Rom, Tag 5

Freitag, 20. Mai

Allmählich finde ich mich rund ums Hotel und in der Altstadt zurecht – da sind wir ja auch oft genug durchgelaufen. Der Kerl und ich haben einen Supermarkt entdeckt, bei dessen Obst- und Gemüseauswahl ich regelmäßig in Tränen ausbreche und wo wir uns mit Wasser eindecken (und italienischem Süßkram, ist klar). Das Sonnencremeauftragen klappt inzwischen aus dem Handgelenk, nachdem ich natürlich völlig vergessen hatte, welche mit auf die Reise zu nehmen. Weswegen ich krebsrot in eine Apotheke stolperte, selbständig „latte solare“ im Regal fand und dann den peinlichen Gang an die Theke antrat, um nach einer Wund- und Heilsalbe zu fragen. Brauchte ich nicht, ein Blick auf Nase und Arme reichte, und die freundliche Bedienung gab mir ein lustiges Spray, mit dem ich mich zwei Tage lang großzügig einnebelte (nachdem ich für 18 Euro pro Tag im Internet den Beipackzettel gefunden und mit Google übersetzt hatte). Meine Fotobegeisterung, die noch nie eine war, lässt immer mehr nach, und heute werde ich gerade ein Bild beim Gruppenrumlaufen machen und das mit dem iPhone anstatt mit der Kamera. Aber heute steht eh nur noch ein halber Tag Programm für mich an, denn während der Rest der Gruppe sich nachmittags die Villa Adriana bei Tivoli anschaut und ein gemeinsames Abschlussdinner hat, werde ich eine Weinverkostung bei vinoroma mitmachen und danach mit Hande und ihrem Mann im All’Oro essen, worauf ich mich schon die ganze Woche freue.

Aber erstmal schlüpfe ich wieder in die bequemen Sneakers, an denen ich deutlich als Touri zu erkennen bin. Gut, das könnte auch an der Baseballkappe (Sonnenbrand!) und der Kamera liegen. Heute abend, auf dem Weg zu Hande, werde ich erfreut feststellen, dass man sich auch als Fußgänger_in in den römischen Verkehr werfen kann – solange man nicht wie ein_e Tourist_in aussieht. Wo bis jetzt alle Autos an uns vorbeigebraust sind, traue ich mich abends, wo ich etwas eleganter unterwegs war, einfach auf die Straße zu gehen, so wie unser Reiseleiter uns das erzählt hat. „Die halten schon an, aber erst, wenn Sie losgehen.“ So wurde es gemacht: Kurz gucken, wie weit die Autos noch weg sind, und auch wenn ich in Deutschland nie über große Straßen gehe, solange ich keinen Zebrastreifen oder eine Ampel zur Verstärkung dabei habe, hier mache ich es einfach – und es funktioniert. (Sonst würdet ihr diese Zeilen hier auch nicht lesen.) Alle halten an, man kriegt keine unfreundlichen Blicke, und alles ist gut. (Trotzdem gewöhnungsbedürftig.) Ich mag die Momente, in denen man das Gefühl hat, die Stadt erstmals im Griff zu haben. Wie beim Oystercard-Aufladen in London, beim ersten Einkauf in Paris, beim Tanken in Fort Wayne. Läuft.

Unser heutiger Vormittag ist schon fast ein Abschied von der Stadt. Wir bummeln nochmal zur Piazza Navona, wo ich meinen geliebten Vier-Ströme-Brunnen von Bernini mit deutlich weniger Touris bewundern kann. Wir gehen nochmal kurz ins Pantheon, wo ich diesmal die Kraft habe, zum Grab von Raffael zu schlendern. Beim ersten Besuch am Montag waren meine Füße froh über jeden Schritt, den sie nicht mehr machen mussten, jetzt gehe ich hin und freue mich über die Inschrift. Wikipedia: „Die Inschrift des Grabmals, ein Distichon von Pietro Bembo lautet: „Ille hic est Raphael, timuit quo sospite vinci, rerum magna parens et moriente mori.“ („Dieser hier ist Raffael, von dem, solange er lebte, die große Mutter aller Dinge (nämlich die Natur) fürchtete, übertroffen zu werden, und als er aber starb, dass sie zugleich mit ihm stürbe.“)“

Wir genießen den besten Espresso, den ich je getrunken habe, im Sant’Eustachio, lassen uns beim Spazierengehen den Unterschied zwischen carabinieri und polizia erklären (die einen sind Staatsangestellte, die anderen städtisch) und landen irgendwann beim Trevi-Brunnen. Er ist überraschenderweise riesengroß (Ironie, Ironie), aber ausnahmsweise nicht ganz so überlaufen wie erwartet. Ich kann sehr entspannt an den Brunnenrand gehen und die obligatorische Münze reinwerfen, mit rechts über die linke Schulter und ohne der Münze nachzuschauen. Ich werde also wiederkommen. Das hatte ich mir allerdings eh schon vorgenommen, dafür hätt’s den Brunnen nicht gebraucht.

