Was schön war, Montag, 11. Juni 2018 – „Ithaca“

Bis kurz nach der Mittagszeit getextet; jetzt liefen die Zeilen endlich, die in den letzten Tagen irgendwie störrisch waren und noch nicht so, wie ich sie gerne habe. Fast alles weggearbeitet, was noch in der Pipeline liegt, letzter Text wird hoffentlich heute fertig, und dann habe ich wieder Zeit für die Kunstgeschichte.

Drei Liter Tee getrunken, weil’s lecker war, aber auch, weil es so scheißschwül war, dass nichts anderes ging. Selbst mein Go-to-Getränk – eiskalte Apfelschorle – wollte nicht so recht, zu viel Geblubber. Der Ventilator war im Dauerbetrieb, bis es abends gegen 20 Uhr endlich mal etwas auffrischte. Freue mich jetzt schon auf den Herbst.

Der Rest des Tages gehörte zunächst der FAZ, dann dem Internet, dann Masterchef Australia und einer Folge Suits. Und dann nahm ich mir das vorletzte Kapitel im Ulysses vor: Ithaca.

Die Wikipedia behauptet, „Die Handlung wird – mühsam und umständlich – in Form von pseudo-wissenschaftlichen Fragen und Antworten erzählt“, was ich überhaupt nicht so empfunden habe. Frage und Antwort, ja, oder auch gerne mal eine Anweisung: „Compile the budget for 16 June 1904“, worauf eine Liste mit Dingen und Preisen folgt, aber dass das „mühsam und umständlich“ gewesen sein soll, fand ich überhaupt nicht. Ich habe das Kapitel mit großem Genuss gelesen und hätte davon auch gerne noch weitere 50 Seiten gehabt, gerade weil ich es so spannend fand, dass das relativ strenge Format – Frage und Antwort – nie langweilig wurde, ganz im Gegenteil.

Das lag natürlich auch an den Fragen. Manche erforderten eine kurze Antwort, andere brauchten eine Seite. Zum Beispiel, als Bloom sich in der Küche die Hände waschen möchte, bevor er sich und Stephen einen Kakao zubereitet. Die total logische Frage, die uns allen auf der Seele brennt, lautet:

„What in water did Bloom, waterlover, drawer of water, watercarrier returning to the range, admire?“

Und die Antwort, nach der ich das Buch mal eben umarmen und F. eine schwärmische DM schicken musste, weil ich so verliebt in den Text war:

„Its universality: its democratic equality and constancy to its nature in seeking its own level: its vastness in the ocean of Mercator’s projection: its umplumbed profundity in the Sundam trench of the Pacific exceeding 8,000 fathoms: the restlessness of its waves and surface particles visiting in turn all points of its seaboard: the independence of its units: the variability of states of sea: its hydrostatic quiescence in calm: its hydrokinetic turgidity in neap and spring tides: its subsidence after devastation: its sterility in the circumpolar icecaps, arctic and antarctic: its climatic and commercial significance: its preponderance of 3 to 1 over the dry land of the globe: its indisputable hegemony extending in square leagues over all the region below the subequatorial tropic of Capricorn: the multisecular stability of its primeval basin: its luteofulvous bed: Its capacity to dissolve and hold in solution all soluble substances including billions of tons of the most precious metals: its slow erosions of peninsulas and downwardtending promontories: its alluvial deposits: its weight and volume and density: its imperturbability in lagoons and highland tarns: its gradation of colours in the torrid and temperate and frigid zones: its vehicular ramifications in continental lakecontained streams and confluent oceanflowing rivers with their tributaries and transoceanic currents: gulfstream, north and south equatorial courses: its violence in seaquakes, waterspouts, artesian wells, eruptions, torrents, eddies, freshets, spates, groundswells, watersheds, waterpartings, geysers, cataracts, whirlpools, maelstroms, inundations, deluges, cloudbursts: its vast circumterrestrial ahorizontal curve: its secrecy in springs, and latent humidity, revealed by rhabdomantic or hygrometric instruments and exemplified by the hole in the wall at Ashtown gate, saturation of air, distillation of dew: the simplicity of its composition, two constituent parts of hydrogen with one constituent part of oxygen: its healing virtues: its buoyancy in the waters of the Dead Sea: its persevering penetrativeness in runnels, gullies, inadequate dams, leaks on shipboard: its properties for cleansing, quenching thirst and fire, nourishing vegetation: its infallibility as paradigm and paragon: its metamorphoses as vapour, mist, cloud, rain, sleet, snow, hail: its strength in rigid hydrants: its variety of forms in loughs and bays and gulfs and bights and guts and lagoons and atolls and archipelagos and sounds and fjords and minches and tidal estuaries and arms of sea: its solidity in glaciers, icebergs, icefloes: its docility in working hydraulic millwheels, turbines, dynamos, electric power stations, bleachworks, tanneries, scutchmills: its utility in canals, rivers, if navigable, floating and graving docks: its potentiality derivable from harnessed tides or watercourses falling from level to level: its submarine fauna and flora (anacoustic, photophobe) numerically, if not literally, the inhabitants of the globe: its ubiquity as constituting 90% of the human body: the noxiousness of its effluvia in lacustrine marshes, pestilential fens, faded flowerwater, stagnant pools in the waning moon.“

(Zeilen 185–228, Gabler-Edition)

HACH! He, Wallace, THIS is water.

Zwischendurch war ich wie immer im Buch verzückt von schönen Formulierungen, die bei längerem Nachdenken keinen Sinn ergeben, aber schön klingen („with winedark hair“, Zeile 785) oder die schön klingen und viel zu viel Sinn ergeben wie „the ecstasy of catastrophe“, Zeile 786, oder:

„What events might nullify these calculations? [die Altersberechnung von Stephen und Bloom]

The cessation of existence of both or either, the inauguration of a new era or calendar, the annihilation of the world and consequent extermination of the human species, inevitable but impredictable.“ (462–465)

oder

„Alone, what did Bloom feel?

The cold of interstellar space, thousands of degrees below freezing point or the absolute zero of Fahrenheit, Centigrade or Réaumur: the incipient intimations of proximate dawn.“ (1242–1244)

Außerdem stolperte ich wieder über ein Wort, das ich jahrzehntelang mit mir herumgetragen habe, weil ich es in Nik Kershaws The Riddle hörte und danach nie wieder, bevor ich es 2007 im letzten Harry-Potter-Band wiederfand: scullery. Kerhshaw, Rowling, Joyce. Eine illustre Runde. Bitte schickt mir eine Nachricht, wenn ihr irgendwo in einem Buch das Wort scullery lest, ich behaupte, es wird so gut wie nie benutzt.

(Edit: Dass ich schon einige Mails und Tweets bekommen habe, die mich auf unter anderem Robert Frost, Shakespeare, Dorothy Sayers, P. G. Wodehouse, Kazuo Ishiguro, Julian Fellowes oder generell Bücher aus dem 19. Jahrhundert hingewiesen haben, macht mir klar, dass ich mich etwas ungeschickt ausgedrückt habe. Ich war über Harry Potter so erfreut, weil das altmodische Wort in einem neuen Zusammenhang vorkam. Dass die gute alte Waschküche oder die Dame, die in ihr arbeiten musste, in älteren Werken oder in jüngeren, die sich auf eine vergangene Zeit beziehen, vorkommt, hatte ich geahnt. (Dazu zählt natürlich auch Joyce.) Ich nehme aber gerne weitere Hinweise entgegen.)

Jetzt muss ich aber los, Penelope wartet.

Was schön war, Donnerstag bis Sonntag, 7. bis 10. Juni 2018 – Drinnen bleiben

Von Donnerstag bis Sonntag musste ich nur zum Einkaufen vor die Tür oder um Dinge aus der Packstation zu holen, was sich meist entspannt verbinden ließ. Ansonsten durfte ich im Heimbüro vor dem Ventilator texten, barfuß und in sehr bequemen Klamotten. Ich hätte zwar noch lieber einfach auf dem Sofa gelegen mit einem nassen Waschlappen im Gesicht, aber das war okay so.

Am Freitag lauschte ich einem Livestream mit Musik von Helmut Lachenmann. Die Übertragung aus dem Herkulessaal in München wird am 19. Juni von BR Klassik nochmal gesendet und ich lege euch die mal ans Herz. Alleine für die niedliche, gefühlt nur dreiminütige Verarsche auf Marschmusik.

