Tagebuch, Mittwoch bis Freitag, 27. bis 29. Juni 2018 – Matschbirne

Mittwoch war wieder ein Geleetag – ich watete in meinen ganzen Diss-Dokumenten rum, ohne zu irgendeinem Punkt zu kommen. Und dafür hatte ich auf die Eichhörnchenvorlesung verzichtet! Andererseits war ich so weder in einem Hörsaal noch in der Bibliothek, als mein Handy klingelte und sich ein neuer Job ankündigte. Das war schön.

Überhaupt finde ich es gerade schön, dass sich alle Kunden und Kundinnen an mich wenden anstatt umgekehrt. Es bestätigt sich immer mehr, dass die Jobs dadurch reinkommen, dass ich einen anderen Job gut gemacht habe, dass mich ein Texterkollege oder eine -kollegin weiterempfiehlt, so wie ich das auch mache, wenn ich keine Zeit habe, dass Leute mein Blog lesen oder sogar mein Buch. Um irgendeine Ecke kommt immer was. Allerdings noch nie über meine lustigen Akquisemails oder Xing und bis jetzt auch noch nicht über Designerdock, bei denen ich mich im November letzten Jahres angemeldet habe. Aber noch sind die 18 Monate ja noch nicht rum, in denen sie mich mal anrufen könnten.

Das Ausscheiden DER MANNSCHAFT habe ich sehr emotionslos hingenommen. Das hat mich selbst überrascht, wie emotionslos ich war, aber als der eklige Rumpelfußball endlich vorbei war, dachte ich nur, yay, in zwei Tagen kommt die Bundesliga-Terminvorschau raus, und dann gibt’s wieder anständigen Fuppes.

Das komische schwarzrotgelb verzierte Teilchen bei meinem Bäcker mit dem schönen Namen „Endspielteilnehmer“ liegt jetzt verschämt weiter hinten in der Vitrine.

Donnerstag auch vom heimischen Schreibtisch aus gearbeitet, Protzen-Bilder, fragt nicht, ich seh die schon gar nicht mehr, ich schneide nur aus und notiere Größenangaben und Titel und höre meinen Spotify-Mix der Woche dreimal hintereinander durch. Noch ein paar Aufsätze gelesen und wieder mit allem gehadert. Doofe Idee, tolle Idee, halbgare Idee, ich weiß gar nichts mehr. Ich verfranse mich schon wieder auf zwanzig Baustellen, anstatt den roten Faden weiterzuverfolgen, den ich vor ein paar Tagen in den Fingern hatte. Ein Elend, diese Wissenschaft.

Und wie immer, wenn ich wieder mit allem hadere, erinnert mich F. an den schönen Satz, der ihn durch seine Diss getragen hat: „If you know what you’re doing more than fifty percent of the time, it’s not research.“ Den sticke ich mir jetzt auf ein Kissen. Aber das habe ich, glaube ich, schon öfter im Blog angekündigt und nie gemacht und deswegen vergesse ich diesen Satz immer und F. muss ihn dauernd wiederholen.

Weitere, ich glaube sechs, Seiten an zwei Tagen in Finnegans Wake bezwungen. Das Ding ist ein einziges Rätsel, aber völlig faszinierend. Es ergibt beim ersten Lesen überhaupt keinen Sinn und beim zweiten auch nur, wenn man sich irgendeine Story dazu ausdenkt, aber zwischendurch kommen schöne Satzfetzen oder Worte, auf denen ich rumdenken kann beim Einschlafen.

„And laughtears!“

„As innocens with anaclete play popeye antipop.“

Antipop! 1939! Natürlich hat das überhaupt nichts mit Pop Art oder Popmusik zu tun, aber ich finde es so spannend, aus diesen alten Worten, die für Joyce damals eine andere Bedeutung hatten, eine neue zu schnitzen. Oder Assoziationen brodeln zu lassen, die Joyce noch nicht haben konnte. Weil jede neue Leserin neue Dinge denkt und die Zeit immer weiter voranschreitet, in der neue Leserinnen mit neuen Gedanken kommen, ist das Buch quasi ein ständiger work in progress. Das war übrigens der Arbeitstitel des Werks, als es in Vorabdrucken erschien. Das fühlt sich für mich im Nachhinein sehr prophetisch an.

„Echoland.“

Echoland! Vor meinem geistigen Auge entsteht der große Nachwenderoman. Oder ein Alternative-Rock-Album. Vor deinem auch? Schreib’s auf! Nimm’s auf!

Als einzige Gegenmaßnahme zum Rumgelieren und Fadenverlieren am Freitag brav im ZI gewesen, wo ich hingehöre. Versucht, mich nicht noch weiter zu verfransen, sondern nur die Fragen zu beantworten, die ich beim Aufsatzlesen am Donnerstag hatte. Hat natürlich nicht geklappt. Wieder neue Baustellen aufgemacht. Aber immerhin noch schöne Texte zu Grossberg gefunden und viele seiner Bilder angeschaut.

Ich stelle naiv-erstaunt den Unterschied von einer langen Forschungsarbeit zu BA- und MA-Arbeit fest, die mir im Nachhinein wie hingeworfene Notizen erscheinen. Ich habe jetzt die Freiheit, bei allem, was ich lese, in die Tiefe zu gehen, mich mit jedem Bild zu beschäftigen, das mir über den Weg läuft, jede Abzweigung in meinen Gedanken mitzunehmen, denn ich habe weder eine Zeit- noch eine Zeichenbegrenzung. Und was ich anfangs so befreiend fand, schüchtert mich jetzt zunehmend ein.

Neuerdings hat die U2 keinen Zehn-, sondern einen Fünf-Minuten-Takt. Ich behaupte, ich habe ein einzigartiges Talent, gerade am Hauptbahnhof, wenn ich vom Zug komme und ECHT NACH HAUSE WILL, die U-Bahn genauso zu verpassen, dass ich neun Minuten auf die nächste warten muss. Ich komme die Rolltreppe runtergehetzt und sehe, gerade verpasst, na super, neun Minuten warten, eine Ewigkeit, jammerjammerjammer. Daher freute ich mich sehr über die Fahrplanumstellung.

Da ich in den letzten Tagen kein Fahrrad gefahren bin (Reifen waren nicht anständig aufgepumpt) und mit der U-Bahn ins ZI fuhr, konnte ich den neuen Takt gleich ausprobieren. Was soll ich sagen? Jetzt komme ich die Rolltreppe am Königsplatz runtergehetzt und sehe, gerade verpasst, na super, vier Minuten warten, eine Ewigkeit, jammerjammerjammer.

Fahrradreifen aufgepumpt.

Was schön war, Dienstag, 26. Juni 2018 – Weiterhin Zeit fürs ZI

Der Lesesaal gehörte mir nur zehn Minuten alleine, aber hey, immerhin. Danach las und schrieb ich und hing in Aufsätzen über Autobahnmalerei, Architekturzeichnungen, deutsche Kunst in den 1930er Jahren und Ausstellungen in der Bundesrepublik mit Kunst aus der NS-Zeit rum. Nachmittags verlegte ich die Arbeit ins Home Office und schrieb weiter an meinem Referat, auch um mir selbst klarzumachen, was genau meine nächsten Schritte sind. Ich formulierte die Einzelteile der Einleitung an und merkte beim Aufzählen der Dinge, die ich methodisch leisten möchte, dass ich zwar noch sehr viel zu tun habe, aber alles allmählich ein schönes Bild ergibt. Dummerweise dauert die Bildbearbeitung vom Nachlass immer noch an, weswegen ich mit meiner eigenen Deadline Ende Juni etwas brechen muss; bis dahin habe ich nicht alle Bilder fertiggestellt und durchgeschaut, die ich präsentieren möchte. Aber auf ein paar Tage kommt es für den internen Ablauf natürlich nicht an.

