Tagebuch, Samstag, 21. Januar 2017 – Marchin’ on

Was schön war:

Gleich morgens einen wundervollen Artikel gelesen, den die Kaltmamsell gestern in ihrem Blog empfohlen hatte. Nehmt euch mal bitte 20 Minuten, die lohnen sich. Es geht um die Post von Bürgern und Bürgerinnen an den Präsidenten und was mit ihr passiert. Barack Obama hatte von Anfang an die Direktive ausgegeben, er wolle zehn Briefe pro Tag lesen. Im Artikel wird beschrieben, wie diese Auswahl – aus 10.000 am Tag – getroffen wird, es folgen Beispielschreiben, und es geht um die Menschen, die Briefe verfassen und diejenigen, die sie lesen.

Mein erster Gedanke war: „OMG was für Quellen!“ Was könnte man die schön auswerten! Worüber schrieben die Menschen in den ersten 100 Tagen, worüber in den letzten, worüber dazwischen? Wer schreibt was, in welcher Länge, in welchem Medium? Und natürlich: Welche Themen bleiben konstant, welche ändern sich? Ein bisschen wie die Auswertungen, die Google am Jahresende veröffentlicht: Nach welchen Begriffen hat die Welt im letzten Jahr gesucht? Nur eben mit echten Menschen und echten Anliegen.

Im Artikel wird auch angesprochen, wie die vielen Briefe sich auf die Freiwilligen auswirken, die sie lesen. Ein Satz fällt: “I never thought about how powerful a letter was.” Genau das habe ich die letzten Wochen auch dauernd gedacht, als ich mich mit Amnesty beschäftigt habe.

„Presidents have dealt with constituent mail differently over the years. It started simply enough: George Washington opened the mail and answered it. He got about five letters a day. Mail back then was carried by foot, or on horseback or in stagecoaches — not a high volume. Then came steamboats, then rail and a modernized postal system, and by the end of the 19th century President William McKinley was overwhelmed. One hundred letters every day? He hired someone to help, and that was the origin of O.P.C. It wasn’t until the Great Depression that things got especially tricky. In his weekly fireside chats, Franklin D. Roosevelt began a tradition of speaking directly to the country, inviting people to write to him and tell him their troubles. About a half-million letters came pouring in during the first week, and the White House mailroom became a fire hazard. Constituent mail grew from there, and each succeeding president formed a relationship with it. By the end of his presidency, Nixon refused to read anything bad anyone said about him. Reagan answered dozens of letters on weekends; he would stop by the mailroom from time to time, and he enjoyed reading the kid mail. Clinton wanted to see a representative stack every few weeks. George W. Bush liked to get a pile of 10 already-answered letters on occasion. These, anyway, are the anecdotal memories you find from former staff members. Little hard data exists about constituent mail from previous administrations; historians don’t focus on it, presidential libraries don’t feature it; the vast majority of it has long since been destroyed.“

So viel zu den schönen Quellen. Snif.

Ich habe den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen und bin jetzt mit meiner Amnesty-Hausarbeit sehr zufrieden. Die lasse ich jetzt einen Tag liegen und gucke dann noch mal drauf, aber ich bin zuversichtlich, dass sie nächste Woche zur geschätzten Korrekturleserin kann. *wink*

Abends fuhr ich mit dem Bus zu F. und lauschte an der Bushaltestelle zwei Mädchen, die sich über Essen unterhielten (die Tätigkeit, nicht die Stadt). Dabei fiel der vermutlich beste Grund für Vegetarismus:

„Ich ess ja voll wenig Fleisch.“
„Echt, wieso?“
„Ich komm nicht dazu.“

An der Station vor meiner stieg eine junge Dame aus dem Bus, die eine schwarze Wollstrumpfhose trug, auf die laute bunte Eulen gestickt waren. Musste sofort an Frau Schüssler denken. Ich mag das, wenn mein tägliches Rumgucken mich an Menschen erinnert, die ich noch nie getroffen habe.

Und dann natürlich: die vielen Frauenmärsche auf der ganzen Welt, aber vor allem in den USA. Angeblich war das der größte Protestmarsch in der Geschichte der Vereinigten Staaten (Quelle 1, Quelle 2), aber ich hätte dazu gerne noch aus anderen Quellen eine Bestätigung.

Ich hätte nicht gedacht, wie gut es nach der für mich immer noch unfassbaren Vereidigung Trumps tat, an der gleichen Stelle deutlich mehr Menschen zu sehen, die für so ziemlich das Gegenteil von allem protestieren, was Trump ausmacht.

Hier ein paar Bilder, die ich mir in den nächsten vier Jahren hoffentlich noch öfter angucken kann. Oder hoffentlich nicht – Impeachment kann für mich nicht schnell genug kommen.

Die Bilder sind allerdings auch der Grund, warum die Überschrift zu diesem Eintrag nicht „Was schön war“ lautet, sondern „Tagebuch“. Denn gestern fand auch die erste offizielle Pressekonferenz statt, die ihren Namen nicht verdiente. Der neue Pressesprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer, trat vor die Presse, beschimpfte sie, log größtenteils wie gedruckt, zum Beispiel was die Größe der Menschenmenge bei der Inauguration anging, sagte nichts zu den ganzen Protesten vor seiner Haustür und ging, ohne eine einzige Frage beantwortet zu haben. CNN übertrug die Konferenz bewusst nicht live, sondern setzte sich erst mit dem Gesagten auseinander. Das klingt für mich nach einer guten Taktik für die nächsten vier Jahre. (Bitte lass es keine acht werden.) Außerdem können wir den Scheißspruch „Gebt der neuen Regierung doch erstmal eine Chance“ jetzt auch einmotten. Die Chance hat sie gleich am ersten Tag grandios verspielt.