Das längere My Melodies hat mich dann noch mehr fasziniert. In der ersten Hälfte war ich ein bisschen traurig, nicht selbst im Saal zu sitzen, aber bei diesem Stück war ich für den Stream sehr dankbar. Von unten aus dem Zuschauerraum hätte ich vermutlich nicht gesehen, wie die Bratschen ihre Bögen teilweise schräg über den Steg geführt haben, um ein sehr seltsames Klangbild zu erzeugen. Die Pauken wurden mit Putzbürsten bearbeitet, die Pianistin hatte diverse Dinge auf den Saiten ihres Flügels stehen, die Hörner und Posaunen pusteten ohne Mundstücke in ihre Instrumente, und überhaupt war ich sehr überrascht davon, wie wenig Lärm ein so großes Orchester erzeugen kann, obwohl alle irgendwie was zu tun haben.

Aus diesem Artikel über die Aussprache des Gendersternchens lernte ich, dass wir im Deutschen einen „stimmlosen glottalen Verschlusslaut“ haben. Bei der Lektüre des Artikels sprach ich diverse Wort zum ersten Mal bewusst laut aus („Ver-ein“) und war mal wieder über meine eigene Muttersprache erstaunt.

Samstag, später Abend. Vom Königsplatz wehte ein bisschen Metalmusique zu mir hinüber, F. schickte das passende Bildmaterial per DM, denn der Mann rockte mal wieder durch die Gegend, ich spielte Candy Crush und gönnte mir einen Whisky.

Mit einer meiner Hamburger Cheerleaderinnen telefoniert und in ein sehr seltsames Kaninchenloch gezogen worden.

„Ich gucke neuerdings total entspannende Videos von Frauen, die Seifenstücke zerschneiden.“

„Haben die Frauen was an? Musst du dafür was zahlen?“

Gestern durchschritt ich das drittletzte Kapitel vom Ulysses, das mir wie eine Pastiche (oder sogar Parodie) auf Proust, Dickens, Melville und die anderen Herren mit den langen Texten und den vielen Adjektiven vorkam. Das war mit Abstand das un-ulysseischste Kapitel im Buch, weil es sich so normal angefühlt hat. Und so sehr ich bei allen anderen Kapiteln zwar davon fasziniert war, dass ich Dinge lese und nicht weiß warum, weil ich nicht weiß, was das alles soll, aber gleichzeitig ein bisschen verlassen auf hoher See war, weil ich eben nicht wusste, wo es hingeht, so war ich hier auf einmal im sicheren Hafen total gelangweilt. Hier kenne ich ja alles! Werd bitte wieder irre, du seltsamstes Buch aller Zeiten!

Links von Sonntag, 10. Juni 2018 – Museen und ihre Besucher*innen

The Price of Shares

Ein längerer Artikel über Museen und ihren Einsatz von Social Media – bzw. den Einsatz der Besucher*innen. Autor Rob Horning beginnt mit einer Beschreibung einer Installation im MoMA, bei der man nicht fotografieren durfte, was ihn irritierte, schließlich dürfen wir alles und überall fotografieren. Bis man die Installation betrat, stand man in einer Schlange, und dort waren alle mit ihren Handy beschäftigt: „Being online goes so well with being on line.“

Erst als er sich in der Installation aufhält, fällt ihm auf, dass sein Handy bzw. sein Bezug darauf ihn etwas gekostet hat: seine aktive Teilnahme an seiner Umgebung:

„Even in a museum I’m always, in some way, connected, networked; my phone negates any effort to lift me to a transcendent plane of aesthetics or push me into a discomfiting social encounter with strangers. Phones promise a range of social experiences, opportunities to chat, flatter, impress, bully, seduce, or ignore other people. They let me calibrate my sense of personal distance, the degree to which I engage with what’s going on, make myself a lurker or a participant. The fact that I couldn’t use it inside the installation did not make me forget about it. In fact, I became even more conscious of it — the supposed enemy of aesthetic focus and bodily presence — and the curious sort of safe space inside the installation where I was forced to be free.“

Horning schlägt in seinem Artikel nicht den üblichen kulturpessimistischen Ton an, dass die bösen Smartphones uns der Welt entfremden. Aber er macht klar, dass sie unser Verhältnis zu unserer Umgebung verändern – und auch unser Verhältnis zu uns selbst und unserem Platz in der Welt.

Ich meckere ja auch gerne darüber, dass man in Museen nicht fotografieren darf, aber nicht weil ich dringend ein Selfie brauche, sondern weil ich gerne teile, was ich erlebe. Wenn ich ein Kunstwerk spannend finde, hoffe ich, dass andere es auch spannend finden. Wenn ich in einer Vorlesung so viele neue tolle Dinge lerne, möchte ich, dass auch andere sie lernen können, und deswegen schreibe ich sie ins Blog. Genau dieser Aspekt des Weitergebens und Vermittelns ist in einigen Museen aber nicht mehr der Hauptaspekt ihres Daseins; Horning benennt im Laufe des Artikels vor allem Newfields in Indianapolis, das mehr eine Bühne für Events sein möchte als ein stiller Ort der Kontemplation. Diese Erosion in der Aufgabe eines Museum begann für ihn mit Social Media. (Wobei amerikanische Museen, soweit ich weiß, unter sehr anderen Vorzeichen operieren als deutsche.)

„The discussion around social media and museums, like the discussion around social media in general, often focuses on the narcissistic compulsion to document ourselves in lieu of paying attention to what’s in front of us. But this critique sets up an untenable separation between our screens and our lives. Our phones not only remove us from our environment, they also allow us to renegotiate our relationship to it — to decide how and with whom we engage. That is, social media has created an expectation that public space is always measured. In the past two decades, museums largely moved from presenting their collections to facilitating relational experiences, and now their attempts to capitalize on the popularity of mobile phones and social media are causing a new shift: from orchestrated physical togetherness to an aloneness together.“

Der Autor geht auch auf eine neue Art von Kunstinstallationen oder Branding im urbanen Raum ein, die von vornherein dazu dienen, instagrambar zu sein; er nennt den Rain Room im LACMA, erwähnt auch Yayoi Kusamas Infinity Mirrors, wobei letztere meiner Meinung nach eher durch die vielen Instagram-Posts erst instagrambar geworden sind und nicht durch ihr Dasein. Er erwähnt aber auch die dreidimensionalen Schriftzüge in touristisch beliebten Städten wie das „I AMsterdam“ vor dem Rijksmuseum, vor dem jede*r ein Foto macht (ich auch).

„Social media and museums, on the surface, do have a lot in common. Both are, after all, fundamentally archives with exhibition spaces. Both share a preoccupation with “authentic content” and “meaningful expression,” to borrow some of Facebook’s language for what it claims to provide its users. But social media and museums go about supplying “authenticity” in necessarily different ways that, when combined, negate each other. What is authentic in social media relies not on provenance but appropriation: using borrowed or staged images to say something about your own identity.

“Traditionally,” Groys writes, “the gaze of the spectator was directed from the outside of the artwork towards its inside.” That is, the spectator was expected to look at art and try to understand it. But the pretense that the spectator is an elite or would-be elite who seeks the requisite training to enjoy the aesthetic experience has been nullified. “The gaze of the contemporary museum visitor,” Groys continues, “is, rather, directed from the inside of the art event towards its outside — towards the possible external surveillance of the event and its documentation process, towards the eventual positioning of this documentation in the media space and in the cultural archives.” That is, visitors now come to think about their own place in the event they have elected to participate in.“

Wie kommen Nicht-Besucher ins Museum?

Es ist ja nicht generell schlecht, dass man sich mehr Besucher*innen ins Haus holen möchte, sei es nun durch außenwirksame Events oder Blockbuster-Ausstellungen. Aber manchen Museen geht es um mehr: Sie wollen schlicht ein Raum ohne Schwellenangst werden. Die Kunsthalle Mannheim hat nach einem großen Umbau zum 1. Juni neueröffnet und versucht, durch digitale Strategien, aber auch durch ihre Architektur und Hängung ein eher bewegliches Museum zu werden.