Nach dem Brunnen gehen wir zur Spanischen Treppe, die mir als einziger Besichtigungspunkt wirklich egal war. Ich habe nicht mal ein Foto gemacht, vielleicht auch, weil hier noch mehr von den fliegenden Händler_innen unterwegs waren als sonst. Immerhin haben sie mir einen guten Einblick in die derzeitige Nutzlosproduktpalette aus Asien gegeben. An allen Touripunkten vorhanden: eine Plastikpistole, die infernalischen Lärm à la Monoklingeltöne von 1998 produziert und gleichzeitig – Seifenblasen macht. Ja, darauf muss man erstmal kommen, meine Damen und Herren. In der Häufigkeitsskala auf Platz 2: kleine Gummitierchen, die man auf den Boden werfen kann und die sich dort in eine Pfütze verwandeln, bevor sie sich terminatormäßig wieder zu einem Gummitier zurechtmorphen. Wenn sie auch noch Lärm und Seifenblasen hätten machen können, hätte ich sie gekauft. Total unorigineller dritter Platz: Markenhandtaschenimitate, Plastikrosen und Regenschirmhüte.

Eine letzte Kirche gönnen wir uns noch: Santa Maria del Popolo, die direkt an der, man ahnt es, Piazza del Popolo steht. Von der Kirche ist mir nicht mehr viel in Erinnerung geblieben, aber von zwei Gemälden, die in ihr hängen, umso mehr. Ich habe meine ersten beiden Caravaggios „in echt“ gesehen, nämlich „Die Kreuzigung des Petrus“ und „Die Bekehrung des Paulus“. Ich weiß nicht, ob die Bilder auf euren Monitoren besser aussehen als auf meinem, wo sie ziemlich matt wirken, denn in Wirklichkeit leuchten sie einem entgegen. In der Kirche herrscht ein relativ dämmriges Licht, und die Bilder werden nur leicht angestrahlt. Das Licht geht übrigens nach wenigen Minuten aus, und man muss es per Knopfdruck wieder anmachen. In einer anderen Kirche musste man für die anständige Beleuchtung sogar einen kleinen Obolus errichten. Und eine weitere „Innovation“ habe ich mir gemerkt: In einigen Kirchen kann man kein Teelicht bzw. keine Kerze mehr entzünden. Stattdessen wirft man Geld in einen Schlitz, und daraufhin beginnt eine elektrische Kerze für eine bestimmte Zeit zu brennen. Fand ich einerseits clever, andererseits total stimmungstötend.

Zurück zu den Caravaggios: Ich fühlte mich an mein altes Kunstbuch erinnert, in dem ich zum ersten Mal den „Mann mit dem Goldhelm“ gesehen habe. Das Kunstbuch weist auf den punktuellen Einsatz von Licht hin, und genau daran musste ich bei den Caravaggios denken: Die Motive an sich sind schon verstörend genug, aber erst durch den dramatischen Einsatz von Licht und Schatten erzielen sie ihre ganze Wirkung. Ich habe mehrmals auf den Lichtschalter gedrückt, um mir die Bilder anzuschauen, aber irgendwann musste ich leider gehen, weil der Bus für den Rest der Gruppe schon wartete.

Während der Kerl sich Villen anschaute, machte ich mich fein für die Weinverkostung. Lustigerweise wohnt Hande gerade fünf Minuten vom Hotel weg, weswegen ich gnadenlos zu früh da war. Wir plauderten entspannt in der Gegend rum – das ist ja fast immer so mit Menschen aus diesem Internet, die man vorher noch nie gesehen hat –, bis die weiteren Gäste eintrafen: ein irisch-englisches und ein texanisches Pärchen, weswegen die Verkostung auf Englisch ablief.

Ich erspare euch eine detailgenaue Wiedergabe von all den wunderbaren Dingen, die wir gelernt haben – stattdessen lege ich euch extremst einen Besuch bei vinoroma ans Herz. Das texanische Pärchen hatte noch nie eine Weinprobe mitgemacht, ich im Prinzip zweieinhalb, während die Briten sowas wohl öfter machen, aber das war alles egal. Ich glaube, jede_r von uns hat etwas mitgenommen, gelernt, neu entdeckt. Was sicher auch an der (Achtung, totale Lobhudelei) charmanten, gefühlt allwissenden und sehr sympathischen Art von Hande lag, uns davon zu überzeugen, dass italienische Weine der Kracher sind. Ich gebe zu, mit den roten hadere ich noch etwas – da liegt im Moment Frankreich vorn –, aber die weißen haben mir alle gut bis sehr gut geschmeckt. Meine Weißweinfavoriten stammen derzeit aus Österreich, was sicher daran liegt, dass „meine“ Weinhandlung um die Ecke mir eben gerne was daher empfiehlt und bis jetzt jedesmal richtig gelegen hat.

