Was seltsam war, Montag, 11. Juli 2016 – Stabigespräch

Ich saß morgens ab kurz nach 8 im Lesesaal der Stabi und wälzte Architekturbücher, bevor ich um 11 im Historicum sein musste. Mit den schönen Häuschen war ich schon gegen 10 fertig, danach suchte ich im Zeitschriftenlesesaal noch ein Heft, das im ZI gerade nicht im Regal war – war es hier leider auch nicht, muss ich doch bestellen. Es war kurz nach halb 11, aber ich wollte noch nicht ins unklimatisierte Historicum, wo die letzte Sitzung des Biografiekurses auf mich wartete. Also zerrte ich meine ganzen Klamotten aus dem Schließfach und setzte mich in die große Eingangshalle der Stabi, deren Türen geöffnet waren und wo ein schöner Luftzug herrschte, der bei 30 Grad Außentemperatur sehr willkommen war. Ich zog ein Buch aus dem Rucksack und begann zu lesen, als sich eine Frau neben mich setzte. Sie holte mehrere Bögen Papier aus ihrer Tasche, raschelte damit rum und fragte mich schließlich, ob ich eine Schere dabei hätte. Ich verneinte bedauernd und guckte wieder ins Buch. Und da meinte die Frau freundlich zu mir:

„Entschuldigung, wenn ich das so sage, aber wieso sind Sie so dick, wo Sie doch so hübsch sind?“

Mein erster Gedanke, den ich nicht aussprach, war BITTE WAS?!?, kombiniert mit der kurzen Ãœberlegung, der Dame mein Buch auf die Nase zu hauen. Stattdessen sagte ich:

„Ich finde nicht, dass sich dick und hübsch ausschließen.“

„Nein, natürlich nicht, da haben Sie recht. Ich wundere mich nur – Sie gehen so selbstbewusst durch die Gegend, obwohl Sie so dick sind. Darf ich fragen, warum Sie so dick sind?“

Wieder ein Gedanke, den ich nicht aussprach: Das ist jetzt was ganz anderes als das, was zu zuerst gesagt hast, Hase. Der erste Satz lag schön auf der Linie von dem, was meine Oma mir erzählt hat, seit ich 13 war: „Du könntest so hübsch sein, wenn …“, was ich damals schon, noch Jahre vor dem bewussten Reflektieren über meinen Körper und was er anscheinend über mich aussagt, als total unangemessen empfunden habe.

Was jetzt kam, war die erstaunte Bemerkung darüber, dass dicke Menschen anscheinend selbstbewusst sein können, was in einer Gesellschaft, die Fatshaming als Diätmotivierung ansieht, zugegebenermaßen nicht ganz einfach ist. Ich fühlte mich an Mindy Kaling erinnert, die das in ihrer Autobiografie schön aufgeschrieben hatte:

„When an adult white man asks me “Where do you get your confidence?” the tacit assumption behind it is: “Because you don’t look like a person who should have any confidence. You’re not white, you’re not a man, and you’re not thin or conventionally attractive. How were you able to overlook these obvious shortcomings to feel confident?”“

Diesen Quatsch hatte die Dame sich anscheinend auch gut gemerkt und nicht mehr angezweifelt. Aber zurück zur Frage, warum ich dick bin:

„Ich esse gerne.“

Sie lachte, ja, stimmt, das täte sie auch, aber sie hadere seit Jahrzehnten mit ihrem Gewicht, sie sei jetzt fast 50 und Diäten seien seit ihrer Jugend ein Thema und sie würde das toll finden, dass ich mit meinem Körper so locker umgehe.

Vielleicht sollte ich hier erwähnen, dass die Dame natürlich gertenschlank war. Mich macht es so wahnsinnig, dass nicht nur dicke Menschen sich diesen Selbsthass anerziehen, dieses Kleinermachen, dieses Verschwindenwollen, sondern auch Menschen, denen unsere Gesellschaft nicht dauernd sagt, dass sie sie unattraktiv und bäh findet. Wobei: Frauen mit 50 sind vermutlich auch schon raus, und ich weiß das nur noch nicht. Fragt mich in drei Jahren noch mal.

Ich wusste immer noch nicht, was dieses Gespräch sollte und vermutlich habe ich auch etwas entgeistert geguckt, aber ich dachte, hey, vielleicht kann ich hier positiv auf jemanden einwirken und beantwortete daher brav weiter ihre Fragen, wie ich denn zu dieser Lockerheit und diesem Selbstbewusstsein gekommen sei. Ehrlich gesagt, war mir das bis gestern gar nicht bewusst, dass ich anscheinend diese Ausstrahlung habe, vor allem nicht bei 30 Grad mit meiner üblichen „Ich muss gleich in die Uni!“-Grundhektik und Sonnencreme im Gesicht. Aber schön zu wissen.