„Die Kunsthalle Mannheim soll ein Ort für alle sein – besonders für die Menschen, die in Mannheim leben, erklärt Ulrike Lorenz. „Unser Atrium im Museum ist für alle frei zugänglich, ohne Eintritt. Und jeder ist eingeladen, hier her zu kommen, sich im Museum aufzuhalten und auch unser freies WLAN zu nutzen. Das wollen wir auf jeden Fall bewerben, denn für uns ist das die Möglichkeit, dass Menschen einfach überhaupt den ersten Kontakt zu einem Museum haben können.“

Die Museumsdirektorin wünscht sich, dass so auch Nicht-Besucher in Kontakt mit dem Museum kommen und feststellen, dass ein Museumsbesuch auch Spaß machen kann und dass er vielfältiger und spannender ist, als man es sich vielleicht vorher vorgestellt hat. „Ich mag hier den Ausspruch des Schweizer Künstlers Rémy Zaugg, der einmal gesagt hat: In ein Kunstmuseum zu gehen, soll nicht ungewöhnlicher sein, als in einen Autobus zu steigen. Wir wollen diese Art von Alltäglichkeit demonstrieren und auch nachprüfbar machen. Als Kunsthalle Mannheim werden wir den Leuten die Schwellenangst und Bedenken nehmen. Wir wollen zeigen: Es gibt einen solchen Reichtum hier, nehmt ihn euch – er gehört vom Prinzip her euch. Ihr seid die Besitzer dieser Sammlung. Nehmt unsere Angebote an und macht eure eigenen Angebote, wir wollen mit euch ins Gespräch kommen.““

Wolfgang Ullrich hat zu diesem Thema mit der Museumsdirektorin Ulrike Lorenz ein Streitgespräch geführt, es ist hier in Auszügen lesbar.

Ein fragendes Dankeschön …

… an die gleiche Schenkerin oder den gleichen Schenker von vorgestern. In meiner Packstation lag gestern ein weiteres Paket, wieder ohne Absender oder Grußbotschaft, aber immerhin auch wieder mit Lieferschein, so dass ich den Versender wusste sowie eine Kundennummer sehen konnte, nach der ich beim äußerst freundlichen Service fragen konnte. Da die Bücher nicht so ganz auf meiner Leselinie liegen, ahne ich, dass hier vielleicht ein Fehler passiert ist und diese Sendung gar nicht für mich bestimmt war, sondern eher für den oder die Absender*in. Vermutlich war meine Adresse noch im Bestellfeld, und deswegen liegen die drei Bücher jetzt hier. Wenn du der oder die freundliche Schenker*in bist, dann melde dich doch bitte kurz unter mail ät ankegroener Punkt de und nenne mir die Titel, dann schicke ich dir dein Paket weiter. Falls die Bücher wirklich für mich gedacht waren und ich jetzt gerade irre undankbar rüberkomme, dann tut es mir leid. Es sieht nur wirklich so aus, als wäre da ein Fehler passiert, und da ich leider nicht weiß, wer du bist – und Thalia es mir natürlich nicht sagen darf –, versuche ich es halt übers Blog.

(Wenn die zwei Kunstgeschichtsbücher auch nicht für mich waren, sag Bescheid. Noch habe ich nicht darin rumgemalt.)

Ein doppeltes Dankeschön …

an eine unbekannte Spenderin oder einen unbekannten Spender, die oder der mich gleich mit zwei Büchern überrraschte, die nicht auf meinem Wunschzettel standen.

Das erste Buch ist ein schmales Überblicksbändchen von Hilja Droste und Ines Lauffer, Kleine Kunstgeschichte Deutschlands. Es beschränkt sich nicht auf Malerei, sondern schaut auch auf Skulptur und Architektur, sofern es auf 200 Seiten überhaupt möglich ist, 1200 Jahre anzuschauen. Ich finde es natürlich spannend zu sehen, wie man auf so wenig Platz die Zeit zwischen 1933 und 1945 erwähnt; hier gibt es immerhin zwei Seiten zur neoklassizistischen NS-Architektur, der Schwabinger Kunstfund wird erwähnt, und die Aktion „Entartete Kunst“ bekommt einen einzigen Satz. Hm. Naja. Das ist ein sehr persönliches Interesse, schon klar. Trotzdem. Ich bin mir nicht sicher, ob die generelle Idee hinter dem Buch eine gute ist, vor allem, weil die Autorinnen selbst schon im Vorwort sagen, dass es kaum eine „deutsche“ Kunstgeschichte sein kann, wenn man bei den Karolingern anfängt, die sich vermutlich noch recht undeutsch gefühlt haben. Aber als allererster Überblick ist das Büchlein gut; mir hat auch der Schreibstil gefallen. Und Italia und Germania ist unter anderem auf dem Titel abgebildet, und da ich das Bild sehr mag, gibt’s noch einen Sympathiepunkt.

Das zweite Buch, Stephen Farthings Kunst. Die ganze Geschichte, macht schon mit dem Titel ein noch größeres Fass auf. Darüber habe ich zuerst sehr gegrinst, dann das Buch aber doch interessiert durchgeblättert. Farthing beginnt mit Höhlenmalereien und der, wie er es in Anführungsstrichen nennt, „Land Art“ der Nazca-Linien. „Land Art“ wird in der Kunstgeschichte eigentlich erst für Performances oder Skulpturen ab den 1960er- und 1970er Jahren verwendet – ich fand seine Idee aber recht clever, denn was sind diese Linien sonst?

Sein dickes erstes Kapitel heißt „Urgeschichte bis ins 15. Jahrhundert“ und beschränkt sich nicht nur auf die üblichen Verdächtigen Ägypten, Griechenland, Rom, sondern ergänzt diese Reiche um westafrikanische, buddhistische und frühe islamische Kunst. Auf eine ähnliche Idee ist Altmeister Ernst Gombrich in seinem Standardwerk Die Geschichte der Kunst auch schon gekommen, aber er verweist eben noch auf den gelernten Kanon – wobei er immerhin einen kurzen Blick auf China und Japan wirft, aber ich glaube, Afrika kommt bei ihm überhaupt nicht vor. Was ich noch überhaupt nicht kannte, aber jetzt dank Farthing schon: präkolumbianische Kunst wie diesen olmekischen Kolossalkopf.

Im Kapitel über das 17. bis 18. Jahrhundert spricht er eben nicht nur über den Barock oder das Goldene Zeitalter der Niederlande, sondern auch über die Rajputen-Malerei (nie gehört) oder die Volkskunst Ozeaniens. Das macht Farthing also eindeutig besser als Gombrich, was die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Kunststilen weltweit angeht, aber generell bleibt er, sofern ich das nach dem gestrigen Überfliegen beurteilen kann, eher an der Oberfläche. Die gezeigten bzw. erläuterten Werke des westlichen Kanons sind die, die in jedem Überblickswerk drin sind, da gibt’s also keine Überraschungen. Das Buch ist mir manchmal auch ein bisschen zu besserwisserisch; ich habe mir unter anderem die Arnolfini-Hochzeit und natürlich die Kreuzabnahme von van der Weyden durchgelesen, und da wird mir manchmal ein bisschen dick aufgetragen anstatt wie bei Gombrich mitreißend beschrieben. Aber auch das ist Geschmackssache.

Immerhin hatte ich nach dem kompletten Durchblättern das Gefühl, im Studium wirklich alles Wesentliche (der westlichen Kunst) mitbekommen zu haben; das war auch mal ganz nett, das so vorgeführt zu bekommen. Daher: Vielen Dank für das Geschenk, von wem es auch immer kommen mag – ich habe mich sehr gefreut.

„Alles klappt“ (Uraufführung), 6. Juni 2018

F. und ich hatten bei einem Konzertbesuch festgestellt, dass wir öfter zeitgenössische Musik hören möchten. Daher schauten wir schon vor längerer Zeit ins Biennale-Programm und entschieden uns für eine Uraufführung eines kurzen Musiktheaterstücks von Ondřej Adámek, „Alles klappt“, im Marstall des Residenztheaters. Der Ankündigungstext sprach von Archivalien, die durch die Archivar*innen plötzlich zu sprechen beginnen, wenn ich mich richtig erinnere (ich finde ihn nicht mehr online), aber um welche Archivstücke aus welcher Zeit es sich handelte, stand dort meiner Meinung nach nicht.

Das erfuhren wir erst Mittwochabend vor Ort aus dem Programm und mir wurde ein bisschen mulmig: Der Komponist verarbeitete unter anderem Stücke aus seinem Familiennachlass, genauer gesagt, Postkarten aus Theresienstadt und Auschwitz-Birkenau. Dem Programm beigelegt waren eine undatierte Karte aus Theresienstadt und zwei aus Auschwitz, letztere von Januar und April 1944, auf denen eine Mutter an ihren Sohn in Prag schrieb. Auf diesen befindet sich auch der Stempel mit dem Hinweis, dass eine „Rückantwort nur auf Postkarten in deutscher Sprache über die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ zu geschehen habe. Eine Karte ist erkennbar in Charlottenburg abgestempelt worden, bei der anderen fehlen Briefmarke und Stempel.

