Frau Gröner trifft eine Entscheidung. Oder doch nicht. Oder doch. Ach, frag mich in zehn Minuten noch mal.

Als die Zusage aus Dresden eintraf, stand ich, wie beschrieben, schreiend in der Küche, weil ich davon ausging, dass das die einzige Zusage bliebe. Ich sah auf bahn.de, dass ich in vier Stunden und für nicht viel Geld nach Hause kommen könnte, suchte im Internet nach Wohnungen, war begeistert über die Preise und die Aussicht, demnächst jeden Tag den Zwinger und die Semperoper sehen zu können und vielleicht öfter als bisher auch mal reinzugehen.

Dann kam die Zusage aus München – und stürzte mich in eine tiefe Sinnkrise. Denn von allen Orten, an denen ich mich beworben hatte, war München natürlich der dämlichste: wahnwitzig weit weg von Hamburg und wahnwitzig teuer. Aber: München hat eine Fächerkombi, die die anderen Unis nicht haben. Wo ich in Hamburg, Dresden und Berlin Kunstgeschichte mit dem Nebenfach Geschichte studiert hätte, könnte ich in München das Nebenfach Kunst, Musik, Theater wählen (mit dem Hauptfach Kunstgeschichte also zum Beispiel Musikwissenschaft). Aber: wahnwitzig weit weg von Hamburg und wahnwitzig teuer. Aber: Musik und Theater. Aber: wahnwitzig … (ad infinitum)

Der Brief aus München kam am Freitag abend, weswegen ich in Bayreuth von Samstag bis Montag nur am Grübeln war – wenn ich nicht gerade in der Oper vor mich hinentspannte. Und gerade dieses Erlebnis ließ mich immer mehr in Richtung München kippen. Weil Musik eben glücklich macht. Weil die Beschäftigung mit ihr glücklich macht. Auch wenn sie an Orten stattfindet, die wahnwitzig weit weg und so weiter.

Ich hatte mich also quasi schon entschieden, als am Mittwoch eine E-Mail aufploppte. Die Universität Hamburg würde sich auch total freuen, mich als Studentin begrüßen zu dürfen. Und damit ging in meinem Kopf der Stress wieder los. Ja, Geschichte ist vielleicht nicht ganz so toll wie Musik und Theater, aber MEINE WOHNUNG MEIN KERL MEIN JOB. Alles da. Ich muss nicht umziehen, ich muss nicht mein ganzes Geld, das nicht mehr mein ganzes ist, sondern höchstens noch mein halbes von dem, was ich jetzt verdiene, für Flüge und doppelte Wohnungen rauswerfen, nein, ich bleibe einfach da, wo ich jetzt bin.

He, Moment.

„Ich bleibe einfach da, wo ich jetzt bin“ war genau der Satz, der mich irritierte. Denn genau das will ich ja nicht, zumindest was meine Bildung und persönliche Entwicklung angeht. Aber natürlich hat das Hierbleiben auch Vorteile, wovon der größte „keine Wochenendbeziehung“ ist. Und so drehte mein Kopf sich lustig weiter, zwei Engelchen prügelten sich ihre Harfen um die Ohren und brüllten abwechselnd „HAMBURCH!“ oder „MINGA!“, ich entschied mich für eine Stadt, nur um mich zehn Minuten später wieder für die andere zu entscheiden und wusste irgendwann wirklich nicht mehr wohin. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Und dann ging ich singen.

Die erste Frage meiner Gesangslehrerin ist immer „Wie geht’s?“, worauf sie wirklich eine Antwort haben will. Ich kippte in 30 hysterischen Sekunden meinen derzeitigen Geisteszustand auf sie runter, und sie legte mir ein neues Lied auf den Notenständer, denn mit neuen Dingen kann man mich prima ablenken. Jedenfalls klappt das sonst ganz gut. Dieses Mal nicht, ich war hibbelig, knautschte an den hohen Noten rum und war überhaupt so unentspannt wie lange nicht mehr. Auch die große Les-Mis-Dramaschnulze On My Own, bei der ich sonst leidenschaftlich rumleide, konnte mich nicht locker machen.

Und dann nahm meine Lehrerin die Hände vom Klavier, drehte sich um und fragte: „Auf was freust du dich eigentlich am meisten beim Studium?“ Ich sagte: „Ich freue mich darauf, in einem Hörsaal zu sitzen, in dem mir jemand 90 Minuten lang Dinge erzählt, die ich noch nie gehört habe. Ich freue mich aufs Lernen.“ Und sie sagte: „Dann singen wir jetzt Yentl.“

„The more I live – the more I learn.
The more I learn, the more I realize
The less I know.
Each step I take – (Papa, I’ve a voice now!)
Each page I turn – (Papa, I’ve a choice now!)
Each mile I travel only means
The more I have to go.

What’s wrong with wanting more?
If you can fly – then soar!
With all there is – why settle for just a piece of sky?

Papa, I can hear you …
Papa, I can see you …
Papa, I can feel you …
Papa, watch me fly!“

Ich liebe dieses Lied. Ich liebe seine Botschaft. Und genau das hat mir gestern völlig das Genick gebrochen. Die ersten Zeilen gingen wunderbar, aber beim Teil, wo es ums Lernen und Wissen und Mehr-Wollen geht, war alles vorbei. Wo ich sonst gerne mal ein bisschen zu schniefen anfange, wenn mich Lieder emotional erwischen, brachen hier alle Dämme und ich heulte wie früher in der Therapie. Aber danach war Ruhe. Im Kopf, im Herz, die Engel kloppten sich nicht mehr, und ich wusste: München. Weil ich lernen will. Alles andere funktioniert schon irgendwie. Geld kommt immer irgendwo her, meine Agentur will mich sowieso weiter beschäftigen, eine Wohnung habe ich auch schon in Aussicht, und die freundliche Lufthansa bringt mich in einer Stunde zum Mann meines Herzens.

München, watch me fly.