Tagebuch, Montag, 19. Dezember 2016 – Buchtipps zwischen den Zeilen

Vormittags Mails erledigt und Zeug geordnet, bevor ich um 12 zum Rosenheim-Seminar gehen wollte. Um kurz nach 11 klingelte aber mein Handy und einer der Amnesty-International-Kontakte, die ich vom Bezirk empfohlen bekommen hatte, rief mich an. Er engagiert sich seit Jahrzehnten in der CAT-Gruppe (Campaign for the Abolition of Torture), die mich besonders interessiert, weil die Kampagne gegen Folter die erste große, weltumspannende von AI war. Er meinte zwar, dass die Unterlagen, die ich suche, eher in Berlin (dem Sitz des Vorstands der deutschen AI-Sektion) lägen, aber er lud mich zu einem Treffen ein, auf dem er mir vielleicht noch Tipps geben könnte. Natürlich sagte ich zu und bin sehr auf morgen gespannt.

Im Rosenheim-Seminar hörte ich ein Referat über Maria Caspar-Filser, von der ich leider nicht viel wusste; mir war eher ihr Mann Karl Caspar ein Begriff, der in den 1920er Jahren seine Lehrtätigkeit an der Münchner Akademie der Bildenden Künste begann – er galt als „Moderner“, während der Rest des Lehrkörpers das gerade nicht war; das damalige Durchschnittsalter lag bei über 70 Jahren und viele lehrten das, was sie selbst früher als Künstler geschaffen hatten. (Nebenbei: Wer mehr über die Akademie wissen möchte, könnte mal in dieses empfehlenswerte Buch schauen.)

Die Rosenheimer Galerie besitzt nur ein Bild von Caspar-Filser aus den 1950er Jahren und wir diskutierten, ob wir es in unsere Ausstellung aufnehmen wollten, die möglichst ohne Leihgaben auskommen soll. Unser zu behandelnder Zeitraum liegt zwischen 1920 und 1960, daher würde es passen, und es argumentierten mehrere Kommilitoninnen, dass sie die erste Frau wäre, die wir im Repertoire hätten, weswegen sie sie zeigen wollten. Ich sah das ähnlich; Caspar-Filser malte zur NS-Zeit weiter, allerdings im Verborgenen, womit wir auch den Punkt „Innere Emigration“ zeigen könnten, den wir bei den Jungs, soweit ich das bisher übersehen kann, noch nicht haben.

Nach der Uni ging ich zum Weihnachtsbaumstand, an dem ich letztes Jahr meinen ersten Münchner Baum gekauft hatte. In diesem Jahr war ich recht spät dran, weswegen die ganzen richtig schönen Bäume schon weg waren. Der Stand sah schon sehr zerrupft aus, aber ich erinnerte mich daran, wie gut mir damals das kurze freundliche Gespräch mit der Verkäuferin getan hatte und daher wollte ich partout hier einen Baum kaufen und nicht 200 Meter weiter beim anderen Stand. Ich verstand den diesjährigen Verkäufer zwar kaum, weil er so fies bayerte, und einen perfekten Baum fand ich auch nicht, aber einen, der mir sofort gefiel, obwohl er ein bisschen krumm war und ein paar Äste wild abstanden. Einwickeln lassen, bezahlt, die Arbeitshandschuhe angezogen, den Baum zur nächsten Bushaltestelle getragen und mich nach Hause schaukeln lassen.

Dort stellte ich den Baum ab und griff mir das Weihnachtspäckchen für mein Patenkind. Mit der U-Bahn fuhr ich in die Nähe des ehemaligen Mitbewohners, denn für den sollte ich was erledigen und dafür musste ich in seine Wohnung. Also nutzte ich die Post bei ihm um die Ecke und stellte mich auf 30 Minuten Wartezeit in der Schlange ein (für sowas hat man immer ein Buch dabei). Aber: Es waren gerade mal drei Menschen vor mir, es ging gefühlt blitzschnell, der Postmensch war freundlich, ich auch, alles prima. Das war bestimmt Karma, weil ich den krummen Baum gekauft hatte. (Anne Lamott sieht in solchen Details kleine Akte Gottes. Ich sehe darin Dinge, die schön sind und die ich ins Blog schreibe. Es ist egal, wie man solche Begebenheiten nennt, aber in ihrer Masse sorgen sie dafür, dass ich nicht an diesem Jahr verzweifele, in dem Vernunft und Menschlichkeit anscheinend gerade mal ne Pause einlegen.)

Für den ehemaligen Mitbewohner brachte ich dann Kram in die Stadtbücherei zurück, den der Mann vergessen hatte abzugeben; er ist schon nicht mehr in der Stadt, weswegen ich das übernahm. Aus der Stadtbibliothek am Gasteig, in der ich immer ausleihe, kannte ich folgendes, total futuristisches System der Abgabe: Man legt sein Buch, seine CD, sein wasauchimmer auf ein kleines Förderband, von wo es gescannt wird (Artikel erscheint auf dem Bildschirm) und von alleine in den Tiefen der Bibliothek verschwindet. In der Filiale des Mitbewohners gab es nur einen Scanner, den ich eher von der Ausleihe kannte: Man hält sein Buch, seine CD, sein wasauchimmer unter einen Scanner, die Anzeige erscheint auf dem Bildschirm und man darf das Zeug mitnehmen. Hier klickt man erst auf „Rückgabe“, scannt dann … äh … und dann wusste ich nicht, wohin mit dem Zeug. Kein fancy Förderband! Ich guckte ein bisschen doof in der Gegend rum, bis ich den Korb neben dem Scanner sah, an dem ein Zettel hing „Rückgebuchte Bücher hier ablegen“ oder so ähnlich. Sehr schön. Abgelegt und fertig.

Danach wollte ich eigentlich noch in die Stabi und die UB, jeweils ein Buch abholen, aber ich hatte keine Lust mehr auf Rumrennen. So fuhr ich nach Hause, stellte den Baum auf und las den Rest des Tages schlaue Bücher. Abends schaute ich kurz bei Twitter rein und sah, was in Berlin passiert war, woraufhin ich Twitter wieder schloss. Ich weiß, dass jede*r diesen Dienst anders benutzt, aber ich weiß inzwischen auch, dass er für mich bei aktuellen politischen Ausnahmesituationen völlig unbrauchbar geworden ist. Vermutungen, Tweets gegen Vermutungen, die ersten Lästertweets über „Je suis Berlin“, tausend Retweets der Berliner Polizei, Aufregung über die Medien, die genauso hysterisch sind wie Twitter, und das alles in einer Minute. Bei der Schießerei in München waren wenigstens einige Tweets für mich wichtig, weil ich in der Stadt war, in der es passiert. Gestern war es das nicht. Auf Facebook geguckt, ob meine Hasis in Sicherheit sind, Twitter ausgemacht, schlafen gegangen.