Das Stück begann damit, dass der Komponist und Dirigent mit einem Metalldetektor den Bühnenboden absuchte, aber nichts fand. Danach traten nacheinander sechs Sänger*innen und zwei Percussionist*innen auf; einige schoben hölzerne Kisten, andere Schlaginstrumente, die nach und nach von den Musiker*innen bearbeitet wurden. Der Sprechgesang der sechs begann mit – ich hoffe, ich erinnere mich halbwegs korrekt – Beschreibungen von Werterhaltung und Wertzuwachs. Es wurden Möbelstücke und ihre Anzahl aufgezählt, wobei der Sprechgesang stets rhythmisch blieb. Mir fiel erst nach gefühlt zehn Minuten auf, dass der Rhythmus mich an Eisenbahnen und ihr Rollen über Schwellen erinnerte. Es wurde von Menschen auf Transporten gesprochen, immer mehr Instrumente kamen auf die Bühne, Text und Bühnengestaltung ergänzten sich hier sehr intuitiv. Es wurde voller und enger auf der Spielfläche und die gesprochen-gesungenen Zahlen immer höher.

Die sechs Archivar*innen nahmen Gegenstände aus den Holzkisten und wickelten sie in durchsichtige Folie ein, während im Hintergrund Luftpumpen, Blasebälge und eine Sprühdose bearbeitet wurden, mit der man per Druckluft Computerkeyboards reinigen kann. Für mich waren das alles Anspielungen darauf, dass viele der Menschen auf den Transporten keine Luft bekamen – und ein Hinweis auf ihr gewaltsames Ersticken in den Gaskammern.

Die Nennung von Möbelstücken und Orten, aus denen sie kamen, erinnerte mich an die Listen, die ich aus Auktionskatalogen kannte, wo eben nicht nur Bilder und Wertgegenstände der deportierten oder vertriebenen Menschen versteigert wurden, sondern auch Tische, Stühle, Blumenvasen und Kleidung. Die Gegenstände, die unter anderem aus den Kisten geholt wurden, waren einmal, wenn ich das richtig erkannt habe, ein Radio (das jüdische Bürger*innen seit 1939 nicht mehr besitzen durften) und ein Koffer (bei dem ich sofort die Sammlung von Koffern in Auschwitz vor Augen hatte).

Dann trat aber eine Archivarin an eine Kiste und holte eine Brille hervor (auch bei ihr musste ich an die Sammlung in Auschwitz denken). Sie packte sie allerdings nicht in Folie ein, sondern setzte sie auf – und die Besitzerin der Brille sang nun durch sie. Sie sang sinngemäß oder teilweise wortwörtlich die Texte, die wir vorher auf den Postkarten schon hatten lesen können: „Wir sind alle gesund. Seid ihr? Alle danken wir herzlichst für die Postpakete, kamen in Ordnung an. […] Dürfen nur selten schreiben, seid daher unbesorgt, wenn wenig Berichte. Haben uns gut eingewöhnt. Wohne in großem Zimmer gemeinschaftlich. In Gedanken stets bei euch. Wir sehen einander täglich in freier Zeit, arbeiten fleißig.“ (undatierte Karte aus Theresienstadt)

Ein anderer Archivar nahm nun ein Gemälde aus einer Kiste und sang auf tschechisch. Es gab deutsche und englische Übertitel, für die ich recht dankbar war, denn der Klang setzte sich aus Percussion und mehrstimmigem Gesang, der meist eher eine geräuschvolle Wortproduktion war, zusammen. F. meinte nach dem Stück, er habe sehr auf die Percussionist*innen geachtet, während ich die irgendwann völlig vergaß, weil ich so mit den Worten beschäftigt war. Ich versuchte bei jedem Satz zu ergründen, woher er wohl stammte: von einem Reichsgesetzblatt oder der letzten Postkarte, die ein Häftling aus einem Konzentrationslager schrieb? Das war alles andere als ein entspannter Theaterabend, aber ich war gleichzeitig fasziniert, verstört, begeistert und traurig und klatschte danach auch sehr lange.

Aber soweit waren wir noch nicht. Nach dem Gemälde, bei dem ich wirklich kurz davor war zu heulen, weil es so nah an dem ist, was ich tagtäglich mache und bei dem ich immer noch hadere, ob ich meine Kraft nicht lieber für Provenienzforschung einsetzten sollte anstatt einem anscheinend eher unbedeutenden, systemkonformen Maler der NS-Zeit nachzuspüren, kamen Gegenstände, über die ich erst nachdenken musste. Eine Archivarin entnahm der Kiste eine Pflanze, ein Archivar eine Peitsche. Bei der Pflanze dachte ich mir, dass sie vielleicht auf den Stellen wächst, an denen früher Lagerbaracken standen, bei der Peitsche dachte ich daran, dass viele Häftlinge gezwungen wurden, sich gegen ihre Mithäftlinge zu stellen. Die vorletzte Archivarin nahm eine große Flasche Kölnisch Wasser und übergoss sich damit, was ich einerseits mit Reinwaschen und andererseits mit Erinnerungen wegwaschen verband – und was den Weg ebnete für den letzten Archivar.

Dieser trug einen grauen Anzug, dessen Jackett er ablegte, bevor er die letzte Kiste öffnete. In ihr befand sich schwere, schwarze Erde, die er nun mühevoll mit beiden Händen und ausgebreiteten Armen auf dem Bühnenboden verteilte. Dann nahm er seinen Kolleg*innen ihre jeweiligen Gegenstände ab und vergrub sie, während alle weiterhin Postkartentexte, Vorschriften oder Sätze über Werterhalt und Besitz sprachsangen. Für mich war das Ablegen des Jacketts ein Bezug auf die vielen Deutschen, die nach 1945 ihre Uniformen vergruben oder verbrannten, die Orden vernichteten und ihre Identität neu aufstellten – oder auf Schreibtischtäter wie Eichmann in grauen Anzügen, die sich eben nicht die Hände schmutzig machten, aber natürlich genau die gleiche Verantwortung trugen.

Schließlich war alles vergraben, der Archivar verdreckt und verschwitzt, die anderen sangen „Schreibt bald“, wobei aus dem ersten Wortteil ein lautes SCHREI- wurde, bevor daran noch ein leistes -bt gesetzt wurde. Die Percussion wurde immer lauter und lauter – und dann war es still. Ich dachte noch, nee, das ist ein doofes Ende, als ein neuer Sprechgesang begann. Den Text konnte ich zunächst nicht zuordnen, er ging ungefähr so: „Ich vermisse meine Gegenstände. Ich wollte nur ein stilles Leben mit meinen Gegenständen.“ Und ich dachte, das ist ja ein noch blöderes Ende, wieso reden wir jetzt über Dinge, wo wir eben so zutiefst menschliche Texte gehört hatten? Bis mir auffiel, dass eben diese Dinge das einzige sind, was noch von ihren Besitzer*innen übrig ist. Ein Koffer. Ein Bild. Eine Brille. Und wir Historiker*innen suchen mit Metalldetektoren oder Archivfindmitteln nach diesen Dingen und nach irgendjemandem, dem wir Schmuck oder Bilder oder Bücher in die Hand drücken können, als ob damit irgendwas wieder gut werden würde.

Gestern, nachdem ich alles ein bisschen hatte sacken lassen können, gab ich den Namen der Absenderin der Postkarten in die Datenbank für die Opfer der Shoah in Yad Vashem ein. Ich hatte sinnloserweise die winzige Hoffnung, dass die Schreiberin den Holocaust überlebt haben könnte. Hat sie nicht. Malvine Pokorny, geboren am 3. Mai 1873, wurde am 15. Dezember 1943 von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert, wo sie zu einem unbekannten Zeitpunkt verstarb. Ihre Postkarte vom 15. April 1944 an ihren Sohn Alfred lautete:

„Geliebter Sohn,
bin gesund. Karte 26.1. 16.3 erhalten, sehr erfreut. Alles in bester Ordnung nach meiner [?] und Eurerem Wunsche. Innigste Grüße allerseits. In größter Dankschuld und Liebe
Mutter.“

Das Stück ist heute und morgen noch im Marstall um 20 Uhr zu sehen, am Sonntag um 17 Uhr. Am 14. Juli wird die Aufführung, die wir gesehen haben und die aufgezeichnet wurde, bei BR Klassik um 20.05 Uhr zu sehen hören sein. Ich werde euch definitiv daran erinnern.