Abends mit F. am Küchentisch die letzten Tage nacherzählt, an denen wir uns nicht gesehen haben. Der Herr macht gerade ein bisschen in Familienforschung, die sich genau mit der Zeit überschneidet, in der ich mich bewege, weswegen sich da interessante Parallelen von Kunst zu Naturwissenschaft ergeben. Wir tranken außerdem einen weiteren Wein vom Weingut Wechsler, einen Spätburgunder Rosé. Das ist nach zwei unterschiedlichen Rieslingen der dritte Wein der Winzerin, der mir sehr gut geschmeckt hat. Im Kühlschrank liegt noch ein Sauvignon blanc, aber ich ahne jetzt schon, dass ich mich mal durch ihr gesamtes Weingut trinken werde.

Trial runs for fascism are in full flow

Fieser thematischer Break, ich weiß. Ich bin seit November 2016 (Trump) und noch mehr seit September 2017 (AfuckingD) äußerst angespannt. (Vermutlich trinke ich deswegen soviel Wein.) Ich konnte aber nie genau formulieren, warum diese Anspannung nicht nachlässt. Dieser Artikel hilft dabei, macht alles aber nur noch unheimlicher.

„Fascism doesn’t arise suddenly in an existing democracy. It is not easy to get people to give up their ideas of freedom and civility. You have to do trial runs that, if they are done well, serve two purposes. They get people used to something they may initially recoil from; and they allow you to refine and calibrate. This is what is happening now and we would be fools not to see it. […]

It is this next step that is being test-marketed now. It is being done in Italy by the far-right leader and minister for the interior Matteo Salvini. How would it go down if we turn away boatloads of refugees? Let’s do a screening of the rough-cut of registering all the Roma and see what buttons the audience will press. And it has been trialled by Trump: let’s see how my fans feel about crying babies in cages. I wonder how it will go down with Rupert Murdoch.“

(via @dogfood)

Was schön war, Montag, 25. Juni 2018 – Das Wochenende ist rum, die Bibliothek ist wieder offen, wo-hoo!

Also die im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, denn in die wollte ich, mein Herzblatt, mein allerliebster Ort der Welt, mein Handschmeichler, mein Softeis, meine Kuscheldecke, mein Bällebad.

(Schon gut, schon gut.)

Nachdem ich wochenlang auf Protzen geguckt habe und meine innere Deadline allmählich näher rückt, nach der ich meiner Korrekturfee ein erstes Referat zur Diss halten werde, musste ich dringend meine Grossberg-Lektüre auffrischen. Das letzte Mal hatte ich im November letzten Jahres was zum Herrn notiert und zwar viel zu wenig. Ich weiß zwar, was ich sagen will, aber bevor ich das tue, lese ich lieber noch mal ein paar Dinge nach. Das war daher der ganze Tagesplan für gestern: alle Grossberg-Kataloge aus dem Regal ziehen (das sind nicht viele), lesen, schreiben, im Kopf schon mit Protzen vergleichen und mich des Lebens freuen. Und genau das habe ich dann auch gemacht. Hach!

Das tat so gut, mal aus dem ganzen naturalistischen Kram von Protzen aufzutauchen und wieder auf anständige Bilder zu gucken. Ich fühlte mich ernsthaft wie frisch geduscht. Im Hinterkopf hatte ich meine kurzen Gespräche, die ich kürzlich im Lenbachhhaus führte, als ich dort im Archivgut rumwühlen durfte. Sowohl die Archivarin als auch die Bibliothekarin und vor allem meine Bekannte, die Kuratorin fürs 19. Jahrhundert und die Neue Sachlichkeit, guckten äußerst sparsam, als sie mir die Unterlagen rüberreichten: „Protzen? Echt? Warum?“ Als ich piepsig meinte, irgendwer müsse das ja mal machen, meinte die Kuratorin sehr bestimmt: „Nee, das muss keiner.“ Als ich dann erwähnte, dass ich den Herrn mit Grossberg vergleichen wollte, wurde sie noch bestimmter: „Nimm nur Grossberg OMG NIMM NUR GROSSBERG GROSSBERG IST SUPER!“ WEISS ICH, DESWEGEN WILL ICH JA DIE FORSCHUNGSLÜCKE SCHLIESSEN! Aber gestern, eben mit ernsthaft hunderten von eher ollen Protzen-Bildern im Hinterkopf, merkte ich wieder sehr, sehr deutlich, WIE SUPER GROSSBERG IST. Herrgott, hat der Mann tolles Zeug produziert. In der Ausstellung im Dezember in München überlegte ich ernsthaft, mein Konto komplett zu plündern und 23.000 Euro für ein Aquarell rauszuhauen, das das Anzeiger-Hochhaus in Hannover zeigt.

Neues Item auf der Bucketlist: einen Grossberg besitzen. Die Ölbilder kann ich mir ü-ber-haupt nicht leisten, die Aquarelle unter großen Schmerzen, aber hey, so eine kleine Bleistiftzeichnung gibt’s schon für 4000. (Dissertationsgeschenk! Plus Tantris-Besuch! Schreib schneller, Anke! Und mach zwischendurch noch ein bisschen Werbung, um dir Kunst und Festessen leisten zu können!)

Bevor ich mich weiter in den Herrn verliebe, sollte ich vielleicht mal langsam Kontakt zu seinen Erben aufnehmen, die zu zweit seinen Nachlass verwalten. Die wenige Literatur macht quasi in jeder zehnten Zeile klar, dass der Mann kein NS-Maler war. Das sieht, glaube ich, auch jede, die auf seine Werke guckt, aber trotzdem hat sich die Literatur bis jetzt relativ stillschweigend um die Zeit zwischen 1933 und seinem Tod 1940 herumgedrückt, um ihn bloß nicht in die Nähe der Schmuddelkinder rutschen zu lassen. Da werde ich bei der Kontaktaufnahme vermutlich sehr diplomatisch formulieren müssen, um in den Nachlass gucken zu dürfen. „Hallo? Ich interessiere mich für Grossberg zur Zeit des Nationalsozialismus … Hallo? … Sind Sie noch dran?“

Zurück zu gestern: Nach knapp sieben Stunden Arbeit im ZI konnte ich nicht mehr sitzen und hatte alles gelesen, was in den Kopf passte. Noch schnell einen kleinen Handapparat im Regal für mich angelegt, da gucke ich heute weiter rein.

Zuhause weiter hirntot Protzen-Bilder bearbeitet; ich bin ungefähr mit einem Drittel seiner Werke durch, ich werd irre und darf gar nicht an die vielen Bilder denken, die ich von seinen Fotoalben, einem Gästebuch, dutzenden von Werbegrafiken und ein paar Dokumenten gemacht habe – vielleicht bin ich bis Weihnachten damit durch.

Masterchef Australia, zwei Folgen Suits, keine Lust auf Fuppes gehabt. Ein Baguette, das ich Sonntag gebacken hatte, verspeist. Sehr zufrieden und inspiriert eingeschlafen.

Jean-Michel Basquiat Is Still an Enigma

The Atlantic über Basquiat und seine Rezeption. Die gerade beendete Ausstellung in der Schirn wird auch erwähnt; F. und ich hatten sie uns mit großem Erkenntnisgewinn angesehen.

