carl Andre herum (ich gehe so gerne auf Kunst spazieren, wenn ich darf) und vermisste meinen Lieblingsflavin, der gerade einer Installation von Pipilotti Rist weichen musste. Dann guckte ich online, ob von Herrn Lüpertz vielleicht was zu sehen war, fand aber nichts. Immerhin weiß ich jetzt, dass die Pinakotheken auch eine Version der Helme, sinkend – dithyrambisch haben, was ich vorher nicht wusste. Die hätte ich gerne mal gesehen, denn über die schreibe ich gerade (auch). Dass sie nicht hängen, bestätigt mein leise gefälltes Urteil über Lüpertz, aber das kann natürlich auch nur eine Platzfrage sein.

Wir standen am längsten vor Antonio Sauras Triptychon Crucifixión – darüber hat F. geschrieben.

Den Rest des Tages fraß ich mich weiter durch A Little Life (wie Samstag) und setzte das den kompletten Montag über fort. Die Masterarbeit muss warten, bis ich das Buch durchgelesen habe. Prioritäten! Im Kopf steht eh alles, das schreib ich jetzt einfach runter. Ich bin seit Sonntagmorgen tiefenentspannt.