Für mich persönlich war der größte Aha-Moment des Abends, dass es manchmal eben nicht nur an der Rebsorte liegt, sondern am Ort des Anbaus, ob mir persönlich ein Wein schmeckt oder nicht. So waren die Weißweine aus Norditalien etwas spannungsarmer als die aus dem Süden – klar, da passiert im Boden oder klimatisch einfach mehr, Vulkangestein, längere Sonnendauer, eigentlich logisch, dass die Weine dort anders schmecken. Außerdem hatte ich wieder einen Pferdestallwein im Glas, weiß aber jetzt, dass das Schwefel ist, den ich so doof finde. Und ich kann nicht nur Nero d’Avola nicht blind vertrauen – das war ja meine Erkenntnis nach der Weinprobe mit Lu –, sondern auch der olle Chardonnay kann eine fiese Ratte sein.

Ich fand die Verkostung wirklich klasse, was auch an der Gruppe lag. Wir plauderten sehr entspannt und gut gelaunt über die Weine und unsere drei Länder; mir ist zum ersten Mal aufgefallen, dass wir in Deutschland die Leute gerne in Wein- oder Biertrinker unterteilen; wir haben der texanischen Lady ganz dringend Grappa ans Herz gelegt, als sie meinte, sie trinke gerne mal nen Scotch oder Wodka pur (“The kids. You know.”), und weil der Ire heute Geburtstag hatte, gab’s noch eine Flasche sehr schmackhaften Franciacorta als Goodie zum kosten, was Hande dazu nutzte, uns auch noch was über Champagnergärung zu erzählen. Hach!

Aber damit war der Tag noch nicht toll genug, denn jetzt fuhren Hande, ihr Mann und ich ins All’Oro, das seit Kurzem einen Michelin-Stern sein eigen nennt. Ich kann das zwar noch überhaupt nicht beurteilen, aber ich sach trotzdem mal: zu recht.

(Die folgenden Fotos sind unfassbar mies, weil ich sie nur per iPhone aufgenommen habe. In hübsch kann man sie zum Beispiel hier bewundern. Das war zwar nicht ganz unser Menü, aber mir blutet ein bisschen das Herz dabei, Werbung für diesen wirklich schönen Laden zu machen und dann so fürchterliche Fotos als einzigen Eindruck zu haben. Also mal rüberklicken da, bitte. Und ich ergoogele mir jetzt endlich Farbkorrektur-Tutorials für den ollen Photoshop.)

Alleine für den Brotkorb und das Olivenöl sollte man mal bei All’Oro vorbeischauen: Ich erinnere mich an vier bis fünf selbstgebackene Spezialitäten und ein sehr fruchtiges, hellgrünes Öl. Zum Menü hatten wir einen Weiß- und einen Rotwein, die ich mir beide leider nicht gemerkt habe. Wobei der rote der spaßige war, weil wir ihn mit Kühlmanschette bestellt haben und ihn so von Gang zu Gang immer ein bisschen kälter hatten. Das tat ihm extrem gut; wo er anfangs noch etwas vor sich hinflachte, war er zum Schluss ein Kracher.

Der Gruß aus der Küche: Eine feine Sauce aus sehr geschmackvollen Tomaten, knusprigen Croutons und süßsauer eingelegter Zwiebel. Sehr frisch und leicht und trotzdem bleibt ein tiefer Eindruck zurück.

Schon beim ersten Gang wusste ich, dass ich dringend nochmal herkommen muss: Tiramisu aus Stockfisch, Schweinespeck („lardo“) und Kartoffelschaum. Herrlich gewürzt und eine ganz großartige Kombination. Der milde Fisch, der weiche Speck, alles in Cremeform – pures Mundglück.

Das erste Überraschungsei des Abends: Mezzalune, die mit Burrata gefüllt waren, mit Sardellen und Kirschtomaten. Der Burrata floss fast aus der Pasta und verband sich absolut stimmig mit Fisch und Gemüse und Nudeln. Und meinem üblichen „Mmmmhh“, das ich den ganzen Abend von mir gegeben habe.

Frau Gröners erste Artischocke. Ich traue mich nie so recht an das Zeug an – wie koch ich das? Was mach ich damit? Wie esse ich das überhaupt? Netterweise musste ich mich das hier alles nicht fragen. Überwältigend fand ich den Geschmack nicht, aber doch so spannend, dass ich demnächst gnadenlos Artischocken in Wasser werfe und einfach mal gucke, was so passiert.