„What critics seem to be striving for on behalf of Basquiat isn’t understanding but respectability, which anyone looking at the paintings can immediately see Basquiat was uninterested in. These canvases were made by a young man, barely out of his teens, who never lost a teenager’s contempt for respectability. Trying to assert art-historical importance on the paintings’ behalf, a critic comes up against their obvious lack of self-importance. Next to their louche irreverence, the language surrounding them has felt clumsy and overwrought from the beginning. What little we know for sure about Basquiat can be said simply: An extraordinary painterly sensitivity expressed itself in the person of a young black male, the locus of terror and misgiving in a racist society. That, and rich people love to collect his work. We have had a hard time making these two go together easily. But so did he.“

Gestern hatte mein liebster Stillleben-Maler Juan Sánchez Cotán Geburtstag. Ich schrieb mal über ihn, und der schöne Twitter-Account von Fake-Rubens informiert seit gestern über sein Werk.

Tagebuch, Sonntag, 24. Juni 2018 – Teig bearbeiten, Bilder bearbeiten

Den Samstagabend verbrachte ich zunächst alleine zuhause und guckte relativ emotionslos DER MANNSCHAFT dabei zu, wie sie kurz vor dem Vorrundenaus stand, was mir überraschend egal war. Irgendwo war da die winzige Hoffnung darauf, dass mit dem Ausscheiden vielleicht auch der Scheiß-Schland-Wahn wieder aufhören würde, der seit 2006 immer schlimmer und sinnloser geworden war. Die widerlichen Diskussionen um Özil und Gündogan hatten mich sehr erschreckt. Dass die Fotoaktion der beiden mit Erdogan äußerst dämlich gewesen war – geschenkt. Aber dass nun auf einmal aus gewissen Ecken darüber spekuliert wurde, ob die beiden deutsch genug für die deutsche Nationalmannschaft seien, erinnerte mich fatal an Ariernachweise und ähnlichen Rotz und nahm mir einen großen Teil der Vorfreude auf die WM. Dass sie in einer Quasi-Diktatur stattfindet, konnte ich bräsig ausblenden.

Als aber ausgerechnet der Querpasstoni den Siegtreffer im Spiel gegen Schweden erzielte, eskalierte ich doch. Verdammter Fußball.

Dass draußen vor der Tür die hupenden Autos eine Party feierten, als hätte DIE MANNSCHAFT schon das Finale erreicht, fand ich allerdings arg übertrieben, albern und nervig, und zack, war die schlechte Laune wieder da.

Den Restabend und die Nacht verbrachte ich bei F., mit dem ich netterweise immer bessere Laune habe. Die Nacht wurde deutlich kürzer als gedacht, denn irgendwer *hust* ich *hust* wollte nach dem Durchschnittswein noch einen schönen Whisky haben und danach noch einen und dann noch einen. Leider vergaßen wir beide, dazu ausreichend Wasser zu trinken, weswegen ich schon nachts mit Kopfschmerzen aufwachte. Als ob ich noch nie Alkohol im Glas gehabt hätte. Wie so eine Laientrinkerin. Schlimm.

Dafür lungerten wir am Sonntagmorgen ewig rum; mein Arbeitstag begann daher deutlich später als geplant. Ich bearbeite immer noch die riesige Bildausbeute vom Donnerstag und ahne allmählich, warum Dissertationen so lange dauern. Zwischendurch faltete ich Baguetteteig und buk, befreite dann die Küche vom üblichen feinen Mehlstaubüberzug, schob die neue Folge Masterchef Australia ein und ging wieder an den Schreibtisch. Meine Gliederung für die erste Präsentation meiner Diss wird allmählich so, dass sie mir gefällt. Die fülle ich jetzt im Laufe dieser Woche mit schnaften Fakten auf, indem ich im ZI sitze und mich darüber freue. Darauf ein Tässchen Tee!

Nanette

Hannah Gadsby, in die ich mich bei Please Like Me verknallt habe, beendet ihre Comedykarriere – mit einem Comedyprogramm. Es ist ein wilder Ritt durch Lachen, Unwohlsein, laut ihren Kritiker*innen not enough lesbian content und Kunstgeschichte und ich finde, ihr solltet das alle sehen.

Die NYT hat das Programm im März gesehen, schreibt ziemlich spoilerfrei darüber und erwähnt vor allem den Knackpunkt der ganzen Comedyshows, die von Menschen aufgeführt werden, die sich Hass und Ausgrenzung ausgesetzt sehen, was auch Gadsby aufnimmt: „Her self-mocking nebbish is a familiar persona, but there comes a moment when she drops and deconstructs it, and that turning point makes you re-evaluate everything you saw before. “Do you know what self-deprecation means coming from somebody who exists on the margins?” she asks. “It is not humility; it is humiliation.”“

Gadsby spricht darüber, wie ihr schon als Kind beigebracht wurde, dass Homosexualität etwas Verachtenswertes ist und dass sie es teilweise immer noch nicht abschütteln kann. Ich begebe mich mal auf dünnes Eis, wenn ich sage, dass das mit Dickenhass ähnlich ist. Ich weiß, dass ich okay bin, aber an manchen Tagen muss ich mir das wirklich selber nochmal sagen, um nicht wieder sinnlos Lebenszeit und Energie darauf zu verschwenden, über Magen-OPs, Sport in freier Natur ohne Angst vor Scheißsprüchen und Anerkennung von Arschlöchern nachzudenken. Rebel Wilson als Amy brachte es in Pitch Perfect auf den Punkt mit einem Witz, über den vermutlich nur nicht-dicke Menschen lachen, indem sie sagt, sie nennt sich von sich aus Fat Amy, bevor die skinny bitches es tun, was sie sowieso tun werden. So ähnlich funktioniert Gadsbys Comedy: Sie macht homophobe Witze, bevor die anderen es tun, und genau damit sei jetzt Schluss. Sie möchte und muss ihre Geschichte anders erzählen und deswegen will sie die ganze Scheiße, der sie täglich ausgesetzt ist, nicht auch noch als Grundlage für Scherze benutzen. Dieser Weg der Katharsis sei für sie der falsche. Und ich glaube, für uns als Publikum auch.

Baguette nach Lutz Geißler

Das zweite Rezept aus dem Buch Brot backen in Perfektion mit Hefe von Lutz Geißler (Plötzblog) klappte genauso toll wie das erste. Dieses Mal wurde nicht im Topf gebacken, sondern zwischen zwei Backblechen. Klingt komplizierter als es ist und lohnte das winzige bisschen mehr Mühe.

400 g Wasser abmessen. Davon einen Esslöffel abnehmen und darin
0,4 g Frischhefe auflösen (eine kleine Kugel mit 9 Millimeter Durchmesser). Im restlichen Wasser
12 g Salz auflösen und in eine Schüssel geben.
590 g Mehl, Type 550, dazugeben und grob verrühren. Dann das Hefewasser dazugeben und alles mit wenigen Handgriffen zu einem Teig verkneten. Diesen nun mit einem Deckel oder einer Folie abgedeckt 24 Stunden lang bei Raumtemperatur reifen lassen.

Der Teig kam mir, trotz der fast identischen Mengenangaben zum Weizenbrot, viel fester und trockener vor. Nicht davon irritieren lassen, der geht genauso schön auf und bleibt auch die ganze Zeit feucht.