Was schön war, Mittwoch, 6. Juni 2018 – Rakel

Mittwoch ist Eichhörnchenvorlesungstag. In der letzten Sitzung, die ich zu faul war zu verbloggen, sprachen wir über die „Handschrift“ von Künstler*innen – also ihre visuellen Eigenarten, der bestimmte Pinselstrich oder ähnliches; van Gogh drängt sich hier geradezu als Beispiel auf. Jahrhundertelang war eben diese Handschrift vernachlässigt worden – ich schrieb bereits darüber, dass das geistige Konzept hinter einem Werk als wichtiger angesehen wurde als dessen Ausführung. In der Akademiemalerei im Frankreich des 19. Jahrhunderts erreichte diese Idee seinen Höhepunkt, indem per Blaireautage, der Nachbearbeitung mit dem Dachshaarpinsel, jede vorherige Pinselschraffur geglättet oder ganz getilgt wurde, so dass keine Spur mehr davon zu sehen war, dass dieses Kunst-Werk ein Hand-Werk war.

Interessanterweise sorgte auch die Fotografie dafür, dass diese Haltung überdacht wurde. 1856 fotografierte das Studio Mayer & Pierson in Paris den Comte Cavour. 1862 verfremdete ein anderes Fotostudio diese Aufnahme, woraufhin Mayer & Pierson die erste Copyrightklage der Fotografiegeschichte einreichten. (Auf gemalte Werke gab es seit 1793 ein Copyright.) Daraufhin wurde erstmal diskutiert, ob die Fotografie überhaupt eine Kunst sei, denn ein Fotograf sei praktisch nur ein operateur einer Maschine. Trotzdem kam man nicht ganz darum herum, sich auch über das Konzept, die geistige Idee hinter einem Werk zu unterhalten, die hier offensichtlich kopiert wurde, auch wenn es in diesem Fall noch nicht zu einer Verurteilung wegen Copyrightsbruch reichte.

Wir begannen die letzte Sitzung mit dem Hinweis von Meyer Shapiro, der in den 1960er Jahren, wenn ich mich richtig erinnere, etwas überspitzt meinte, Kunst, auch bzw. gerade die abstrakte, sei zutiefst human, denn Gemälde und Skulpturen seien die letzten wirklich handgemachten Gegenstände der Moderne. Gestern sprachen wir dann über Gerhard Richter und seine Rakel, mit der er quasi jede eigene Handschrift negiert und nur (?) sein Werkzeug Spuren hinterlassen lässt.

Der Dozent verwies hierbei natürlich auch auf den Film Gerhard Richter Painting, aus dem wir viele Stills zu sehen bekamen, in dem er, soweit ich mich erinnere, fast dauernd mit der Rakel in der Hand an seinen Bilder vorbeischreitet, sie gerne noch ein bisschen hängen lässt und dann wieder an ihnen arbeitet. Ganz eventuell bezieht sich dieser hübsche Cartoon von 2013 darauf; der Film kam 2012 in die US-amerikanischen Kinos.

Der Dozent meinte, dass sich die Kunstgeschichte bisher noch nicht mit der Rakel Richters auseinandergesetzt habe und trug uns daher seinen eigenen Katalogbeitrag vor, der demnächst zu einer Richter-Ausstellung im Museum Barberini erscheinen wird. Den Katalog empfehle ich euch einfach mal, denn das war eine äußerst spannende Sitzung, auch wenn ich Richters Spätwerk immer noch etwas misstrauisch gegenüberstehe.

Für mich interessant: die Rakel, wie der Duden sie nennt, wird in vielen deutschen Publikationen zu dem Rakel, warum auch immer (hier bitte die üblichen geistigen Abrisse zu Männer = Kunst, Frauen = Frauenkunst einfügen). Im Englischen wird aus diesem Werkzeug gerne squeegee anstatt wie vorbildlich in der Wikipedia beim Spracheumschalten doctor blade, wobei letzteres ein Werkzeug aus dem Druckverfahren bezeichnet, ersteres aber das Gummiding zum Fensterputzen. Daher finden sich in der englischen Literatur zu Richters Rakelwerken auch gerne Vergleiche zu Seifenspuren wie nach dem Fensterputzen, generell der Hinweis auf Leinwände als Fenster zu irgendwas oder eben das Versperren desselben durch Farbe. In der deutschen Literatur fehlen diese Assoziationen völlig. (Hier bitte die üblichen geistigen Abrisse zu „Aber Sprache ist doch egal, die formt unser Denken doch nicht und Frauen sind halt mitgemeint“ einfügen.)

Nochmal zur Handschrift: Richter meint selbst zu seinen Rakelwerken, dass er bei ihnen eher etwas entstehen lasse anstatt etwas zu kreieren. Vermutlich ist das genau mein Problem mit den Dingern; anscheinend hänge ich auch noch an dem ollen Renaissancekonzept, dass die Idee hinter einem Werk wichtig ist, und ich habe Probleme mit Werken, die einfach irgendwie da sind. Obwohl ich sie schon gerne anschaue. Ja, auch die Rakeldinger (hier ein winziger Ausschnitt).

Richter selbst nennt sein Werkzeug übrigens Spachtel, jedenfalls in diesem Monsterwerk, indem er sich genau zweimal darauf bezieht, und beide Male sagt er nicht Rakel. Vermutlich bezieht er sich auf Courbet; auch über ihn und seine Palettmesser schrieb ich bereits. Zwei seiner Bilder rekurrieren sogar bewusst auf diesen Maler.

Dann ging es um August Strindberg, von dem ich bisher nicht wusste, dass er auch gemalt hatte. Hat er aber, und angeblich stammt von ihm die Idee der Farbresteverwertung auf Paletten (ich hoffe, ich habe mir das richtig notiert). In der Sitzung über Paletten hatten wir bereits erfahren, dass einige Maler*innen aus den Farbresten auf der Palette noch ein Bild schufen – eben auf der Palette. Strindberg nutzte diese Reste aber nun und malte aus ihnen ein neues Bild; er zwang sich selbst quasi dazu, aus einer vorgegebenen Farbauswahl ein Motiv zu schaffen. Richter machte mit seinen Rakelbildern etwas ähnliches: Nachdem ein Bild fertig war, streifte er die noch farbige Rakel auf bereitliegenden, meist belanglosen Urlaubsfotos ab (Beispiel „Firenze“). Keine Ahnung, ob das ein bewusster Bezug ist oder ein simpler Zufall, aber sowas mag ich. (Dass Richter sich fast von Anfang an mit Fotografie und ihre Verwendung in der Malerei interessierte, dürfte Dauerleser*innen dieses Blogs bekannt sein; in meiner MA-Arbeit bezog ich mich auf frühe Gemälde, für die er per Episkop Fotos auf die Leinwand projizierte und sie nachmalte. Mein übliches Beispiel: Onkel Rudi.)

Wir sprachen auch über andere Bezüge von Künstlern auf Künstler. Richters Rakel waren auch hierfür der Ausgangspunkt, denn der Fotograf Timo Schmidt baut sie nach und fotografiert sie. Ein anderes Werk in diese Richtung wäre Rauschenbergs Erased de Kooning: Hierfür hatte Rauschenberg de Kooning um ein Bild gebeten, das er ausradieren wollte. Nach anfänglichem Zögern überließ de Kooning Rauschenberg ernsthaft ein Bild, das dieser, wie angekündigt, ausradierte. Über 50 Jahre später schuf J. Newton das Werk Not Rauschenberg’s Eraser, eine Plastikbox mit Radiergummis darin.

Richter verarbeitete Palettenreste noch anders. Für seine Serie Ausschnitt fotografierte er winzige Details seiner farbbeschmierten Palette und malte diese Fotos dann übergroß nach. Ein Ausschnitt-Bild trägt den Zusatz Makart. Es bezieht sich auf den Maler Hans Makart, der ebenfalls gerne auf seinen Paletten malte. Der Dozent erzählte die Geschichte von Makarts riesigem Schinken (seine Worte) „Der Einzug Karls V. in Antwerpen“, das ich aus der Hamburger Kunsthalle kenne. Das Ding kostete damals so viel wie ein Viertel des gerade neu errichteten Gebäudes – oder wie der Dozent es ausdrückte: so viel, wie heute ein Richter kostet. Angeblich erhoffte sich die Kunsthalle von dem damals sehr angesagten Maler einen ähnlichen Coup wie der Louvre mit seiner Mona Lisa, die schon damals die Massen anzog. Dummerweise war Makart recht schnell den meisten Leuten egal – so wie übrigens heute auch der Kunsthalle. Das Bild ist zu groß, um es umzuhängen, weshalb es seit dem Umbau vor kurzer Zeit nun fieserweise für die Besucher*innen unsichtbar hinter einer eigens errichteten Gipswand hängt. Von mir aus könnte die Neue Pinakothek das mit den ganzen Pilotys auch so machen. Wobei ich Makarts Falknerin dort gerne anschaue. Und ich vermisse ein bisschen den großformatigen Richter am Aufgang der Pinakothek der Moderne. Wo hängt der eigentlich gerade?

