Rom, Tag 3

Mittwoch, 18. Mai

Oder wie ich ihn nenne: Kirchentag. Auf den Programm stehen satte fünf Kirchen, nachdem wir gestern nach den kapitolinischen Museen schon in der zweiten nach dem Petersdom waren, genauer gesagt, in Santa Maria in Aracoeli. Dabei meinte der wunderbare Reiseleiter launig, wir seien mit der jetzigen Optik schon ziemlich spät dran, so um 1390. Sowas können auch nur Historiker_innen sagen.

Die Kirche hat mir sehr gut gefallen, vor allem, weil mir hier zum ersten Mal klargeworden ist, dass so ziemlich jedes neue Bauwerk sich anscheinend bei einem alten bedient. Ich war jahrelang nörgelig, weil ich wusste, dass viele Moscheen mit dem Marmor gebaut wurden, der mal die Pyramiden verkleidet hat – und nun stand ich in einer katholischen Kirche, in denen dutzende von römischen Säulen die Decke hielten. Lustigerweise waren sie alle unterschiedlich in Durchmesser, Farbe oder Maserung, und in dem Moment verstand ich auch, was mit „schon ziemlich spät dran“ gemeint war: Die meisten Tempel waren schon geplündert, die gleichmäßigen Säulen waren schon verbaut, und deswegen sieht diese Kirche eben etwas wuselig aus. Wie gesagt, mir hat sie gefallen, vielleicht gerade wegen der Wuseligkeit. Hier habe ich auch zum ersten Mal einen sogenannten Kosmatenfußboden gesehen, eine Art grafisches Mosaik. Der Fußboden hier sah eher nach Fingerübung als nach perfekten geometrischen Mustern aus, aber damit passte er sehr schön zu dem Säulengewimmel.

Aber damit nicht genug: In einer Seitenkapelle versteckte sich noch ein Bild, an dem man prima sehen konnte, wie die Malerei sich so langsam an die Zentralperspektive rangetastet hat: das Begräbnis des Heiligen Bernhardin von Pinturicchio. Die Linien auf dem Boden stimmen schon halbwegs und laufen fast gleichmäßig auf den Horizont zu, aber trotzdem hat jede Figur noch eine eigene Perspektive, was das ganze wieder sehr schräg wirken lässt. Ich vergesse manchmal, dass andere Zeiten andere Blickwinkel auf die Welt hatten, und deswegen mag ich solche Momente gerne, in denen die Welt mir das nochmal sagt. So nach dem Motto, vor dir war schon jemand hier, und es ist nicht alles mit dir zuende. (Hier bitte die Titelmelodie zu Es war einmal … der Mensch einspielen. Danke.)

Also: Petersdom – check. Santa Maria in Aracoeli – check. Dritte Kirche: Santa Maria Maggiore.

Santa Maria Maggiore ist eine der vier Kirchen, die eine sogenannte Heilige Tür haben. Das heißt, eine Tür, die nur im Heiligen Jahr, das alle 25 Jahre stattfindet, geöffnet wird. (Je länger die Woche dauerte, desto mehr seltsame Geschichten von und über und mit Katholik_innen habe ich gehört und mir irgendwann gedacht, ach, ich hab’s doch ganz gut bei den Evangelen, so mit ohne Firlefanz.) Das letzte Heilige Jahr war 2000, und zur Feier des Jahres haben alle vier Kirchen eine neue Heilige Tür gekriegt. Dass die dicke Bronzetür in dieser Kirche neu ist, erkennt man nicht nur an der Inschrift bzw. Ãœberschrift, die auf lateinisch verkündet, wer diese Tür schon geöffnet und geschlossen hat, sondern auch an der bildnerischen Darstellung des Jesus’.

Denn der gute Mann hat nicht, wie in alten Darstellungen üblich, die Wundmale in der Hand, sondern im Handgelenk, weil wir inzwischen glauben, dass bei Kreuzigungen die Nägel durch die Gelenke geschlagen wurden.

Und wer bisher bei meinen Rom-Erzählungen mitgelesen hat, weiß auch, was das hier ist:

Genau: ein Papstwappen. Wir erinnern uns? Die gekreuzten Schlüssel und die Mitra? Richtig. In diesem Fall gehört dazu noch ein M, das steht für Maria, und damit wissen wir, dass dieses Wappen Papst Johannes Paul II. gehört. Der hat im Jahre 2000 die Tür auch noch geöffnet.