Den Teig nach acht und nach 16 Stunden ziehen und falten. Ich copypaste mal die Erklärung aus dem ersten Rezept: „Du greifst mit der einen Hand unter den Teig und ziehst vorsichtig einen Teigstrang heraus, den du einfach wieder oben auf den Teig auflegst. Es sieht so aus, als hätte der Teig kurz ein dickes Ärmchen, das oben auf dem Teig mit den anderen Ärmchen abklatscht. Mit der anderen Hand drehst du die Schüssel, bis du einmal um den ganzen Teig gekommen bist. Fertig. Teig wieder abdecken und in Ruhe lassen.“

Auch dieses Mal war ich nicht die gesamte Ruhezeit zu Hause, habe den Teig in den ersten fünf Stunden dreimal gezogen und gefaltet und ihn dann in Ruhe gelassen. Hat funktioniert.

Am Backtag den Teig behutsam per Teigschaber oder -karte auf die stark bemehlte Arbeitsfläche gleiten lassen. Drei bis vier Teile abstechen; bei mir waren es drei. So weit das bei dem sehr weichen Teig möglich ist, drei rechteckige Teile formen. Davon die kurzen Enden zur Mitte hin einrollen, so dass der Teig sich strafft. Dann das ganze mit der Längsseite machen, notfalls auch zwei- oder dreimal – es ist eher ein vorsichtiges Ziehen als ein Rollen, Hauptsache, der Teig wird straff, ohne dass zu viel Luft aus ihm herausgedrückt wird. Die Teiglinge dann mit der glatten Seite nach unten auf ein bemehltes Tuch setzen. Man kann mit dem Tuch schön Falten zwischen den Laiben basteln, keine Ahnung, ob das nötig ist, aber ich habe das mal gemacht. (Bei Brötchen kann man mit Hilfe der Falten die Teiglinge in die eigene Hand rollen, um sie aufs Backblech zu kriegen, bei den länglichen Baguettes war das nicht möglich.)

Die Teiglinge 30 Minuten bedeckt ruhen lassen, dann noch einmal straffen. Danach aus den länglichen Teiglingen noch länglichere machen; es sollen Baguettes von circa 30 Zentimeter Länge herauskommen, das hat bei mir auch pi mal Daumen hingehauen. Dazu mit den Händen ganz vorsichtig die Teiglinge rollen, nicht so energisch wie bei Mürbeteig oder ähnlichem, viel liebevoller und langsamer; die Hände bewegen sich vorsichtig nach rechts und links außen und der Teig kommt im Idealfall mit. Dieses Mal die Teiglinge mit der glatten Seite nach oben weitere 30 Minuten abgedeckt ruhen lassen.

Währenddessen den Ofen mit zwei tieferen Blechen darin auf 250 Grad Unter- und Oberhitze vorheizen. Die Baguettes kommen zum Backen auf ein Blech und werden mit dem zweiten wie mit einem Deckel oder einer Muschelhälfte abgedeckt. Ich habe das Herausziehen der Bleche und vor allem das Aufeinanderstapeln vorher mit den dicken Ofenhandschuhen geübt, man weiß ja nie. Wenn die Ruhezeit um und der Ofen heiß ist, die Baguettes mit der glatten Seite nach unten auf Backpapier und damit aufs Blech legen. Der Transport funktioniert am besten mit einem dünnen Brett – ich habe gnadenlos meinen dünnen, flachen Pfannenspritzschutz genommen und das überstehende Backpapier hochgehalten, damit die Teiglinge sich möglichst wenig bewegen.

Das belegte Blech in den Ofen schieben (bei mir auf einen Rost) und mit dem zweiten, auf dem Kopf stehenden Blech abdecken. Den Ofen auf 230 Grad herunterschalten. Nach fünf Minuten Backzeit das Deckelblech entfernen und weitere 20 Minuten backen. Im Buch steht der Tipp, zwei bis drei Minuten vor Ende der Backzeit auf Umluft zu schalten und die Ofentür kurz zu öffnen, um den Dampf entweichen zu lassen. Umluft kann mein uralter Backofen nicht, aber das Türöffnen habe ich erledigt. Angeblich wird die Kruste dadurch etwas knuspriger, aber da ich die eh nicht so bretthart mag, war mir dieser Schritt egal.

Nach den 25 Minuten die Baguettes aus dem Ofen holen und auskühlen lassen, was natürlich von den ganzen 26 Stunden Arbeitszeit und Firlefanz das Schwierigste ist, denn sie sehen toll aus (bei mir noch etwas ungelenk) und duften schon herrlich. Und der Geschmack! Ich bin, wie beim Weizenbrot auch, von der Konsistenz total begeistert. Die Baguettes sind leicht zäh, recht grobporig, die Kruste reißt einem nicht den Gaumen auf, sondern leistet genau den richtigen Widerstand und überhaupt habe ich direkt nach dem ersten Stück Baguette mit Butter und Honig den nächsten Teig angesetzt. Große Empfehlung. (An der Form arbeite ich noch.)

Tagebuch, Freitag, 22. Juni 2018 – Beschneidewerkzeug, umbenennen, Apfel+S

Morgens das Stativ zum Leihservice zurückgebracht, genauso freundlich empfangen worden wie beim Abholen. Bei der Hausärztin ein Rezept abgeholt und einen Termin vereinbart, das übliche Durchchecken von gewissen Organen (alle anderen werden ignoriert, bis sie sich rühren). Mir einen Einkauf im Teahouse verkniffen, weil ich noch bergeweise Tee zuhause habe, wobei mir der neulich erstandene Nilgiri von dort wirklich äußerst gut schmeckt; ein bisschen habe ich noch. Neuen Brotteig für heute angesetzt,; dieses Mal versuche ich mich an Baguettes, nachdem das erste Rezept aus neuen Backbuch schon so ein Kracher war. Sollte ich demnächst mein Lieblingsbrot selber backen können? Das wäre ziemlich toll. Denke über einen Weinberg nach, eine Rösterei und eine Sennerei. Und eine kleine Galerie. Und wie ich an viel Geld komme.

Anstatt diesen Gedanken nachzuhängen, setzte ich mich für den Rest des Tages an den Schreibtisch und begann, die am Donnerstag gemachten Bilder zu bearbeiten. Das Werkverzeichnis von Protzen besteht aus vier Fotoalben, in denen in halbwegs korrekter Reihenfolge ein Großteil seiner Werke als Foto versammelt ist. Auf einer Albumsseite befinden sich von einem bis zu fünf Bildern alles, manche Werke wurden nochmal einzeln abgelichtet, was für mich ein kleiner Hinweis darauf sein könnte, welche Bilder er selbst geschätzt hat oder auch welche er für Ausstellungen oder Einreichungen oder als Pressebeleg vorgesehen hatte. Ich vermute, dass das Verzeichnis erst posthum von seiner Frau angelegt wurde, daher kann es natürlich auch ihre Auswahl sein. Ich spekuliere im Moment wild rum, das mache ich bei allen Arbeiten, und hoffe, irgendwann Belege zu finden. Wenn ich das nicht tue, bleibt es bei schönen Theorien. Die breite ich dann im Blog aus, wo mir keiner was kann, ha!

Ich habe immer eine Albumsseite fotografiert und musste daher gestern damit beginnen, aus den eben erwähnten fünf Bildern auf einer Seite einzelne zu machen, denn ich möchte sein komplettes Verzeichnis als Einzelbilder haben. Erstens kann ich sie dann ständig schnell durchklicken, und zweitens kann ich sie nach Gruppen sortieren: Stillleben, naturalistisch – Stillleben, neusachlich – Autobahnbilder – Landschaften – Porträts – Kniestücke – Ganzkörper – Tiere – und was weiß ich noch. Ich kann seine Frankreichbilder von den ganzen bayerischen Landschaften trennen, von der Toskana und den polnischen Stadtansichten (damals noch das Generalgouvernement). Ich kann nach Jahren sortieren (vor 33, 33 bis 45, nach 45), ich kann stilistische Ordner anlegen und thematische. Aber dafür brauche ich eben erstmal alle Bilder als Einzeldatei. Bei knapp 700 Werken wird das noch ein paar Tage dauern, wie ich gestern gemerkt habe.

