Ich war eigentlich nie ein besonders glücklicher Mensch. Schon als Kind war ich lieber alleine, hab mir selber Geschichten erzählt, hatte vor allem Angst, und auf Fotos sehe ich immer aus, als würde mir jemand eine Knarre an den Kopf halten.

Auch in der Pubertät wurde das nicht anders: Ich hatte kaum Freunde, keine Clique, war immer noch lieber alleine, hab viele deprimierende Tagebucheinträge gemacht und fand die ganze Welt ziemlich unheimlich. Ich habe sehr viel gelesen und war lieber in der Bücherei als auf dem Sportplatz oder auf Partys. Meistens bin ich da eh nie eingeladen worden, weil ich recht selten mit Leuten in der Schule geredet habe. Ich hatte so meine drei, vier Bezugspersonen, mit denen man die große Pause verbringen konnte, aber das war’s dann auch. In der Schule war ich eh der Freak, weil ich immer die Klamotten meiner älteren Cousine aufgetragen habe und so modisch immer locker drei Jahre zu spät dran war.

Ich weiß bis heute nicht wieso, aber mit 17 hatte ich meinen ersten Freund und mit ihm auch seinen Freundeskreis. Er war der erste, der mir irgendwann mal gesagt hat, dass ich manchmal ein bisschen komisch drauf komme. Dieses Sehr-nah-am-Wasser sein, diese Angst vor allem, der ständige Selbstzweifel, die mangelnde Entschlusskraft … wir hatten noch keinen Namen dafür. Irgendwie liefen alle Ratschläge von Freunden und meinen Eltern immer auf „Du musst nur mal den Arsch hochkriegen“ hinaus. Was es natürlich nicht einfacher macht, wenn man im Bett liegt und nicht mal die Kraft hat, aufzustehen.

Ich hatte immer das Gefühl, dass alle anderen an mir vorbei erfolgreich werden, dass alle immer wissen, wo’s langgeht und vor allem, wie man da hinkommt. Und ich hab mich immer schlechter und kleiner und dümmer gefühlt, weil ich es nicht wusste. Und so hab ich mein Talent jahrelang in der Kneipe verschwendet, weil ich einfach nicht glauben konnte, überhaupt ein Talent zu haben. Meine Freunde haben mir das zwar immer wieder gesagt, aber hey, das sagen die doch nur, weil sie mir nicht weh tun wollen. In Wirklichkeit bin ich eine lausige Schreiberin, total hässlich, doof und unbeliebt.

So habe ich brav eine Essstörung entwickelt, keinen Job mehr auf die Reihe gekriegt und saß schließlich nur noch heulend in irgendwelchen Ecken. Und endlich war der Leidensdruck groß genug zu sagen: Hilfe. Ich kann nicht mehr. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was mit mir los ist, warum ich an allem verzweifele und wie ich aus diesem tiefen, tiefen Loch wieder rauskomme, in dem ich gerade hocke.

Es ist immer schwierig, jemandem zu erzählen, was Depressionen bedeuten, weil die meisten Menschen auf diesen hilflosen Unterton genauso reagieren wie meine Freunde und Eltern vor Jahren: Kopf hoch, wird schon, blablabla. Das ist ja sicher gut gemeint, aber es ist leider genau das, was man nicht hören will – und was man vor allen Dingen gar nicht befolgen kann. Depressionen fühlen sich an, als ob ein ganzer Lastwagen auf dich zufährt, dich unter sich begräbt und dann auf dir stehen bleibt. Du kannst in manchen Momenten kaum noch atmen vor Schmerz. Oder du wirst plötzlich umgeben von einer Welle von Traurigkeit, die ohne jede Vorwarnung und vor allem ohne jeden Grund einfach so plötzlich da ist und dich überspült. Du bist diesen Gefühlen, dieser Angst, dieser Lähmung völlig hilflos ausgeliefert. Und kein sinnvolles Argument wie „Du hast doch schon mal was Gutes getextet, dann kannst du das auch noch mal“ wird dich davon überzeugen, jemals wieder einen sinnvollen Satz schreiben zu können. In diesen Momenten glaubst du, ganz klein und wertlos zu sein und auch keine Chance zu haben, es ändern zu können. Du zweifelst jede deiner Entscheidungen an, bist aber auch nicht fähig, eine andere zu treffen.

Es gab Tage, an denen ich in meinem Wohnzimmer auf dem Fußboden gelegen habe, leergeweint an die Decke geguckt und gewartet habe, dass die Welt einfach aufhört, damit auch der Schmerz und diese übermächtige Verzweiflung in mir aufhören. Und in solchen Momenten hat man nicht mal die Kraft, sich die Tränen abzuwischen. Geschweige denn, den Arsch hochzukriegen.

Ich habe vor knapp zwei Jahren eine Psychotherapie begonnen, die am Anfang ziemlich schmerzhaft war. Eigentlich bin ich aus jedem Gespräch sehr erschöpft und total ausgeheult rausgegangen. Aber gleichzeitig hat mir meine Therapeutin immer etwas mitgegeben. Einen Satz, eine Technik, eine Eselsbrücke, an die ich mich erinnern sollte. Und je länger ich bei ihr war, desto mehr war ich plötzlich davon überzeugt: Ja, klar bin ich nicht doof. Natürlich kann ich etwas. Ich bin nicht nutzlos. Ich muss diesen Schmerz nicht in Kauf nehmen – ich kann etwas dagegen tun. Und allmählich ging es mir besser, und ganz plötzlich ging es mir gut. So gut, wie noch nie in meinem Leben. Auf einmal hat alles funktioniert, ich hatte gute Laune, war motiviert, hab meine Ernährung in den Griff gekriegt … Wahnsinn. Ich hab mich selbst kaum wiedererkannt. Aber es hat sich GROSSARTIG angefühlt.

Und dann kam der Bandscheibenvorfall. Die lange Krankheitsphase, die OP, die Reha, der ganze Scheiß, der noch nicht wieder weg ist und vielleicht nie wieder weggehen wird. Und erst seit ein paar Wochen – eigentlich erst seit ein paar Tagen, an denen ich mich wieder jeden Abend in den Schlaf geweint hab und an denen ich meist völlig blöd an meinem Rechner sitze und keine einzige gute Zeile rauskriege – erst jetzt merke ich, dass sich die alten Gewohnheiten, der alte Zweifel, die alte Anke wieder ganz heimlich und leise an mich rangeschlichen haben. Auf einmal kostet alles wieder fürchterlich viel Kraft. Auf einmal tut alles wieder fürchterlich weh. Und auf einmal möchte ich wieder unter meiner Bettdecke bleiben, bis alles da draußen nichts mehr von mir will.

Ich habe gestern ein wenig mit jemandem telefoniert, der meine Situation kennt und sich vor allem selber in einer ähnlichen befindet. Ich denke, ich werde auf seinen Rat hören und mal wieder um Hilfe bitten. Ich habe zu hart gearbeitet, als dass mir diese Scheißkrankheit jetzt alles versaut. Ich will zur Autorenschule. Ich will an meinem Job wieder Spaß haben. Und ich will vor allem nicht wieder dieses ängstliche, verzweifelte Etwas sein, das ich einmal war.

Ich kann einfach nicht schnell genug vor mir wegrennen.
Ich hole mich immer wieder ein.