Neben der Artischocke der eigentlich Hauptdarsteller: ein Stück Steinbutt, außen fritiert, innen noch roh, auf Zitronenzabaione und Paprikapulver. Die Kombination Zitrone-Paprika werde ich ebenfalls gnadenlos zu reproduzieren versuchen.

Das zweite Überraschungsei und mein Lieblingsgang: Safran-Cappeletti, die mit heißer Brühe (!) gefüllt waren, auf Parmesancreme. Kein Geschmack, den ich noch nicht kannte, aber das Gefühl beim Essen war so großartig unterhaltsam: Man nimmt die Cappeletti komplett in den Mund und zerknackt sie quasi. Der ganze Mund wird mit der würzigen Brühe geflutet, und die spült man entspannt mit ein bisschen Parmesancreme weg. Herrlich. Ach ja, und ich mag Safran.

Ochsenschwanz auf würzigem Irgendwas (im Zweifel immer Tomate). Die grünen Punkte sind Selleriegelee, von dem ich gerne deutlich mehr gehabt hätte, und über allem schwebte der Hauch von dunklem Kakao. Zweitliebster Gang, alleine für die Kombination aus Fleisch und Schokolade, die ich niemals probiert hätte, wenn sie nicht vor mir auf dem Teller gelegen hätte. Und nebenbei oh so großartig geschmeckt hat.

Der Zwischengang zum Magenaufräumen. Sehr schlicht und geradeaus: Melonensorbet, kandierte Limettenstreifen und Ananasstückchen. (Dass die Tischdecke gemustert war, habe ich übrigens erst auf diesen Fotos bemerkt.)

Der Nachtisch überlagert ja gerne alles andere, und dieses Dessert war keine Ausnahme. Wieder was zum Reinlegen und Gedichte darüber schreiben. Wir drei haben schon beim Speisekartenlesen gesabbert und ich mache genau das jetzt auch: Lavendel-Crème-brûlée mit Pfeffereiscreme. Ich bin eigentlich kein Fan von salzigen Eiscremes, genauso wenig wie von „kreativen“ Schokoladensorten. Ich will kein Basilikum im Eis und kein Rosmarin in meiner Lindt. Aber hier war der Pfeffer nur eine kleine Spitze, die perfekt der Crème brûlée etwas ihre Schwere genommen hat.

Zum Espresso noch ein paar kleine Aufmerksamkeiten: Minz-Lakritz-Macarons, Trüffel, Baci di dama und winzige Erdbeertörtchen.

Bitte rollen Sie mich zum Taxi, aber rühren Sie meinen strahlenden Gesichtsausdruck nicht an. Und buchen Sie schon mal die nächste Reise für mich.

Ich hatte nicht erwartet, dass Rom mir so gut gefallen würde, gerade weil ich kein Wort Italienisch spreche. In London oder Amerika fühle ich mich recht schnell zuhause und wohl, in Frankreich immerhin, wenn der Kerl dabei ist (Monsieur ist Halbfranzos’), aber Rom hatte ich so gar nicht auf dem Plan. Ich war mir sicher, dass es mir zu laut sein würde, zu nervig, zu chaotisch (im Grunde meines Herzens bin ich nämlich Idealdeutsche – pünktlich, ordentlich, regelkonform), ich wollte eigentlich nur das Kolosseum angucken und wieder nach Hause fahren. Stattdessen wühle ich mich sehnsüchtig durch die Studiosus-Reisen in die Toskana und kaufe Reiseerzählungen aus Rom. Na bravo.

Ich weiß nicht, ob es daran lag, endlich den Kopf mal wieder mit etwas anderem zu füttern als Körperquatsch und Autokatalogen. Es hat mir auf jeden Fall unglaublich gut getan, die beiden Themen kurz mal komplett zu vergessen und mich stattdessen auf alte Säulen und alte Bilder zu konzentrieren. Wie ich in einem der Rom-Einträge schon gesagt habe: Es erdet einfach ungemein, sich mal wieder bewusst zu machen, dass man nur ein Bausteinchen im großen Puzzle ist. Es befreit gleichzeitig, weil mir wieder klar wurde, dass das tägliche Hamsterrad nicht das Wichtigste im Leben ist, dass kein Autokatalog an Michelangelo rankommt, kein Buch an Bernini, und dass es viel sinnvoller ist, sich auf das Wichtige zu konzentrieren: blauer Himmel. Gutes Essen. Guter Wein. Spannende Menschen. Und das Gefühl, einen Gang runterzuschalten. Denn obwohl Rom all das war, was ich erwartet hatte – laut, nervig und chaotisch – war es gleichzeitig total entspannend. Klar, ich war im Urlaub, aber ich habe ein bisschen Romgefühl in die Agentur retten können. Ich hoffe, ich vergesse es nicht wieder.

Aber deswegen schreibt man ja Blogeinträge.