Ich habe begonnen, Bildern Titel zu geben, wenn keine am Foto vermerkt waren und fühlte mich wie Gott. Ich benenne Dinge, huarhuarhuar! Nebenbei merkte ich mal wieder fasziniert, wie sehr mir „Dinge erkennen“ in Fleisch und Blut übergegangen ist. In den 1920er Jahren hatte Protzen eine Phase mit christlichen Motiven, einen Hauch expressionistisch, ähnlich wie Leo von Welden, der allerdings naturalistisch blieb; beide gaben dieses Thema zur NS-Zeit auf. Bei Protzen guckte ich nun auf eine biblische Geschichte nach der anderen und freute mich darüber, wie leicht es mir fiel, das Gezeigte benennen zu können (Kreuzabnahme, Moses, Pfingsten, Hl. Familie bei der Rast etc.). Ich mag das facheigene Vokabular, so wie ich es als Zapferin hinter der Theke mochte, kurz in die Runde „Fasswechsel“ zu brüllen, wenn ich in den Keller musste, um ein neues Bierfass anzuschließen, und jeder wusste, was gemeint war. Oder als Filmvorführerin, wo ich plötzlich lernte, was ein Teller noch sein kann und was eine Tonlampe. Ich höre immer gerne Menschen im Berufskontext zu, zum Beispiel Verkäuferinnen in Geschäften, die mit wilden Kürzeln oder Begriffen um sich werfen, und ich weiß nie, worum es geht.

Um 17 Uhr aufs Sofa gewechselt, um Island dabei zuzugucken, wie sie gegen Nigeria verlieren. Kein Hu mehr. *snif*

Abends mit F. zunächst beim Kebapladen um die Ecke einen äußerst wohlschmeckenden Mixteller genossen, wobei ich allerdings vergaß, dass Peperoni durchaus scharf sein können. Aber: Ich esse mich da ran! Irgendwann mit 75 werde ich in einem indischen Restaurant furchtlos ein Curry ordern! Man muss sich immer neue Ziele setzen!

Den Restabend mit F. und Gin Tonic verbracht, die Woche gemeinsam rekapituliert, wieder darüber gerätselt, wie man mit Twitter umgehen soll, jetzt wo es keine Kuschelgruppe mehr ist, sondern eine einzige Masse aus Katastrophenmeldungen. (Auch deswegen freute ich mich gestern sehr über James Cordons Carpool Karaoke mit Paul McCartney, weil es ein kleiner Leuchtturm an Schnuffigkeit war.) F. meinte, Twitter fühlt sich inzwischen wie ein unmoderiertes Forum an: Es gibt keine Gruppen mehr, keine gesetzten Themen und niemand, der mal dazwischengeht, und deswegen kann man der ganzen Panik und schlechten Laune nicht ausweichen, egal wieviele Listen man anlegt und wievielen eigentlich gerne gelesenen Menschen man entfolgt. Ich kriege es auch immer noch nicht hin, mich dort wieder wohlzufühlen, und ich kriege es auch nicht immer hin, jetzt mal keinen verdammten Trump-Link zu vertwittern. Ich versuche es weiterhin mit der Taktik, nicht mehr dauernd online zu sein, die App bewusst für ein paar Stunden zu schließen und sie vor allem nicht direkt vor dem Schlafengehen noch mal zu öffnen. So richtig glücklich bin ich damit immer noch nicht, aber dass ich gestern in eine Vuvuzela gepustet und Töne erzeugt habe und wie der korrekte Plural von „Fokus“ lautet, musste ich dann doch teilen. Weil wichtig.

Was schön war, Donnerstag, 21. Juni 2018 – Knipsen, lesen, quatschen

Gestern hatte ich mir mal wieder den Nachlass der Protzens im Kunstarchiv Nürnberg zurücklegen lassen. Durchgesehen hatte ich die Boxen und Mappen ja schon mehrfach (okay, zweimal), und für meine erste Zwischenbilanz sowie das Doktorandenkolloquium, das vermutlich im September oder Oktober stattfinden wird, brauchte ich jetzt mal einen Schwung Bilder. Außerdem ist es, wer hätte es gedacht, viel leichter, über einen Ausschnitt aus dem Gesamtwerk nachzudenken, wenn man das Gesamtwerk kennt, es also vor der Nase hat anstatt dafür nach Nürnberg fahren zu müssen.

Beim letzten Archivbesuch hatte ich den noch unerschlossenen Nachlass ein bisschen für mich erschlossen. Ich hatte mir notiert, in welchen Boxen was liegt und was genau mich davon interessiert. Ich wusste also zum Beispiel, dass in der von mir nummerierten Box 2 drei Fotoalben lagen, in denen Protzens Ölgemälde Nr. 306 bis 685 abgebildet waren. Die wollte ich komplett ablichten, um alle seine Werke digital vorliegen zu haben. In Box 3 liegen Werbegrafiken von ihm, die ich im Hinblick auf seine späteren Autobahnbilder äußerst aufschlussreich finde, in einer Mappe liegen Urlaubsfotos, deren Motive sich später in Öl wiederfinden usw.

Ich fragte im Archiv nach, ob sie einen Overheadscanner hätten, den ich benutzen dürfte. Haben sie garantiert, denn man kann sich ja Scans bestellen, aber für den Publikumsverkehr ist der anscheinend nicht freigegeben; ich dürfte aber mit meiner eigenen Kamera lustig fotografieren. Das klingt zwar erstmal fies, ist aber im Vergleich zu anderen Archiven, wo man meist nicht mal mit dem Handy Bilder machen darf, schon ganz okay. (Vielleicht kann mir in diesem Zusammenhang mal jemand erklären, warum ich teilweise Archivgut mit bloßen Händen anfassen, aber kein iPhone drüberhalten darf.)

Ich besitze seit einiger Zeit wieder eine hübsche Kamera, die ich allerdings viel zu wenig benutze. Ich habe blöderweise erst nach dem Kauf festgestellt, dass mich das Fotografieren mit Display nervt, ich hätte gerne wieder einen Sucher. Gestern merkte ich aber, dass für die schnarchlangweilige Dokumentenfotografie ein Display ziemlich schnafte ist.

Aber so weit war ich noch gar nicht. Vorgestern fragte ich, ob jemand ein Reprostativ hätte, mit dem ich arbeiten könne. Unser Medienraum in der Uni hat sowas, aber leider nicht in transportabler Größe. Ich bekam aber auch den Tipp, es bei Fotogeschäften zu versuchen, die hätten manchmal einen Leihservice. Das wusste ich noch nicht! Ich rief bei Foto Sauter an, die mir bedauernd sagten, ein Reprostativ hätten sie nicht, aber man könnte ein Dreiwegestativ nehmen und die Mittelstange umdrehen, dann müsste man die Kamera ja so anbringen können, dass sie nach unten zeigt – wenn ich mal kurz dranbleiben könne, der freundliche Herr am Telefon versuche das mal eben … ja, das geht. Vorbeikommen und abholen, bitte. Das erledigte ich dann noch am Mittwochabend, zahlte 19 Euro Gebühr für einen Tag Leihzeit, baute das Ding probehalber auf dem eigenen Schreibtisch auf, fotografierte ein bisschen damit und stellte fest, das ging wirklich gut.

