Kölner Kirchen gucken

Nach meinem letzten Gotikgroupieeintrag kam aus Köln Post von Nata und @marqueee, die sich spontan als Stadtbilderklärer_in andienten, was ich natürlich sofort annahm. Flug gebucht (war ein Hauch billiger als die Bahn), Hotel gebucht (gerne wieder), irgendwie verabredet („Vorm Westportal?“ – wobei mir da aufgefallen ist, dass ich automatisch wusste, wo das Westportal ist, weil ich inzwischen weiß, dass der Chor immer im Osten ist. Und ich weiß inzwischen, was der Chor ist.) und schon stand ich am Freitag vor dem Kölner Dom. Nicht zum ersten Mal, aber wie gesagt zum ersten Mal mit ein bisschen Vorwissen.

Bevor Nata kam, hatte ich ein paar Minuten Zeit, um mir die Westfassade anzuschauen. Und so wie ich neuerdings an Bushaltestellen rumstehe und mir Gebäude erzähle, begann ich damit auch hier. Sonst klingt das eher so: „Ich sehe einen in die Höhe strebenden Profanbau mit vier Stockwerken …“ Vor dem Dom klang das so: „Ich sehe einen aber so was von in die Höhe strebenden Sakralbau mit … äh … hm.“ In meinem Kopf purzelten die Vokabeln durcheinander, die ich für die französischen Kathedralen gelernt hatte – Portalgeschoss, Rosengeschoss, Königsgalerie, Turmgeschoss … – aber bis auf zwei wollte nichts so recht passen. Außerdem fiel mir zum ersten Mal auf, dass der Dom keine Fensterrose hat wie sonst jede Kathedrale, die was auf sich hält. Jedenfalls alle, die ich in der Vorlesung auf den PowerPoint-Folien gesehen hatte. Meine schlauen Notizen liegen in München, und bis ich wieder da bin, behaupte ich, der Kölner Dom hat drei Stockwerke: Portal, Maßwerk, Türme.

Dann begann ich, nach weiteren Systematiken zu suchen, entdeckte die optische Anlage für die fünf Schiffe im Inneren, bewunderte die Klarheit der Portale und verlor mich schließlich völlig im Maßwerk, in den Gewändefiguren, in dem ganzen Blendwerk, das die Stütz- und Strebepfeiler des Öfteren in der Hotizontalen unterbricht, ohne den Gesamteindruck des gnadenlos Vertikalen zu stören. Ich hätte noch ne Stunde vor der Westfassade rumstehen können, aber da erschien Nata und begann, mir was über dieses kleine Kirchlein zu erzählen. In den folgenden zwei Stunden ergänzten wir uns gegenseitig – „Da liegt übrigens Gottfried von Arnsberg.“ – „Und diese Liegefigur auf einer Tumba nennt man Gisant, und die Figuren, die außen am Stein rumlaufen, heißen Pleurant.“ –, ich verrenkte mir wie immer den Hals beim ewigen Nach-oben-Gucken, irgendwann kam @marqueee dazu, wir nahmen ein paar Minuten vor dem Richter-Fenster Platz, das unglaublicherweise bei jedem Besuch besser in den Dom zu passen scheint, ich bewunderte den Reliquienschrein der Drei Könige unter Panzerglas sowie den Altar der Stadtpatrone von Stefan Lochner und den Klaren-Altar … allerdings nur im geschlossenen Zustand. Denn, daran hatte ich bei meiner Planung überhaupt nicht gedacht, wir befinden uns in der Passionszeit, und in der sind die Altäre geschlossen und sämtliche Kreuze verhängt. So stand in einer Kapelle ein winziges Kreuzlein, ich schätze, keine 50 Zentimeter hoch, das ein kleines purpurfarbenes Mützchen trug, was mich sehr erheiterte. Was mich allerdings betrübte, war die Tatsache, dass natürlich auch das Gerokreuz verhängt war. Und genau darauf hatte ich mich seit Wochen gefreut.


© Elke Wetzig/CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons)

Ich zitiere von der Website des Kölner Doms: „Es ist nicht nur die erste erhaltene Monumentalskulptur nach der Antike, sondern auch die früheste Wiedergabe des toten Christus am Kreuz in monumentalem Maßstab. Die hohe künstlerische und handwerkliche Qualität ist bei einem solchen Erstlingswerk kaum erklärbar.“ Und: Seiner Wirkung kann man sich nicht mal in einem billigen Tintenstrahlausdruck entziehen. Wir haben das Gerokreuz natürlich in der Vorlesung gehabt, und da ich mir zum Lernen die ganzen Folien en miniature ausgedruckt und sie wie Vokabelkarten benutzt hatte, habe ich das Kreuz in den letzten Monaten sehr oft gesehen. Und jedesmal, wenn ich die Karte in der Hand hatte, wollte ich sie kaum wieder weglegen. Das klingt wahrscheinlich bescheuert, aber die Ruhe, die das schlichte Gesicht der Figur ausstrahlt, zusammen mit der unglaublichen Farbintensität aus Gold und Blau, hat sich immer auf mich übertragen. Und jetzt stand ich vor einem blöden weißen Vorhang und sah nichts. Aber: Von der Seite aus konnte ich es erkennen, das braune Holz, den goldenen Schurz, die schmale Figur. Und so stand ich da und guckte und hatte, selbst für mich alte Heulsuse sehr überraschend, Tränen in den Augen. Wir merken uns also, falls wir an der Himmelspforte gefragt werden, was uns im Leben so richtig beeindruckt hat: die Pyramiden und das Gerokreuz. Selbst wenn man es nicht richtig sehen kann.