Die Kirche besteht aus gefühlt 17 Baustilen; das ist auch das Besondere an ihr, denn anstatt den alten Kram abzureißen, hat man einfach jahrhundertelang übereinander und nebeneinander rumgebaut. Das heißt, wir haben einen Turm, der nicht so recht zum Portal passt, und zwei seitliche Anbauten, die aussehen wie Bürogebäude, und irgendwo dahinten ist noch eine Kuppel, die in Mode kam, als der Petersdom erbaut wurde, und dann schwebt über unseren Köpfen eine Kassettendecke, die vom Pantheon inspiriert wurde. Innen ist alles goldig und an den Betstühlen stehen verschiedene Sprachen, damit man als Tourist_in weiß, in welchen man gehen muss, wenn man auf deutsch, englisch oder spanisch beichten möchte. Netter Service. Ebenso netter Service: Laut des Reiseleiters ist Santa Maria Maggiore die einzige Kirche, in der seit Jahrhunderten jeden Tag eine Messe gelesen wird. (Ich habe mir leider nicht notiert, wann die Jungs damit angefangen haben.)

Mein persönliches Highlight war das Grab von Bernini, das auf Höhe des Hochaltars liegt, also einen richtig guten Platz hat. Ach, Gianninoschnuffel. Vor zwei Tagen wusste ich nicht mal, dass es dich gibt, und jetzt bin ich ein Groupie und verwackele aufgeregt deine Grabplatte.

Circa zehn Fußminuten entfernt liegt unser nächstes Ziel: Santa Prassede. Bei der Wikipedia finden sich sehr hübsche Fotos, die meine mal wieder locker übertreffen, und da könnt ihr auch alles nachlesen, was wir mündlich zu hören bekommen haben. Wobei ich geistig nur noch an Wurst gedacht habe, als der Reiseleiter meinte, die beiden Damen Praxedis und Schwesterlein, denen die Kirche geweiht ist, hätten in großen Kesseln das Blut christlicher Märtyrer gesammelt.

Wenn Sie sich bitte mal die Wikibilder angucken möchten? Da sieht man nämlich prima die Kassettendecke und den Kosmatenfußboden. Und vor allem ein Mosaik, das ich auch fotografiert habe –

–, weil mich daran dieses Detail so fasziniert hat. Es zeigt statt des gewohnten runden Heiligenscheins einen eckigen, was bedeutet, dass die betreffende Person noch lebt.

Nochmal zehn Fußminuten weg und laut Reiseleiter eine total hässliche Kirche: San Pietro in Vincoli. Sooo hässlich fand ich sie nicht, aber nach den schönen Decken und Fußböden, die wir schon gesehen hatten, war sie relativ schlicht. Der Grund, weswegen wir sie trotzdem dringend angucken mussten, ist das Grabmal von Papst Julius II. Das ist der Kerl, der den Petersdom in Auftrag gegeben hat, also nicht unbedingt eine kleine Nummer. Und deswegen fragte er auch einen Bildhauer von gewissem Ruf, ihm ein Grabmal zu meißeln, nämlich den Herrn Michelangelo. Es ist bis heute nicht klar, wie genau das Grabmal hätte aussehen sollen, aber man geht von haufenweise großen Statuen und Zeug aus. Blöderweise starb der Papst, als Michel gerade eine einzige Figur komplett fertiggestellt hatte. Die Nachfolger wollten nicht so recht mit der Bezahlung rausrücken, weswegen Michel einen Gang runterschaltete und nicht mehr ganz so eifrig am Marmor rumklöppelte, was dazu führte, dass er 50 Jahre später starb und es weiterhin nur eine Figur gab. Und die steht in der hässlichen Kirche – inmitten eines noch hässlicheren Grabmals.

Der Moses von Michelangelo ist wieder eine der Figuren, vor der man stundenlang rumstehen könnte, so lebendig sieht sie aus. Und so füchterlich wütend! Kein Wunder: Sie zeigt Moses direkt nach dem Abstieg vom Berg Sinai, wo er die zehn Gebote empfing, nur um nach den ganzen Mühen am Fuße des Berges zu sehen, wie wenig sich irgendwer für Regeln und Gebote interessierte. (Hat sich ja nicht großartig was geändert.) Deswegen verzieht er seine Stirn, deswegen puckern seine Adern unter der Haut, und deswegen sieht er aus, als würde er sich gleich erheben und die ganze Menschheit mal so richtig zusammenfalten.