Gestern setzte ich mich dann wie immer in den ICE, allerdings nicht den frühen, mit dem ich zur Öffnungszeit des Archivs um 9 vor Ort bin, sondern den etwas späteren. Außerdem gönnte ich mir bei den gestrigen 28 Grad eine Station U-Bahn-Fahrt vom Hauptbahnhof zum Opernhaus, anstatt den Weg wie sonst zu Fuß zu gehen (ich mag die führerlose U-Bahn so gerne). Ich transpirierte leider trotzdem etwas, als ich im Archiv ankam, war allerdings auch schwer bepackt. Rucksack mit Rechner, Netzteil, Notizbuch, Zug- und Wartezeitenüberbrückbuch, Wasserfläschchen und externem Trackpad (das im MacBook zickt neuerdings etwas) sowie die Tasche mit Stativ und Kamera waren doch schwerer als ich dachte. Egal. Angemeldet (ich wurde schon erkannt), Sachen ins Schließfach geworfen, an meinen Tisch gegangen und mein Pseudo-Reprostativ aufgebaut.

Hinter dem Stuhl auf dem Wägelchen liegt der komplette Nachlass, mehr ist das leider nicht. Aber immerhin. Weil ich mir bei den Urheberrechten nicht so sicher bin, habe ich die Bilder, die ich abfotografiere, übrigens für die Blogbilder absichtlich teilweise verdeckt. Nur dass ihr nicht denkt, ich wäre zu doof, meine Handschuhe vernünftig abzulegen. Die Gummibänder um die Kamera sind nur für meine neurotische Angst, das Schraubgewinde könnte doch nicht halten. Vermutlich unbegründet, aber man weiß ja nie.

Und dann fotografierte ich. Und fotografierte. Und fotografierte some more. Meine Güte, ist das langweilig, vier Stunden lang nichts anderes zu tun als Dinge hinzulegen, durch ein Display zu gucken, scharfzustellen und abzudrücken. Ich hatte auch nicht das Gefühl, noch wirklich was zu sehen, ich zog einfach nur Zeug aus Boxen, legte es hin, knipste und machte alles nochmal. Das ist echt nicht mein Job. Leider war die Lichtsituation auch nicht die allerbeste, um Fotos zu fotografieren. Papiere und Dokumente gingen einwandfrei, aber bei den blöden glänzenden Bildern habe ich doch manchmal einen Lichtreflex drauf, trotz MacBook zum Abschirmen und meinem wild in die Gegend gehaltenen Notizbuch. Die meisten Seiten der Fotoalben habe ich mehrfach fotografieren müssen, um halbwegs blendfreie Bilder zu kriegen, denn irgendeinen Punkt gab’s halt doch, wo nichts reflektierte. Trotzdem ahne ich, dass ich irgendwann schlampig geworden bin wie das leider meine Art ist bei monotoner Quatscharbeit. Heute werde ich alle Bilder durch den Photoshop jagen und dann gucken wir mal. (Yay, 900 Bilder im Photoshop angucken! Ächz.)

Um 15 Uhr beschloss ich, keine Lust mehr zu haben und außerdem zickte mein Rücken vom vielen komisch Rumstehen und gebückt über Dingen hängen. Ich hatte alles abgelichtet, was ich mir vorgenommen hatte, und dann noch ein bisschen. Für alles weitere muss ich notfalls nochmal vorbeischauen.

Für den Abend hatte ich mich mit jemandem verabredet, den ich seit hundert Jahren lese, und den ich vor ungefähr zehn Jahren mal in Hamburg auf einer kleinen Feier getroffen hatte. Der gute Mann hatte nicht ganz so früh Feierabend wie ich, also überbrückte ich die Zeit mit einem sehr guten Flat White und einer großen Apfelschorle bei Marchhörndl, nachdem ich mir brav St. Lorenz angeguckt hatte. Dort hatte ich aber gemerkt, echt nicht mehr gucken zu können, auch wenn ich mich sehr über den Chorumgang in der Kirche freuen konnte. Chorumgänge sind super. Vor der Kirche fand gerade irgendeine kleine Handwerks- und Industriemesse statt, und während ich auf alte Gemälde mit Goldgrund guckte, hörte ich einen mittelmäßigen Elvis-Imitator. Auch das war, neben meiner Kopfmatschigkeit, ein bisschen dem Kunstgenuss abträglich.

Ich las im Café, dann las ich auf einer Bank in der Fußgängerzone, und dann hatte auch der Herr Feierabend und mein Kopf war wieder wach. Wir setzten uns in einen netten Biergarten mit noch netterem Service, aßen eine Kleinigkeit, ich gönnte mir drei schöne Dunkelbiere und blubberte vermutlich viel zu lange über Nazischeiß (sorry!), wir sprachen aber immerhin nur drei Minuten über Trump und zwei über Söder, und dann viel länger über schöne Dinge. Das war sehr nett, vielen Dank. Auch für die Wegbeschreibung zum Bahnhof: „Einfach immer an der Stadtmauer lang.“ Das können ja auch nicht mehr viele Städte von sich sagen.

Der Herr musste etwas früher weg als mein Zug fuhr, also trank ich mein letzten Bierchen sehr gemütlich, las weiter, schlenderte dann zum Bahnhof, las dort noch, stieg um kurz vor zehn in den ICE und, wer hätte es gedacht, las. Ich beendete das sehr schöne Buch fast punktgenau – fünf Minuten, bevor der Zug im München ankam. Das freut den inneren Monk.

Für die zehnminütige Wartezeit auf die U-Bahn nach Hause hätte ich sogar noch ein zweites Buch im Rucksack gehabt (MAN WEISS JA NIE!), aber mein Kopf war schon im Bett. Der Körper kam relativ schnell nach.

Was schön war, Dienstag, 19. Juni 2018 – Schreibtischtag

Von morgens bis abends am eigenen Schreibtisch gesessen. Alles gelesen, was bei mir rumlag, dann in den einschlägigen Katalogen gesucht und gefunden, da was gelesen, zehn Aufsätze runtergeladen, viele Bilder angeguckt.

Mails an Institutionen und Menschen geschrieben, die mir bei der Diss weiterhelfen sollen. Manchmal sofort eine Antwort gekriegt, bisher leider noch nicht das, was ich brauche. Aber immerhin eine Antwort. Macht ja auch nicht jeder.

Eine Verabredung für Donnerstag in Nemberch (Kunstarchivtag, wo-hoo) getroffen. Sehr vorfreudig.

Morgens schönen Cold Brew genossen, über den Tag verteilt Tee. Abends mit F. und seinem besten Freund essen gewesen. Das erste Mal im Georgenhof ein normales Schnitzel geschafft und nicht nur die kleine Portion, weil ich den Tag über außer einem Mittagsbrot nichts gegessen hatte. Danach hätte ich mich gerne einfach unter den Tisch gelegt, habe es aber noch geschafft, eine Stunde Konversation zu machen. Nach Hause geradelt und ins Bett gekugelt.

Nachts das Schnitzel bitter bezahlt, sehr schlecht geschlafen. Das mit dem Essen habe ich anscheinend auch nach fast 50 Jahre nicht so richtig drauf.

The Glorious, Bizarre History of Soccer and Fashion

Der Atlantic über ein Buch, das sich mit Fußballern und was sie so außerhalb des Platzes tragen, beschäftigt.