Ich erzählte also vom Foodcoaching, das damals den Zweck hatte, mich dünner zu machen, aber stattdessen dafür gesorgt habe, dass ich seitdem Rezepte verblogge statt Filmkritiken. Ich erzählte davon, wie schön es sich angefühlt hat, für meinen Körper zu sorgen anstatt ihn scheiße zu finden und dass dadurch ganz unwillkürlich und ohne dass ich es darauf angelegt hatte, auch das Bewusstsein seiner Stärke und seiner ganz individuellen Attraktivität bei mir im Kopf angekommen sei. Seitdem denke ich nicht mehr darüber nach, dass ich dick bin. Ich weiß, dass ich es bin, aber es ist kein Thema mehr, das mich täglich belastet. Ich brachte auch meinen Standardsatz „Dicksein ist eine Körperform, keine Charaktereigenschaft“ und der gefiel ihr gefühlt sehr. Der schien auch die Frage nach dem Selbstbewusstsein zu beantworten, denn wieso soll mich eine Körperform davon abhalten, selbstbewusst zu sein?

Die Frau bedankte sich für das Gespräch und entschuldigte sich, falls sie zu aufdringlich gewesen war. Ich kann das, ehrlich gesagt, bis heute nicht beantworten, ob sie aufdringlich war. Einerseits habe ich mich gefreut, vielleicht ein paar Vorurteile abbauen zu können, andererseits war die Einstiegsfrage selten dämlich. Ich habe aber auch erfreut gemerkt, dass mein Puls nicht sofort auf 180 war, wie er das früher war, wenn ich auf der Straße doofe Bemerkungen abgekriegt habe (seit Jahren nicht mehr) oder wie das heute noch so ist, wenn ich in Onlinediskussionen die ganzen ekligen Vorurteile über dicke Menschen lese (weswegen ich mich tunlichst aus solchen Diskussionen raushalte). Ich habe ihren ersten Satz anscheinend nicht als Angriff gewertet, sondern als dusselig formuliertes Interesse. Ich war auch während des Geprächs ganz ruhig, wo ich sonst gerne hektisch werde, um ja alle Fakten unterzubringen, die ich in Bezug auf Fatshaming, Diäten und Körperbildern seit Jahren drauf habe, damit ein weiterer Mensch auf diesem Planeten erfährt, dass Dicksein okay ist und nicht die höllische Strafe und Widerlichkeit, zu der es manche Leute machen.

Ich denke immer noch über dieses Gespräch nach und weiß noch nicht so recht, was ich damit anfangen soll. Im Laufe des Tages kamen immer wieder Satzfetzen hoch und ich wollte diese Geschichte auch abends F. gar nicht erzählen, weil sie sich so persönlich angefühlt hat und ich sie noch nicht fertig durchgedacht hatte. Ich bemerkte, dass den gestrigen Tag über keine Wut hochkam auf unsere beknackten Schönheitsnormen oder die Annahme, dass Frauen überhaupt schön sein müssen. Es kam auch keine Traurigkeit hoch, die mich manchmal noch erwischt, wenn ich darüber nachdenke, wieviel Zeit ich in meinem Leben damit verschwendet habe, mit meinem Körper oder meinen Essgewohnheiten unglücklich zu sein anstatt sie anzunehmen und mich mit ihnen zu arrangieren oder sogar anzufreunden. Es kam stattdessen eher eine Anteilnahme hoch mit all den Frauen, die noch genau da sind, wo ich vor sechs, sieben Jahren auch war: gefangen in Ansprüchen, denen ich eh nie gerecht werden kann und einem Selbstbild, das nicht von mir, sondern von anderen gestaltet wurde. Und dann doch ein bisschen Wut, dass fremde Körper überhaupt Diskussionsstoff sind. Die Dame meinte auch zwischendurch, dass sie sich freue, dass ich ihr nicht gleich an die Gurgel gegangen bin, woraufhin ich sagte, vor zehn Jahren wäre ich das. Und danach hätte ich geweint und viel gegessen, um den Schmerz loszuwerden und mir perfiderweise neuen zuzufügen, alles in einem Aufwasch, wie praktisch.

Heute genieße ich Essen als das, was es ist: Nahrung, Freude, Lust, Entspannung. Und ich genieße meinen Körper als das, was er ist: ein Teil von mir, der mich trägt und schützt, der mich aber nicht mehr definiert. Ich bin so viel mehr als er. Aber ich freue mich sehr darüber, dass man mir und meinem Körper anscheinend inzwischen ansieht, dass wir gut miteinander klarkommen.