Und über diesem gleich explodierenden Moses liegt – liegt! – ein Papst wie eine Bikininixe beim Sports-Illustrated-Shooting und guckt gelangweilt in der Gegend rum. Neben und unter ihm warten noch vier weitere Marmormenschen auf den Bus, aber eigentlich ist alles egal. Das ganze Grabmal sieht so schräg aus, als ob sich jemand einen riesigen Witz mit dem ollen Julius hätte erlauben wollen.

Nebenbei lief in der Kirche die ganze Zeit „Kuschelklassik für Kirchen“ über Lautsprecher, Händel, Bach, you know. Schnell zum Mittagessen in Richtung Kolosseum gehen und den Frust über das vergeigte Grabmahl mit dem belanglosesten Tomatensalat aller Zeiten bekämpfen.

Ein kleiner Verdauungsspaziergang führte uns zur meiner Meinung nach spannendsten Kirche des Tages: San Clemente, denn sie ist quasi drei Gebäude auf einmal. Über den Resten einer römischen Münzprägestelle wurde im 4. Jahrhundert eine kleine Kirche gebaut, die irgendwann einstürzte, worauf man auf ihren Resten um 1100 die nächste Kirche baute – und die kann man heute noch sehen. Aber dafür muss man erstmal einen guten Meter vom heutigen Straßenniveau runtersteigen, um dann wieder drei Stufen hochzuklettern, denn eine Kirche liegt immer höher als der Boden.

In der Kirche findet sich noch das sogenannte Schola Cantorum, ein abgetrennter Bereich, zu dem nur die Kurie Zutritt hatte, und der sich mitten in der Kirche vor dem Altar befindet. In späterer Zeit wurde der Unterschied von Kirchenmenschen zum Rest der Welt dadurch symbolisiert, indem man den Altarraum höher legte als die übrige Kirche.

Wir gehen jetzt allerdings nicht nach oben, sondern nach unten. Denn freundlicherweise sind durch Ausgrabungen sowohl die Kirche aus dem 4. Jahrhundert als auch die römische Münzprägestelle zu besichtigen. Eine Treppe führt uns ungefähr fünf Meter unter die Oberfläche, wo es riecht wie bei meiner Oma im Keller. Wir sehen die üblichen zusammengeklauten antiken Säulen, sogar ein paar Wandmalereien sind noch zu erkennen, und vor allem eine Gedenktafel zu Ehren des Kyrill von Saloniki, dem wir die kyrillische Schrift verdanken. Die Wandmalereien erzählen die Geschichte von Clemens I., dem die Kirche geweiht ist. Der Legende nach wurde er zum Tode verurteilt und mit einem Anker am Körper im Schwarzen Meer versenkt. Deswegen ist neben dem Fisch und Christusmonogramm auch der Anker ein Hinweis auf den christlichen Glauben.

Direkt neben der Gedenktafel geht es nochmal ein paar Jahrhunderte runter. Diesmal wird es nicht nur noch etwas muffiger, sondern: Man hört Wasser. Wir können durch mehrere Räume gehen, deren Böden teilweise mit einfachem Stäbchenmuster verziert sind. Riesige Steinquader zeigen, welche Wände Außenmauern waren. Ein sehr schmaler Gang, ich schätze 50 Zentimeter breit, trennt zwei Häuser voneinander, was ich mal wieder sehr anschaulich finde. So haben sich also Menschen vor 2000 Jahren gefühlt, wenn sie ihre Nachbarn besucht haben. Und immer noch hört man Wasser. In einem Raum können wir es schließlich sehen: Durch ein kleines Fenster guckt man in eine Rinne, durch die schnell kristallklares Wasser fließt (leider zu weit weg, um die Hand reinzuhalten und zu kosten). Man weiß nicht genau, woher die Leitung kommt und wo sie hinführt, aber sie könnte eine der Leitungen gewesen sein, die Nero anlegen ließ. Ich finde mal wieder alles ganz großartig: Die Zeit, die hier sichtbar wird, die Antike, die ich anfassen kann.

Wir klettern zwei Jahrtausende nach oben und werden in der Kirche von einer Pilgergruppe empfangen, die gerade singt. Die Zeit reicht leider nicht, um lange stehenzubleiben, denn wir haben ja NOCH EINE KIRCHE vor uns. In Rom stehen geschätzt 700 von den Dingern rum, und unser Reiseleiter meint, gerade in der Altstadt gibt es kaum eine Stelle, von der man keine Kirche sieht, ganz egal, wo man geht oder steht. Wir gehen. Unser Ziel: San Giovanni in Laterano.