Links von Mittwoch, 6. Juni 2018

Children of ‘The Cloud’ and Major Tom: Growing Up in the ’80s Under the German Sky

Adrian Daub schreibt über seine Jugend in den 80er Jahren in Kaiserslautern, in dessen Himmel amerikanische Militärflugzeuge flogen.

„During those years, even the cheeriest pop songs were about potential horrors. One result of the English version of Nena’s “99 Luftballoons” becoming a hit is that few Americans realize the song is actually about a scenario not unlike one of Pausewang’s cautionary tales. The titular balloons drift across the sky, are mistaken for a Soviet incursion, and trigger “99 years of war.” And in the end, the singer, surveying a world of rubble, lets fly another balloon—and this time, because the world has ended, because there are no more fighter wings, no more Pershing missiles, no more generals, she can let it go without anyone mistaking its meaning. It’s a wild song precisely because it seems to be about so little and is about so much.

*

The German sky I knew was a shared sky—shared with the Communist East and the Western Allies, with radioactive clouds and acid rain, with Major Tom and Mathias Rust. It was also somewhere we encountered, right above our homes, something far less certain and far more exciting than the heavy exposed-concrete buildings on the ground. Even in K-Town, where only America loomed overhead, the sky contained multitudes: twinkling distant AWACS, protective Pershings, A-10s with their uranium-covered payload, rumbling Galaxies, Miles Davis flying in for his concerts, wounded soldiers airlifting in, burn victims airlifting out. Was it crazy to imagine Major Tom somewhere in between them?“

(via @hanshuett)

Maybe She Had So Much Money She Just Lost Track of It

Jessica Pressler über eine junge Frau, von der keiner so genau weiß, wer sie ist und was sie tut. Spoiler: Inzwischen sitzt sie im Gefängnis. Wie sie dorthin gekommen ist, liest sich sehr aufschlussreich.

„Despite her seemingly nomadic living situation, Anna had long been a figure on the New York social scene. “She was at all the best parties,” said marketing director Tommy Saleh, who met her in 2013 at Le Baron in Paris during Fashion Week. Delvey had been an intern at European scenester magazine Purple and appeared to be tight with the magazine’s editor-in-chief, Olivier Zahm, and its man-about-town, André Saraiva, an owner of Le Baron — two of “the 200 or so people you see everywhere,” as Saleh put it: Chilterns and Loulou’s in London; the Crow’s Nest in Montauk; Paul’s Baby Grand and the Bowery Hotel; Frieze, Coachella, Art Basel. “She introduced herself, and she was a sweet girl, very polite,” said Saleh. “Then we’re just hanging with my friends all of a sudden.”

Soon, Anna was everywhere too. “She managed to be in all the sort of right places,” recalled one acquaintance who met Anna in 2015 at a party thrown by a start-up mogul in Berlin. “She was wearing really fancy clothing” — Balenciaga, or maybe Alaïa — “and someone mentioned that she flew in on a private jet.” It was unclear where exactly Anna came from — she told people she was from Cologne, but her German wasn’t very good — or what the source of her wealth was. But that wasn’t unusual. “There are so many trust-fund kids running around,” said Saleh. “Everyone is your best friend, and you don’t know a thing about anyone.”

(via Julians Schmidlis Newsletter, den ich sehr mag)

Translating “The Americans,” and Seeing a Mirror of My Own American Experience

Masha Gessen, die als Kind 1981 aus der Sowjetunion in die USA kam, übersetzte drei Staffeln lang die russischen Dialoge in The Americans, einer Show, der ich seit letztem Mittwoch nachtrauere.

„It wasn’t just any Russian, either. The show begins in 1981 and ends in 1987, just before the language began to follow, and to facilitate, the country’s transformation by absorbing hundreds of words from foreign languages — office, bucks, management, and so many others that capitalism brought with it, but also electoral’niy, exit poll, and more to describe the mechanics of democracy — and by creating brand-new slang. When I went back to the Soviet Union, in 1991, after a ten-year absence, I had to learn a slate of slang terms, get comfortable with the use of newly absorbed foreign terms, and, more subtly, note that cognates had migrated to include meanings that they had in other languages. (For example, the Russian detali now meant not only small parts of a physical structure but also details of an event, or of anything else.)

This experience meant I was perfectly situated to translate into a Russian of the early nineteen-eighties. My language wasn’t exactly frozen in time — I ended up living and working in Moscow for more than twenty years after my 1991 return — but I did remember the words and expressions I had to learn anew. I tried to make the Russian dialogue free of such anachronisms. Beautifully and strangely, the creators of “The Americans” indulged and even encouraged this quest for quality in a near-vacuum: only a tiny fraction of viewers could understand Russian at all, and a disappearingly small portion of this fraction would notice the Soviet-era purity of the Russian-language dialogue.“

Schokoladentarte mit Erdbeeren

Schon klar, bei diesen Temperaturen ist das eine eher seltsame Kuchen- oder Nachtischidee, aber diese kleine Tarte gab’s bei den charmanten Gastgeber*innen des letzten Podcasts, und sie hat mir so gut geschmeckt, dass ich sie gleich nachbauen wollte.

Die untenstehenden Mengen reichen für eine rechteckige Tarteform mit Hebeboden, circa 11 x 35 Zentimeter, oder eine runde Form mit einem Durchmesser von 22 Zentimetern. Ich habe nur eine runde Form mit 18 Zentimeter Durchmesser, wofür ich von allem ungefähr Dreiviertel genommen habe. Kam perfekt hin.

75 g Butter schmelzen.
225 g Oreo-Kekse oder andere dunkle Kekse mit Cremefüllung zu grobem Sand zerkleinern – Gefrierbeutel plus Nudelholz oder ein paar Sekunden im Zerkleinerer. Kekssand mit Butter mischen und in der Form gleichmäßig auf dem Boden verteilen. Gut festdrücken. Wenn’s geht, einen kleinen Rand bauen; ich habe mir das eher geschenkt. Eine halbe Stunde im Kühlschrank parken.

50 g Vollmilchkuvertüre (bei mir Lindt Vollmilch 30%) und
200 g Zartbitterkuvertüre (bei mir Lindt Zartbitter 70%) grob hacken.
In einem Topf
250 ml ungesüßte Kokosmilch erwärmen. Nicht kochen! Vom Herd nehmen und die Kuvertüre bzw. Schokolade in der Kokosmilch unter Rühren schmelzen. (Ich habe die Schokolade gleich in die Milch geworfen und alles auf dem Herd erwärmt.) Auf 36 Grad abkühlen lassen. Ich habe ein Thermometer, ansonsten geht auch die Fingerprobe: Der Unterschied zur eigenen Haut sollte nicht mehr spürbar sein, wenn man schleckermäulig einen Finger in die Schokolade taucht. Wenn es sich zu warm anfühlt, ist es noch zu warm, ganz einfach.

Sobald die Schokolade die richtige Temperatur hat, in die Tarte- oder Kuchenform gießen und für mindestens zwei Stunden kalt stellen.

Ganz fertig sind wir noch nicht: Während die Tarte kühlt,
125 g Erdbeeren waschen, vom Grün befreien und nach circa 30 Minuten Kühlzeit auf der Tarte verteilen. Die Schokomasse gibt noch etwas nach, aber dafür sitzen die Erdbeeren nach der Kühlung schön fest auf bzw. in der Schokolade. Man kann die Früchte gerne etwas enger auf der Tarte platzieren als ich das gemacht habe; ich war mir nicht sicher, wieviel die Schokomasse tragen kann, aber das hätte funktioniert, denke ich. Dann hat man auch keine so lustigen Wellentäler wie ich auf dem unteren Bild produziert habe.

