Tagebuch, Freitag, 22. Juli 2016

Ich saß am Schreibtisch und beendete einen ewig langen Blogeintrag für heute. Vorhin hatte ich eingekauft, in meiner Küche lag frischer Lauch, auf den ich Lust gehabt hatte. So richtig hungrig war ich aber noch nicht, also zog ich ein paar Geschichtsbücher zu mir und arbeitete weiter an meiner Hausarbeit. Twitter lief nebenbei, wie immer, ab und zu blickte ich auf und guckte in den Stream – und irgendwann hatte ich dauernd den Hashtag #OEZ in der Timeline, es erschienen Eilmeldungen von einer Schießerei im Olympia-Einkaufszentrum, die Tweets liefen schneller durch als sonst. Auch die Polizei München twitterte; die habe ich seit der Schießerei im April fast direkt vor meiner Haustür im Feed.

Meine erste Reaktion: Amoklauf, kein Terrorismus. In meiner Timeline tauchte ein Video auf, das wegrennende Menschen zeigte. Jemand erwähnte, dass Facebook die Sicherheitsabfrage für München freigeschaltet hätte, also das Feature, mit dem man seinen Freund*innen mitteilen kann, dass es einem gut geht. Da war dann doch plötzlich der Gedanke da: Jetzt also auch bei uns. Jetzt also auch hier. Wann immer in den letzten Monaten Nachrichten von Terroranschlägen bei mir ankamen, veränderte sich für mich persönlich: nichts. (Außer dass ich daran dachte, als ich im Januar nach Paris flog.) Ich fühlte mich nicht unsicherer in meinem Alltag, und ich wüsste auch nicht, wie ich mich aktiv vor solchen Geschehnissen schützen sollte außer nur noch zu Hause zu bleiben, was schlicht keine Option ist, und ich will auch nicht, dass es eine ist. Wie scherzen wir seit Jahren und Antville: „Jetzt haben die Terroristen gewonnen.“ Das werden sie nie, auch wenn wir alle zuhause bleiben.

Aber jetzt klickte ich doch auf den Facebooklink und markierte mich als sicher und im Home Office, gut fünf Kilometer vom Einkaufszentrum entfernt. Die ersten „Gefällt mir“ waren nach Sekunden da. Mein Handy klingelte; meine Schwester hatte im Radio von der Situation in München gehört, sie war gerade im Auto unterwegs und wollte wissen, ob alles okay sei. Ich sagte ja, beruhigte sie, und rief meine Eltern an. Die wussten als internetlose Menschen, bei denen auch nicht dauernd das Radio lief, natürlich noch von nichts, freuten sich, als ich anrief, aber eben nicht, weil es mir gut ging, sondern weil ich anrief. Ich erzählte kurz von einem Amoklauf, ich sagte bewusst nicht Terroranschlag, denn so kam mir diese Begebenheit nicht vor, sagte, dass alles okay sei, ich nicht vor die Tür gehen würde, alles gut.

Inzwischen fuhr der öffentliche Personennahverkehr nicht mehr, die halbe Stadt schien mit Menschen voll, die nicht nach Hause kamen, erstens weil der ÖPNV nicht fuhr, zweitens weil die Polizei darum bat, öffentliche Plätze zu melden. Die ersten Tweets mit #offenetür, #opendoor, #porteouverte tauchten in der Timeline auf. Gerade den letzten Hashtag kannte ich nur aus Paris und finde die Idee immer noch großartig, dass man in der Stadt gestrandeten Menschen Zuflucht bieten kann. Eine sehr entfernte Bekannte von mir twitterte, sie säße mit acht weiteren Menschen in einem Treppenhaus zwischen Marien- und Odeonsplatz fest, ich retweetete ihren Aufruf, sie twitterte eine Stunde später, sie seien alle in Sicherheit und löschte den Tweet. Mich irritierte, dass ich die ganzen Stadtteil- oder Straßennamen kannte; bei den Pariser Anschlägen hatte sich alles sehr fiktiv angefühlt, weil ich nichts mit diesen Namen verbunden hatte außer mit sehr wenigen Plätzen, die ich in Paris kannte, Metrostationen, Sehenswürdigkeiten. Jetzt war alles direkt vor meiner Haustür, an Orten, an denen ich täglich bin (aus der LMU oder der Uni-Bibliothek meldeten sich Menschen, die festsaßen) oder an denen ich dauernd vorbeifahre. Ich las aber auch, dass Kirchen und Moscheen ihre Türen öffneten, irgendwann die bayerische Staatskanzlei (mit Polizeischutz, wurde im Tweet erwähnt) und viele Hotels. Ein Hotel twitterte allerdings, dass es niemanden aufnehme, dass nur Gäste reinkämen, die sich ausweisen könnten. Ich konnte beide Seiten verstehen, vor allem, weil die Polizei von bis zu drei Tätern ausging, die bewaffnet auf der Flucht waren. Taxen wurden aufgefordert, niemanden von der Straße aufzulesen, was es vielen vermutlich noch schwerer machte, nach Hause zu kommen.