Heilige Tür, Bischofskirche von Rom, riesengroß, von innen viel Gold und der üblich hübsche Fußboden und: Die Kirche ist fünfschiffig. Das kannte ich noch nicht. Außerdem habe ich noch einen weiteren Architekten bzw. Bildhauer kennengelernt: Francesco Borromini. Weitaus mehr als die Kirche hat mich der Kreuzgang beeindruckt, der einfach wunderschön und sommerlich-lauschig wie ein gemalter Italienurlaub aussah, vor allem, wenn man gerade aus der üblichen Marmorgoldmasse rauskam. Nichts gegen Marmor und Gold, aber allmählich hat’s gereicht. Wahrscheinlich gefiel mir San Clemente deswegen auch so gut, weil wir da das Marmorgold relativ schnell abhandelten und dann in die Antike kletterten. Nach der Lateransbasilika haben wir dafür anderen beim Klettern zugesehen: Die katholische Kirche ließ sich anscheinend ne Menge einfallen, um Leuten den Weg in den Himmel zu verkürzen. Einer davon war: Steig die Heilige Treppe auf Knien hinauf, und der Weg ist frei. Das machen viele Gläubige noch heute, und wir Touris gucken uns das an und achten auf die Taschendieb_innen im Gewühl rund um die Treppe.

Abends stand ein Essen in einem kleinen Restaurant auf dem Plan, das sich in Trastevere befindet, dem ehemaligen Arbeiterviertel von Rom. Heute sieht es aus, als würde an jeder Ecke ein Reiseprospekt geshootet – ich habe selten so viele rotkarierte Tischdecken, flackernde Kerzen und funkelnde Weingläser gesehen wie hier. Zudem steht an jeder Ecke eine kleine Kapelle, und die meisten machen sogar nette Musik. Mitten in Trastevere steht – wie kann es anders sein – noch eine Kirche, und obwohl unser Reiseleiter launig meinte, wir spazieren nur ein bisschen durchs Viertel und gehen dann essen, konnte er es natürlich nicht lassen, uns auch noch durch Santa Maria in Trastevere zu scheuchen. Ich habe mir zu dieser Kirche nichts notiert, ich war hungrig und müde und wollte irgendwo viel Wein trinken. Das taten wir im Restaurant dann auch: Zu meinen ersten – und garantiert nicht letzten – Spaghetti cacio e pepe und einem Saltimbocca (Gruppenbestellung, ich konnte es mir nicht aussuchen) genossen wir einen Rotwein und hörten einem weiblichen Gemeindemitglied von Sant’Egidio zu, das uns etwas über die Gemeinschaft und das Restaurant erzählte. Darin arbeiten behinderte und nicht-behinderte Menschen zusammen. Außerdem erwähnte sie, dass gleich ein Abendgebet stattfinden würde – in Santa Maria in Trastevere, ob wir die Kirche kennen würden?

Nach einer kleinen Abstimmung zogen wir also geschlossen wieder dahin, wo wir vor einer Stunde hergekommen waren und, tolle Idee, holten uns Kopfhörer und Funkis ab, denn der Gottesdienst wurde simultan übersetzt. Ich weiß nicht, in wieviele Sprachen, aber ich schätze, gut die Hälfte der Besucher_innen der recht gut gefüllten Kirche hatte Kopfhörer auf. Als die ersten Gesänge anfingen, schnappte ich mir ein Gesangsbüchlein und blätterte suchend umher – ich kann weder Italienisch noch kenne ich die katholische Liturgie, aber netterweise tippte mich jemand von hinten an, zeigte mir die richtige Stelle, und so konnte ich mitsingen. Großartig andere Texte als wir haben „die anderen“ auch nicht; ich glaube jedenfalls, dass das da unten alles Heilige waren, die sich unser erbarmen sollen. Oder uns vergeben sollen, ich bin zu faul zum Googeln.

Die Lesung aus der Bibel war, ehrlich gesagt, ziemlich fürchterlich in der Übersetzung, weil mir der getragene – oder zumindest bewusste – Tonfall des Priesters fehlte. Es klang recht hektisch und abgelesen, weswegen ich schnell den Kopfhörer abnahm und einfach so zuhörte, ohne irgendetwas zu verstehen. Die Predigt danach habe ich mir wieder übersetzen lassen, aber mir haben die vielen gesungenen Einlagen am meisten bedeutet. Das war wieder einer der besonderen Momente; Einkehr, Dankbarkeit, Freude, Gemeinschaft – und ein halber Liter Rotwein im Kopf und draußen das frühlingshafte Rom. Ich meine: Rom! Wie soll man da nicht aus vollem Halse singen.