Wer mag, röstet noch
2 EL gehackte Haselnüsse in der Pfanne und streut sie zum Servieren über die Tarte. Ich habe mir das geschenkt, ich wollte gar kein Geknusper, sondern nur die samtigkühle Mousse mit den frischen Früchten. Mit Himbeeren und Pistazien stelle ich mir das auch ziemlich super vor. Vielleicht auch ganz ohne Vollmilchschokolade drin. Hey, ich hab noch Kokosmilch! *ab in die Küche*

Fehlfarben 15: Generations – Künstlerinnen im Dialog // Jutta Koether – Tour de Madame

Wein, Weib und Gesang! Echt jetzt! Wir kommen mit unserem unnachahmlichen, immer live eingesungen Jingle rein, dann reden wir über zwei Ausstellungen, die von Künstlerinnen bestritten werden, und dazu trinken wir Rieslinge, die von Winzerinnen angebaut wurden. Über dieses Programm habe ich mich so gefreut, dass ich vergaß, ein schönes Foto zu machen. Daher hier ein weniger schönes, auf dem nur noch die Nachwehen der Aufnahme zu sehen sind.

Podcast herunterladen (MP3-Direktlink, 82 MB, 103 min), abonnieren (RSS-Feed für den Podcatcher eurer Wahl), via iTunes anhören.

00.00:00. Begrüßung und Vorstellung.

00.00:49. Der erste Riesling. Wir plappern zunächst etwas durcheinander, wir müssen uns erst wieder daran gewöhnen, dass wir in ein Mikro reden. Das wird besser!

00.03:40: Die erste Ausstellung: Generations – Künstlerinnen im Dialog, Teil 1. Läuft noch bis zum 13. Juli in der Sammlung Goetz. Der zweite Teil kommt im Juni ins Haus der Kunst, der dritte ist wieder bei Frau Goetz. Und ich ahne, dass wir sie uns alle anschauen, denn, Fazit vorweg: große Empfehlung.

00.18:30: Der zweite Wein – und der dritte gleich hinterher, denn es ist sehr warm. Eh das gute Zeug umfällt, müssen wir das quasi trinken.

00.22:30: Weiter mit Generations, wo wir recht lange über Yayoi Kusama reden. Unser äußerst wohwollendes Fazit gibt’s ab 00.57:35; das dauert dieses Mal etwas länger, denn wir konnten uns nicht von dieser Ausstellung trennen.

01.03:30: Wir trinken zwischendurch mal was.

01.04:40: Die zweite Ausstellung: Jutta Koether – Tour de Madame. Die erste große Retrospektive dieser Künstlerin läuft noch bis zum 21. Oktober im Museum Brandhorst. Wir waren etwas gespalten, aber wir empfehlen ja grundsätzlich, sich alles anzugucken. Ich persönlich wäre nach vier Räumen rausgegangen, wenn ich nicht hätte darüber reden müssen.

01.20:20: Ein winziger Shoutout an den Rasenfunk-Podcast. Der hat unsere Aufmerksamkeit zwar gar nicht nötig, aber ich las gerade vor ein paar Tagen, dass man bitte andere Podcasts empfehlen sollte. Ein guter Plan.

01.33:40: Unser Fazit, deutlich kürzer als bei Generations.

01.36:15: Wir lösen die Weine auf. Wein 3 war unser aller Liebling und natürlich von Felix. Wir würden aber alle drei gerne nochmal trinken.

Wein 1: Weingut Wechsler, Rheinhessen, Riesling Monopollage Benn 2015, 13,5%, bei wirwinzer.de für 20 Euro.

Wein 2: Anette Closheim, Nahe, Riesling Löhrer Berg 2016, 12,5%, 12,50 Euro.

Wein 3: Noch mal Anette Closheim, Nahe, Riesling Mont Solis 2015, 12,5%, 16,50 Euro bei genussland.de.

Tagebuch, Mittwoch bis Freitag, 30. Mai bis 1. Juni 2018 – Kombiniere, kombiniere

Mittwoch – Archivarbeit und Biergarten (beste Kombi EVER!)

Nachmittags hatte ich einen Termin im Lenbachhaus, das einen Teil des bildlichen Nachlassen von Carl Theodor Protzen verwaltet. Dem Lenbachhaus und den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen wurden 1967 Bilder und Dokumente hinterlassen mit der Auflage, eine Gedächtnisausstellung zu machen. Die fand 1976 statt, und ich hoffte, in den beiden Häusern noch ein bisschen mehr zu finden als „nur“ Korrespondenz oder Unterlagen zur Ausstellung, wobei ich über die auch schon froh gewesen wäre.

Nach Sichtung des schriftlichen Nachlasses in Nürnberg kann ich Protzen immer noch nicht so recht fassen. Im Nachhinein merke ich, wie wenig Material zu Leo von Welden gereicht hat, um eine gute wissenschaftliche Fragestellung zu formulieren bzw. neue Dinge über ihn herauszufinden und alte zu versammeln, in einen Zusammenhang zu bringen und ein hoffentlich rundes Bild über seine künstlerische Tätigkeit zu verfassen. Ich hatte einen schmalen Ordner mit beruflicher Korrespondenz, einen etwas dickeren mit privater (darunter bergeweise Urlaubspostkarten, aber auch auf denen hat er gerne über seine Malerei geschrieben), habe diverse Archive durchwühlt und konnte mit seiner Tochter sprechen, die mich auf Fotos, Geschehnisse oder Personen aufmerksam machte.

Bei Protzen habe ich, wie gesagt, bisher nur den schriftlichen Nachlass in Nürnberg, der leider immer dünner scheint, je länger ich über den Herrn Kunstmaler (Eigenbezeichnung) nachdenke. Ich habe Abbildungen seiner fast 700 Ölgemälde (vermutlich halbwegs ungeschönt, zumindest sind alle Bilder, die auf der GdK waren, da, aber ob er 100 Kohlezeichnungen von Gauleiter Wagner gemacht hat, weiß ich schlicht nicht), Fotos seiner grafischen Arbeiten, zum Beispiel für Weihenstephan von vor 1933 und nach 1945, was mich vermuten lässt, dass er auch dazwischen für das Unternehmen tätig war; da werde ich auf jeden Fall noch wühlen aka die Firma anmailen, ob sie ein Archiv haben. Im bayerischen Wirtschaftsarchiv habe leider nichts Relevantes gefunden. Dann habe ich bergeweise private Fotoalben, wenige Zeitungsausschnitte und ebenso wenig Korrespondenz; Briefe von ihm selbst nur drei oder vier, habe ich gerade nicht im Kopf, aber die waren recht unaussagekräftig.

Eigentlich habe ich nur zwei Stellen, die mir ein bisschen was erzählen; einmal einen Brief von Protzen an seinen Vater vom 19.2.1929, der immerhin klar macht, dass er bisher noch nicht von seiner Malerei leben konnte (daher wohl auch die Auftragsillustrationen für die Milchwirtschaft):

„Erst haben wir für eine Ausstelung (sic) in Essen gearbeitet. Dann habe ich eine solche hier beschickt[,] die noch hängt. Ein dritte steht uns bevor[,] ohne dass etwas neues dafür da ist, ohne das (sic) man dazu kommt und fehlen sollte man nicht, denn genug andere warten auf den Platz. Es ist das stets eine Jagd. Und der Erfolg – Nichts bisher. – Als einige Kritiken die ermuntern. – Aus all der anderen Arbeit ist nicht so viel entstanden[,] dass es zu dem reicht[,] was man in der Zwischenzeit zum Leben brauchte. – Also ein halbes Jahr ohne eigentlich ein Verdienst.“

Dann fand ich noch eine Stelle interessant, die in einem Brief seiner Schwester an ihn steht, 16.10.1933:

„Liebes Brüderlein, zu Deinem Geburtstage möchte ich Dir recht von Herzen alles Gute wünschen. Vor allem Gesundheit und dann aber gleich Erfolg im Schaffen. – In diesen Tagen wurde der Grundstein zum neuen Glaspalast gelegt [–] möge er im reichen Masse (sic) gut machen, was der Alte (sic) an Verlusten brachte. Ganz München feiert ja jetzt die Kunst u. den Künstler, ich sehe es als ein gutes Omen für Dein neues Lebensjahr!“

Aber das reicht natürlich nicht, um wirklich etwas über den Maler Protzen und seine Kunstauffassung sagen zu können. Ich fand es aber spannend zu sehen, dass die neue Stellung Münchens als „Stadt der deutschen Kunst“ anscheinend sehr schnell im Bewusstsein angekommen war. Der „Grundstein zum neuen Glaspalast“ war natürlich der Grundstein für das Haus der deutschen Kunst.