Nach dem Dom waren wir zunächst in einem Brauhaus am Rhein (Ausrede: aufwärmen, wahrer Grund: Kölsch) und dann zunächst in St. Maria in Lyskirchen. In der winzigen Kirche freute ich mich über den bilderbuchmäßigen Wandaufbau (Arkadengeschoss, Empore, durchfensterter Obergaden) und die Schiffermadonna, an der ich Poserworte wie „Kontrapost“ anbringen konnte (den diese Dame nicht hat. Glaube ich. Verdammter Faltenwurf).

Zum Abschluss gingen wir zu St. Maria im Kapitol, und auch hier war ich angemessen beeindruckt: vom ruhigen Kreuzgang, dem Grundriss als Trikonchos, dem großen Lettner, den Kapitellen und vor allem der Größe der Kirche. Mit Romanik verband ich bisher immer etwas Kleineres, aber das hier war schon sehr ordentlich. Natürlich nichts im Vergleich zum Dom, aber die Messlatte ist unfair.

In allen drei Kirchen war ich erstaunt, wie anders ich derartige Gebäude wahrnehme als noch vor wenigen Monaten. Klar: Ich weiß jetzt, wonach ich gucken muss, um mir die Architektur zu erklären, aber alleine dass ich mir Architektur erklären will, erstaunt mich immer noch. Die Ruhe, die mich sonst in Kirchen erwischt, kam dieses Mal erst später. Der erste Eindruck war immer ein begeistertes Rumgucken, was ich alles sehe. Nach dem ersten hibbeligen Gesamteindruck konzentrierte ich mich dann auf ein Detail nach dem anderen. So wie bei der Fassade des Doms eben erstmal auf die Portale. Dann das Geschoss darüber. Die Wimperge. Das Maßwerk. Die Figuren. Eins nach dem anderen. Und dann noch weiter ins Detail: Was für Figuren stehen denn da überall an den Portalen? Haben wir liegende oder stehende Pässe? Welche Bibelgeschichten genau sehe ich in den Fenstern? Welche Heilige erkenne ich inzwischen wieder? (Nicht viele, wie ich mürrisch feststellen musste; das ging mit den weiblichen Heiligen und ihren Attributen im Wallraf-Richartz-Museum auf Bildern deutlich besser. Die Apollonia kann man sich am besten merken, die ist am gruseligsten. Stichwort „Zange mit Zahn“.) Welche Säulen- oder Pfeilerformen sehe ich? Wo genau sind die Kapitelle? Was ist Schmuck, was ist tragend? Und erst ganz zum Schluss: Welchen Eindruck hinterlässt dieser ganze steinerne Aufwand bei mir?

Ich bin am zweiten Tag meines Kölnbesuchs noch ein weiteres Mal in den Dom gegangen bzw. habe mir etwas mehr Zeit genommen, ihn einmal zu umrunden, um auch die anderen Portale zu würdigen, das ganze Strebewerk (mein Lieblingsdetail an gotischen Kirchen) und den Vierungsturm, der im 2. Weltkrieg zerstört wurde und Anfang der 60er Jahre neu entstand. Wenn es nicht so fürchterlich kalt gewesen wäre, hätte ich mir noch mehr Zeit gelassen, denn ich konnte mich einfach nicht sattsehen an dem ganzen Firlefanz, mit dem das Bauwerk sich schmückt. Aber im Inneren des Doms konnte man den eigenen Atem sehen und draußen war es so windig, dass ich meine Kapuze festhalten musste, so dass ich mich nach nur gut einer Stunde ins warme Museum verzog, wo ich mir, dem Gesamteindruck meiner Reise angemessen, nur die Mittelaltersammlung ansah. Wobei „nur“ da fies untertrieben ist: Ich schätze, in den neun hervorragend gestalteten und beschrifteten Räumen dürften um die 100 Werke rumhängen und stehen und eins ist schöner als das andere. Weswegen ich nach zwei Stunden auch nichts mehr sehen konnte und auf Barock und Impressionismus verzichtete.

Ich habe keine Ahnung, warum mich das Mittelalter so erwischt hat, aber ich nehme das mal so hin, dass ich jetzt gerade nichts lieber anschaue als Altäre, Reliquienschreine und Bilder auf Goldgrund. Im nächsten Semester bettele ich um einen Platz in der Vorlesung „Altniederländische Malerei im 15. und 16. Jahrhundert“. Insofern: Genießt die Gotik, so lange sie noch da ist – in spätestens drei Monaten ist hier alles voller Bruegels. Und guckt euch den Dom an. Der ist nämlich wunderschön. (Ach was.)