Neidische Lektüre

„Gewöhnlich nahm man in Mährisch-Ostrau pro Tag fünf Mahlzeiten zu sich. Frühstück gab es um halb acht Uhr morgens. Um zehn Uhr bekamen die Kinder ihr Gabelfrühstück: Butterbrot mit Wurst, hartgekochte Eier und Obst. Viele Männer begaben sich um diese Zeit für eine halbe Stunde in ein Bierrestaurant, um ein kleines Gulasch oder „Salonbeuschel“ zu essen und ein Glas Bier zu trinken. Zwischen zehn und halb elf wurde in den Büros und Läden wenig gearbeitet; alle waren mit dem Essen beschäftigt. Zwei Stunden später ging man zum Mittagessen – nach Hause selbstverständlich, denn es war nicht üblich, ins Restaurant zu gehen – und dann folgte ein kleiner Verdauungsschlaf. Daraufhin spazierte man ins Café, um eine Tasse Mokka zu trinken und eine Partie Tarock oder Bridge zu spielen und sich dann schließlich noch für eine Stunde an die Fronarbeit zu begeben.

Es war ein anstrengendes Leben, und gegen halb fünf Uhr nachmittags waren die meisten wieder hungrig und mussten ihre Jause haben. Eine echt österreichische Jause aber besteht aus mehreren großen Tassen Kaffee mit „Schlag“, Torte, Guglhupf und Kleingebäck. Sie ist eine weibliche Institution; meiner Mutter zum Beispiel machte es nichts aus, das Mittagessen oder die Abendmahlzeit auszulassen, aber ihre Jause musste sie haben. Oft beklagte sie sich, dass sie zunahm, obgleich sie „doch eigentlich nichts aß“. An der Jause konnte es nicht liegen, sagte sie, denn „von der Jause nimmt kein Mensch zu“.

Diese asketische Diät, zu der noch Apéritifs, Vorspeisen und ein üppiges Abendessen hinzugerechnet werden müssen, zwang viele Bürger unserer Stadt, einmal jährlich nach Karlsbad zu fahren, strenge Kur zu machen, fünfzehn Pfund abzunehmen, um auf diese Weise für ein weiteres Jahr ihrer Diät gerüstet zu sein.“

Joseph Wechsberg (Gerda von Uslar, Übers.), Forelle blau und schwarze Trüffeln (1953)

Wie ich gestern schon auf G+ schrieb:

Wem Torbergs Tante Jolesch gefallen hat, sollte sich auch dieses Buch besorgen. Man darf es allerdings nur lesen, wenn man sich in der Nähe einer gut gefüllten Speisekammer befindet.

Hier die SpiegelKurzrezension von 1965:

„Ein Amerikaner aus Mähren, Kirchenrechtler und vorübergehend Erster Geiger des Folies Bergère, feiert in gediegenen Feuilletons die großen Wirte, Weinkenner und Köche, die er aufgesucht hat. Man lernt, dass Zuckerrübenbrei das feinste Ochsenfutter darstellt; dass Ente und Orangen doch nicht recht zusammenpassen; dass Weine, gleich Kindern, nur bedingt erziehbar sind. Es spricht für Joseph Wechsberg, dass er, ohne anzustoßen, in einem Atemzug von Judenmorden und Trüffelgewinnung zu schreiben versteht. (Rowohlt; 268 Seiten; 16,80 Mark.)“

In der Woche des Erscheinens war übrigens Frischs Mein Name sei Gantenbein auf Platz 1 der Bestsellerliste.