„Stylistically, Soccer Style is less measured historical analysis than zingy reader’s guide, with more than 200 photos and taxonomical categories for the five variants of soccer style (Good Taste Ambassadors, Label Kings, Psychedelic Ninjas, Hired Assassins, Bohemians and Fauxhemians). Neymar, the Brazilian superstar, is a Psychedelic Ninja, with “his finger-in-the-socket hair, pointy catlike features, and super-skinny sharp-angled physique.” The retired Italian midfielder Andrea Pirlo is a Good Taste Ambassador, having “entered his wine-instead-of-lager, DILFy years.” Doonan resists the urge to judge, stating more than once how much he appreciates how soccer stars and their cash prop up the fashion industry, excesses and all.

That said, he often has shrewd and insightful analysis into the cultural and economic factors that shaped the outlandishness of soccer style. […] It’s no coincidence that Beckham is so intrinsically linked to the confluence of soccer and fashion, Doonan argues: His professional debut in 1992 coincided with both the founding of the Premier League and the democratization of fashion into “a global, throbbing, screeching, Sex and the City, shimmering spectator sport.”“

Breaking Up with James Joyce

Die Autorin Gabrielle Carey macht mit ihrem Lieblingsschriftsteller Schluss. Oder sie versucht es zumindest.

„My son was nine when a professional man in a suit asked: ‘And what does your mother do?’

Without hesitation, he answered: ‘She works for James Joyce.’

Over the years, my son has heard a lot from his mother’s overbearing boss. On the way home from school he heard readings of Ulysses on the car cassette deck, around the kitchen table he heard discussions of Finnegans Wake, and in the lounge room he heard rehearsals for Bloomsday.

So it was absolutely true that his mother has been in the employ of James Joyce for as long as he could remember. The author has determined my daily work of writing and teaching; he has also provided friends, colleagues, lovers, and once, a husband. Even my social life is arranged around Joyce, anchored each month by a meeting of the Wakers, also known as the Wankers, or, as my daughter refers to them, ‘your boring nerd friends.’ (Or, as the Sydney Morning Herald once accused, ‘the most pretentious book club in Sydney’.)

In many ways, Joyce has been my longest long-term relationship.“

(via Arts & Letters Daily, für das ich mir nie genug Zeit nehme.)

Was schön war, Sonntag/Montag, 17./18. Juni 2018 – „Das ist hier die Frage“

Wochenende ist immer schön, auch wenn manche Fußballspiele eher scheiße sind. Ich meinte so zu F. während #GERMEX, dass ich mich so sehr auf die Bundesliga freue: Selbst bei Augschburg, die echt keine Offensivkünstler sind, wäre mehr Zug zum Tor als bei DER MANNSCHAFT. Nebenbei: Ich ahne Böses, weil in den Werbekampagnen DIE MANNSCHAFT so irre hochgejazzt wird. Es erinnert mich fatal an die Niederlage der Frauen-Nationalmannschaft bei der Heim-WM 2011, als die Damen vorher hochgeschrieben wurden à la „Verlieren ist was für Männer“ und dann fies im Viertelfinale in Wolfsburg rausflogen (ich war im Stadion). Aber gut. Is ja nur Fuppes. Und DIE MANNSCHAFT ist mir egaler als ein Verein.

Ansonsten Sonntag Brot gebacken, Queer Eye geguckt und ein paar Seiten im Finnegans Wake gelesen. Dagegen ist Ulysses streberhafte, gut lesbare Mainstreamliteratur. Die Wake ist quasi nur noch Klang, nur noch Wortgebilde, die vermutlich irgendwas von mir wollen, aber ich habe keine Ahnung was. Oder, nee, Moment, ich behaupte, zwischendurch zu glauben, etwas zu verstehen, aber sicher bin ich mir nicht. Völlig egal, das ist ein lustiges Leseerlebnis.

Ich habe noch ein bisschen über Ulysses nachgedacht. Ich glaube, jeder Autor und jede Autorin möchte gelesen und verstanden werden. Beim Ulysses kommt davon aber nicht viel rüber. Dieses Buch ist eine einzige Absage an alle Lesegewohnheiten, die man sich über Jahrzehnte Buchgenuss angeeignet hat. Ich erwarte irgendwas in der Richtung Stoff- und Figurenentwicklung: also eine Exposition, einen Hauptteil, einen Höhepunkt, einen Ausklang. Schön wären Spannungskurven oder Brüche. Die Charaktere sollten irgendwie gekennzeichnet werden und sie sollten eine Geschichte erleben; die muss nicht minutiös ausgekleidet sein, aber so ein Anfang und ein Ende wären nett.

Der Ulysses hat davon fast nichts. Das Interessante ist aber: Wenn man das im Kopf klargekriegt hat, ist das alles total egal. Und ich glaube inzwischen, dass Joyce einfach mal gucken wollte, ob die Leser*innen so schlau sind wie er und was er uns so zumuten kann.

Von der Wake kann ich noch nicht mehr sagen als in den ersten Zeilen dieses Absatzes, aber ich glaube, hier hat Joyce schlicht aufgegeben, dem Leser oder der Leserin zu vermitteln, was so in seinem Kopf vorgeht – oder sich gedacht: Wer den Ulysses erarbeitet hat, kann sich auch noch mehr anstrengen. Beim Ulysses gibt es wenigstens ein wackeliges Gerüst (die Odyssee), es gibt erkennbare Figuren, die halbgar eingeführt werden, und der Rest brummelt sich halt so zusammen. Man kann diesem Buch folgen, auch wenn es deutlich mühsamer ist als bei allen anderen Büchern, die ich bisher las. (Infinite Jest ist ein Schüleraufsatz dagegen gewesen, und Proust total simpel. Laaaaang, aber simpel.) Ich ahne, dass die Wake mich nochmal herausfordern wird, weil sie nicht mal ein wackeliges Gerüst hat. Aber wer weiß, vielleicht schreibe ich in vier Wochen hier genau das Gegenteil. So wie die erste Seite klangen bis jetzt jedenfalls alle. Ich glaube, ich lese gerade irgendwas zwischen der Bibel und Game of Thrones, aber nicht mal dabei bin ich mir sicher.

Gestern alleine zuhause aufgewacht, weil ich die Woche im anständigen Arbeitsrhythmus beginnen wollte, so mit pünktlich aufstehen, nicht mehr ewig Rumkuscheln und spätestens um 9 am Schreibtisch sitzen, wie in der Agentur halt. Statt Arbeit für Geld erledige ich derzeit Arbeit zum Spaß, nämlich an meiner Dissertation. Deswegen musste gestern auch Fußball ausfallen.

Ich habe in den letzten Wochen sehr gemerkt, dass mir die universitären Deadlines fehlen. In jedem Semester kam irgendwann der Punkt, an dem ich meine dicke Stoffsammlung und die viel zu lange Bibliografie loslassen und ein Referat und/oder eine Hausarbeit bzw. Masterarbeit daraus schnitzen musste. Diesen Punkt habe ich jetzt nicht. Ich kann, wenn ich will, zehn Jahre vor mich hinpromovieren, denn ich mache das ja nur noch, weil mir sonst langweilig wird. Daher habe ich mir selbst den Zeitpunkt Ende Juni gesetzt, an dem mich mir selber ein mindestens 20-minütiges Referat halten werde. Ich werde dafür eine Powerpointpräsentation basteln und ein Handout schreiben, so als ob ein total gespanntes Seminar vor mir sitzt, das dringend meine bisherigen Ergebnisse hören möchte. Und damit ich mich nicht selbst davor drücke, weil doch was dazwischen kommt (wie Arbeit für Geld), habe ich meine geschätzte Korrekturleserin gefragt, ob sie mein Publikum sein will. F. kann den Kram nämlich schon mitsprechen, so oft, wie ich ihn damit belästige.