Ich klickte irgendwann in den Livestream der Tagesschau und hielt es ungefähr 30 Minuten aus, dem hilflosen Rumstammeln und Wiederholen von Vermutungen zuzuschauen. Während auf Twitter die Polizei München besonnen dazu aufrief, keine Bilder oder Videos zu verbreiten, wurden sie hier munter ausgestrahlt. Ich las den ganzen Abend keine einzige Spekulation über den oder die Täter, ihren Hintergrund, ihre Motive, nur Aufrufe an die Öffentlichkeit, wie sie sich bitte zu verhalten habe (weg von der Straße, zuhause bleiben), während die Medien hemmungslos wilde Theorien in den Raum stellten und von Panik in der Stadt berichteten. Gut, ich saß zuhause und war sehr unpanisch, ich kann nicht beurteilen, wie es draußen war, aber wenn ich die Medien mit meiner Timeline vergleiche, würde ich mir wünschen, aktuelle Berichterstattung bei unklarer Ausgangslage würde öfter von meiner Timeline gemacht und nicht von wildgewordenen Menschen mit Mikrofon und einem angeblichen Informationsauftrag. Denn der sollte meiner Meinung nach nicht darin bestehen, sinnlose Vermutungen rauszuhausen und genau das zu tun, worum die Polizei eben nicht bat.

Als klar wurde, dass niemand was wusste, bekochte ich mich selbst mit gebackenem Lauch und Hummus und channelte dabei Eva Hesses Repetition Nineteen. Dann guckte ich weiter dem Twitterstream zu, was ich bei … das ist jetzt eine seltsame Formulierung, die vielleicht ein schlechtes Licht auf mich wirft, weil sie mich gleichgültig erscheinen lässt, aber egal: … was ich bei anderen Anschlägen nicht tue. Dort sammeln sich für mich Informationen, die mir egal sind, und Vermutungen, die mir noch egaler sind – solange der Anschlagsort weit weg von mir ist. Jetzt saß ich aber quasi mittendrin, und daher guckte ich dann doch der Timeline zu anstatt sie bewusst wegzuklicken und erst am Morgen danach nachzulesen, was nun eigentlich passiert war.