Worüber ich gestern abend im Gespräch mit F. gestolpert bin: Jemandem, der eher mieses Deutsch schreibt, traue ich nicht so recht zu, den Satz formuliert zu haben, der den Rahmen seines vermutlich bekanntesten Werks ziert: „Rodet den Forst – Sprengt den Fels – Überwindet das Tal – Zwinget die Ferne – Ziehet die Bahn durch Deutsches Land“. Es ist die einzige „Textstelle“, die seine Bilder ziert; ich vermute stark, dass der Satz von jemandem anders stammt, aber ich kann das noch überhaupt nicht belegen. Er erinnerte mich nur an schwärmerische bzw. programmatische Publikationen über die Reichsautobahn, die ich schon gelesen hatte. So schrieb zum Beispiel Emil Maier zu Erna Lendvai-Dircksens Fotografien der RAB: „Wie ein wogender Wal auf weitgedehnter Dünung / Tauchen und steigen die ewigen Straßen.“ (Lendvai-Dircksen, Erna: Reichsautobahn. Mensch und Werk, Berlin 1937, o. S.) Oder Herybert Menzel:

„Es ist der bildhaft gewordene Triumph menschlich-göttlicher Gemeinschaftsschöpfung; der Funke, der Gedanke, der Einfall selbst ist hier versteint und wir brausen auf ihm dahin, grüßen euch, Hügel, grüßen dich, türmige Stadt, euch, Dörfer im Grünen, dich, Strom, und dich, Himmel darüber! Deutschland, hier liegt es uns herrlich ausgebreitet, ein Stück nur von ihm, weiter, weiter, wir wollen es heut nicht im Kleinen, Verwinkelten geießen, immer größer, immer vielgestaltiger soll es uns ans Herz fliegen, daß wir es wissen, wie reich wir sind und wieviel von ihm wir uns noch zu erobern haben.“

(Menzel, Herybert: „Ohne Titel (Einleitung)“, in: Harz, Hermann: Das Erlebnis der Reichsautobahn – ein Bildwerk. Dem Schöpfer der Reichsautobahnen Reichsminister Dr. Ing. Fritz Todt zum Gedächtnis, München 1943, o. S.)

Aber zurück ins Lenbachhaus. Ich hatte mit der Bibliothek gemailt, weil ich den Ausstellungskatalog von 1976 sehen wollte, und dem hauseigenen Archiv, bei dem ich schlicht nicht wusste, was es alles gab. Außerdem bat ich um eine Bilderliste, möglichst mit Abbildungen, damit ich diese vergleichen kann mit den Fotos im Nachlass. Die Bilderliste habe ich jetzt; der Katalog war nur eine geheftete Blattsammlung, die schon dem Nachlass in Nürnberg beilag. Die kurze Korrespondenz zur Ausstellung habe ich sehr amüsiert gelesen, und ich habe immerhin noch ein paar Werke und Leihgeber gefunden, die ich noch nicht kannte. Die bzw. deren Nachkommen werde ich hoffentlich ausfindig machen können, um sie mit Fragen zu Protzen zu belästigen bzw. um eventuell doch noch Briefe von ihm zu finden. Aber generell war ich etwas ernüchtert nach den drei Stunden in der Lenbachhaus-Bibliothek. Im Laufe des Vormittags hatten sich auch die Pinakotheken gemeldet, die anscheinend noch weniger zu ihm haben – vermutlich die gleiche Ausstellungskorrespondenz und sonst nichts. Gucke ich mir natürlich auch noch an, aber: hm. So richtig glücklich war ich nicht, dass ich so schnell in so viele Sackgassen rannte. Vor allem, weil diese beiden Institutionen diejenigen sind, die seine ganzen Bilder verwalten (das Historische Museum in Berlin hat auch noch ein paar Bilder, aber vermutlich nichts Schriftliches). Daher war ich davon ausgegangen, dass mindestens hier noch etwas Spannendes zu finden wäre. Leider nein.

Dafür war der Abend umso netter: Ein Bekannter aus Fußballkreisen feierte im Biergarten seinen Geburtstag, ich bekam nicht nur ein, sondern gleich zwei Radlermaß ausgegeben, weswegen eine dritte noch locker drin war, und ging dann sehr beschwingt mit F. nach Hause.

Ich geh mit meiner Laterne 😬

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(Nein, das ist nicht mein iPhone, das da unter dem Maßkrug liegt. Aber ein tolles Licht geben diese Handytaschenlampen!)

Donnerstag – Kunst gucken und Eis essen (beste Kombi EVER!)

F. und ich mussten sehr lange schlafen, weil wir sehr viel Bier getrunken hatten. Glücklicherweise war Donnerstag Feiertag, wie hier in Bayern ja dauernd irgendwie Feiertag ist. Alles richtig gemacht.

Erst gegen 11 konnte ich mich dazu aufraffen, aufzustehen und mich ausgehfein zu machen. Mein Ziel war die erste Location, über die wir im neuen Fehlfarben-Podcast sprechen, den wir heute aufnehmen, falls wir nicht vorher geschmolzen sind. Ich war länger in der Ausstellung als ich dachte und hatte mir danach total ein Eis verdient. Anscheinend hatten aber alle Münchner*innen sich total ein Eis verdient: Beim Ballabeni standen doch recht viele Menschen in der Schlange, was für einen Tag bei 28 Grad normal ist, mich aber trotzdem recht mürbe machte. Aber was tut man nicht alles für ein richtig gutes Eis.


Himbeer und Haselnuss, der Probierlöffel Vanille-Tonkabohne war schon weg, bevor ich ans Fotografieren dachte.

Nachmittags wie immer Masterchef Australia geguckt, dazu Brezn mit Brie. Auf der Suche nach einer neuen Serie begann ich mit Suits – ich bin sehr spät auf der Party, aber bis jetzt finde ich diesen Kram recht unterhaltsam, auch wenn mir die üblichen grinsenden Anwaltskerle ein bisschen auf den Zeiger gehen und Frauen in der Serie anscheinend nicht auf Schuhen unter zehn Zentimeter Absatz gehen können.

Zwischendurch genoss ich den irren Regen, der plötzlich runterkam und fürchtete mich ein bisschen vor dem sehr lauten Donner, der sehr hellen Blitzen folgte. Dafür war die Wohnung danach ein bisschen kühler und man konnte abends kuscheln, ohne zu kleben.

Freitag – Bibliothek und Kundenlob (beste Kombi EVER!)

Den Vormittag verbrachte ich in der Stabi, um werbezutexten. Das ging ganz gut, aber so richtig glücklich bin ich mit den Texten noch nicht. Rumliegen lassen, Montag nochmal rübergehen, wird schon passen. Zusätzlich erledigte ich Kundenkorrekturen an anderen Texten.

Danach ging ich einkaufen, las Zeitung und wartete dann auf ein Kundentelefonat, für das wir uns per Mail verabredet hatten. Die Kundin hatte mir schon per Mail mitgeteilt, dass sie die Texte „super“ fand, daher erwartete ich nur geringe Korrekturen. Es kamen aber gar keine – die Kundin wollte mir nur noch mal persönlich sagen, dass das eine, Zitat, „Punktlandung“ gewesen war, sie hätte nichts zu beanstanden, bitte abrechnen, gerne wieder. Das hätte sie noch nie gehabt, dass Texte gleich beim ersten Versuch so perfekt waren. Das hat mich sehr gefreut und ich konnte im Gegenzug sagen, dass ich das auch noch nie hatte.

Dafür waren die Nachrichten aus dem Bundesarchiv, das ich vor einigen Wochen angemailt hatte, weniger gut: Es gibt zu Protzen nichts. Also nichts außer die übliche Nachfrage der Partei, ob der Künstler irgendwie bedenklich wäre, bevor man ihn in die Reichskammer der bildenden Künste lässt. Das Ding kannte ich schon von Leo, und zu Protzen stand noch weniger auf dem Auskunftsbogen. Ansonsten: nichts. Keine Parteimitgliedschaft (immerhin), aber eben auch sonst nichts. Bisher hatte ich Protzen als eindeutig präsenter in der Kunstlandschaft eingeschätzt als von Welden, aber vielleicht war das gar nicht so.

Ich ahne, dass meine Dissertation nun in eine Richtung geht, die ich noch nicht einschätzen kann. Meine ursprüngliche Idee scheint sich aber gerade aufzulösen, weil ich schlicht kein Material für sie finde. Ganz aufgegeben habe ich aber noch nicht; ich wühle noch ein bisschen weiter, damit ich irgendwann wenigstens für mich sagen kann, dass ich alles versucht habe, um an alle noch auffindbaren Quellen zu kommen. Wenn ich das eh alles nur noch zum Spaß mache, kann ich mir auch noch ein bisschen Zeit geben. Und der Diss eine andere Fragestellung.