Als nach 22 Uhr immer noch von Tätern auf der Flucht die Rede war, wurde mir allmählich mulmig, denn F., der olle Kulturmensch, saß in den Kammerspielen. Seine Begleitung war schon nicht mehr in die Stadt hineingekommen, er selbst war aber ins Theater gegangen. Dort wurden die Zuschauer*innen vor und nach der Veranstaltung auf die Situation hingewiesen, man könne vor Ort bleiben, dürfe aber natürlich auch gehen. F. verschanzte sich hinter einem Bier im Blauen Haus, schickte mir beruhigende SMSe – vermutlich war ich nervöser als er – und schrieb von einem „unbehaglichen“ Gefühl, klang aber trotzdem entspannt. Zweieinhalb Stunden nach Veranstaltungsende saß er immer noch an der Theke, hatte sein Geld für Bier ausgegeben (kein Taxi mehr drin, obwohl ich gar nicht weiß, ob gestern noch welche fuhren) und wollte einfach nach Hause. Über der Maxvorstadt kreisten seit gefühlt 15 Minuten mehrere Hubschrauber, was mich etwas nervös werden ließ (heute morgen las ich, dass die Wohnung der Eltern des Schützen in meinem Stadtviertel liegt und sie gestürmt wurde). Ich hockte inzwischen, total albern, wieder im fensterlosen Flur, wo ich auch während der Schießerei im April gesessen hatte und aktualisierte Twitter im Sekundentakt, um F. sagen zu können, ob er sich nach Hause trauen könne. Ich bat ihn, nicht auf die Straße zu gehen, aber mein Held Tobi Vega bot ihm an, ihn mit dem Auto abzuholen, machte sich aus Obermenzing in die Innenstadt auf und lieferte ihn heile zuhause ab. Meine DM an ihn enthielt vermutlich ein paar Emotionen und Herz-Emojis zu viel, aber ich war sehr froh, dass er F. in Sicherheit gebracht hatte. Nochmal danke dafür.

Damit fiel dann auch so ziemlich alle Spannung von mir ab. Ich fühlte mich ein bisschen memmig, einfach ins Bett zu gehen, aber ich hätte nicht gewusst, was ich sonst hätte tun sollen. Alle Menschen, die mir hier in München am Herzen liegen, hatten ihren Facebookstatus aktualisiert und sich als in Sicherheit markiert, was mich sehr beruhigte. Scheint doch was dran zu sein an diesem Feature. Ich hatte auch jemanden in meiner Timeline, die oder der schrieb, dass das Hubschrauberkreisen normal sei, da würde halt gesucht. Auch das beruhigte mich, obwohl ich den oder die Autor*in nicht kannte. Social Media beruhigte mich mehr als die Nachrichtenseiten, die ständig von Panik in der Stadt und Ausnahmezustand etc. schrieben, während in meiner Timeline die ersten Tweets auftauchten von Menschen, zu denen Unbekannte geflüchtet waren, die jetzt anscheinend halbwegs entspannt beieinander saßen und in Sicherheit waren.

Meine Gedanken heute morgen sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Ich frage mich, wie ich mich auch schon im April gefragt habe, wo die Waffen herkommen, die zur Tat benutzt wurden, und ich hasse das Gefühl, dass Waffenbesitz zunehmen könnte. Ich habe mich nirgends auf der Welt unsicherer als in den USA gefühlt, weil mir bewusst war, dass, überspitzt gesagt, jeder Menschen neben mir im Supermarkt eine geladene Waffe dabeihaben könnte. Mehr Waffen sorgen nicht für mehr Sicherheit, sondern verstärken nur das Gefühl der Unsicherheit. Genauso verstärken mehr Gesetze zur Überwachung und noch mehr idiotische Maßnahmen an Flughäfen das Gefühl der Unsicherheit, wo anscheinend auch ein problemlos zu mietender LKW als Tatwaffe ausreicht oder man auch in Zügen Bomben schmuggeln kann. Alter Hut, aber: Eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Gestern tauchte ein Tweet in meiner Timeline auf, der besagte, dass bei jedem Anschlag nicht strengere Gesetze erlassen, sondern stattdessen ein paar gestrichen werden sollten. Für mehr Freizügigkeit, für mehr Miteinander, für mehr offene Türen.

Mein heutiger Tag begann damit, die Geschehnisse der Nacht auf dem iPhone nachzulesen, während ich noch im Bett lag. Eine SMS von F. wünschte mir guten Morgen. Draußen sind keine Hubschrauber mehr zu hören, sondern die üblichen Autos und Anwohner. Ich müsste noch einkaufen gehen. Es fühlt sich alles wieder sehr normal an, und ich glaube, das ist okay so.

Christian Jakubetz schreibt: „Ich war an dem Abend beides, Betroffener und Journalist.“

Claus Kleber über die Arbeit der Öffentlich-Rechtlichen. (Am Tag vor dem Amoklauf geschrieben.)