Die Korrekturleserin hat netterweise Ja gesagt, und deswegen saß ich gestern brav um 9 am Schreibtisch und las meine eigene Stoffsammlung durch, der ich seit November stetig was hinzugefügt habe. Dabei habe ich aber so oft meine Richtung geändert, dass ich jetzt erstmal ordnen musste, was ich überhaupt brauche. Eine halbgare Forschungsfrage ergab sich in den letzten Wochen, vor allem beim Besuch der Moritzburg in Halle, und die verfestigte sich in einigen Gesprächen immer mehr zu einer These. Gestern gegen 17 Uhr konnte ich dann erstmals nach acht Monaten Rumdenken von mir behaupten, meine Diss in einem Satz zusammenfassen zu können. Ich hoffe, der Satz trägt. Jedenfalls baue ich jetzt auf ihm das Referat und die bunte Präse auf, und dann werde ich merken, ob er wirklich was taugt. Im Moment bin ich sehr zuversichtlich.

Das hat sich sehr gut angefühlt. Vor allem, weil ich weiß, in wieviele Sackgassen ich bei Protzen gerannt bin und vermutlich auch weiterhin renne. Mit der jetzigen Ausrichtung müsste ich aber trotzdem das sagen können, was seit Monaten in meinem Kopf rumknetet und jetzt endlich zu einer Form geworden ist.

Weizenbrot nach Lutz Geißler

Eigentlich habe ich mit meinem Topfbrot ein okayes Brotrezept zur Hand, das ich meist am Wochenende mache – wenn überhaupt. Denn ich habe gute Bäcker in meiner Nähe, so dass ich doch eher Brot kaufe als es selbst zu backen. Nun liegt aber seit Freitag hier ein Buch von Lutz Geißler, dessen Plötzblog überquillt mit tollen Rezepten, die, soweit ich weiß, auch die ganze Blogwelt schon erfolgreich nachgebacken hat. Ich probierte aus dem Buch einfach mal das erste Rezept, ein schlichtes Weizenbrot, das dem Topfbrot sehr ähnelt, aber ein winziges bisschen mehr Aufwand erfordert. Was soll ich sagen? Es wurde das hübscheste und wohlschmeckendste Brot, das ich je gebacken habe.

Für einen Brotlaib von einem Kilogramm.

390 g Wasser abwiegen (normal temperiertes Leitungswasser, nicht zu kalt, nicht warm).
Davon einen Esslöffel abnehmen und darin
0,5 g Frischhefe auflösen. Im restlichen Wasser
12 g Salz auflösen.

Bei diesem ersten Arbeitsschritt hatte das Buch schon gewonnen. Meine Digitalwaage misst nur gramm-, aber nicht milligrammgenau ab. Im Buch sind aber im Einband kleine Kreise abgebildet, die die jeweilige Hefemenge anzeigen, von 0,1 bis 42 Gramm, also dem Gewicht eines handelsüblichen Hefebröckchens. „Mein“ Kreis hat einen Durchmesser von einem Zentimeter, woran ich mich prima orientieren konnte, als ich eine kleine Hefekugel knetete und sie dann in Wasser auflöste.

Das Salzwasser in eine große Schüssel geben. Dazu
600 g Mehl, Type 550, geben. Erst darauf das Hefewasser, das möglichst spät Salz abkriegen sollte.

Beim Topfbrot würde ich die Zutaten nun kurz durchrühren, die Schüssel abdecken und 24 Stunden lang rumstehen lassen. Hier hatte ich ein bisschen mehr zu tun, aber das hat sich sehr gelohnt.

Die Zutaten zu einem Teig verkneten. Also nicht nur durchrühren, sondern schön mit den Händen arbeiten. Am besten nicht gleich das ganze Salzwasser in die Schüssel geben, sondern etwas zurückbehalten, falls der Teig schon feucht genug ist. Bei mir hat alles wunderbar gepasst. Der Teig ist recht flüssig bzw. klebrig, aber schon deutlich als Teig erkennbar und eben keine amorphe Masse. Die Schüssel mit Folie oder einem Deckel abdecken und den Teig mindestens 20 Stunden bei Raumtemperatur reifen lassen.

Nach acht bzw. 16 Stunden ziehen und falten. Oder auch: In den ersten Stunden nach dem Ansetzen kann man das quasi dauernd machen, wenn man an der Schüssel vorbeikommt, danach eher weniger. Da ich Samstag abend irgendwann das Haus verlassen habe und auch nachts nicht unbedingt um 3 Uhr morgens Teig kneten wollte, habe ich den Teig zweimal in den ersten acht Stunden gezogen und gefaltet und dann in Ruhe gelassen. Scheint auch zu funktionieren.

„Ziehen und falten“ bedeutet: Du greifst mit der einen Hand unter den Teig und ziehst vorsichtig einen Teigstrang heraus, den du einfach wieder oben auf den Teig auflegst. Es sieht so aus, als hätte der Teig kurz ein dickes Ärmchen, das oben auf dem Teig mit den anderen Ärmchen abklatscht. Mit der anderen Hand drehst du die Schüssel, bis du einmal um den ganzen Teig gekommen bist. Fertig. Teig wieder abdecken und in Ruhe lassen.

Backtag!

Ich stellte beim Heimkommen interessiert fest: Meine übliche Teigschüssel hatte dieses Mal nicht ausgereicht. Der Teig hatte den Deckel nach oben gedrückt, so schön war er aufgegangen.

Den Teig per Teigkarte oder Teigschaber auf eine gut bemehlte Fläche umsiedeln. Einen runden Laib formen, so gut das bei dem weichen Teig halt geht, und ihn in einen Gärkorb legen. Sowas habe ich immer noch nicht; ich nahm eine große Glasschüssel, die ich mit einem bemehlten Leinentuch auslegte (danke, Mama), und ließ den Teigklops hineingleiten, schön mit dem „Verschluss“ nach unten. Also die glatte Oberfläche nach oben. In dieser abdeckten Schüssel ruht der Teig noch einmal eine Stunde. (Diese Ruhezeit hatte ich dem Topfbrot nie gegeben, ich ahne einen Unterschied.)

Ich habe einen Kochlöffel über die Schüssel gelegt, damit das Tuch nicht auf dem Teig liegt, sondern auf dem Löffel, aber ich habe keine Ahnung, ob das dem Teig nicht total egal ist, wenn ein Leintuch ihn berührt.

Den Ofen mit dem Topf oder Bräter (mit Deckel!), in dem das Brot gebacken werden soll, auf 250 Grad vorheizen. Ich habe meinen schönen 26-Zentimeter-Le-Creuset genommen, und das war eine gute Größe.

Den Laib aus dem Gärkorb in den Topf kippen oder, wie ich es gemacht habe, von der Schüssel auf ein Stück Backpapier umsiedeln und alles gemeinsam in den Topf legen. Im Unterschied zum Topfbrot liegt die „Naht“ nun oben, die glatte Seite des Brotes, die in der Schüssel oben lag, liegt nun unten. Ich ahne, dass das für die wirklich schöne Oberfläche verantwortlich ist, mit der das Brot aus dem Ofen kam; sie sah nicht aufgerissen, sondern strukturiert aus. Wunderschön.

Mein Laib war übrigens eher eine platte Flunder, aber die ging noch richtig schön auf. Den Deckel auf den Topf setzen, den Ofen auf 230 Grad herunterschalten und das Brot für 35 Minuten backen. Dann den Deckel abnehmen und weitere zehn Minuten backen. Eventuell mit Alufolie abdecken, falls es zu dunkel wird; das war bei mir nicht nötig, ich mag eine gewisse Rustikalität.

Mit dem Backpapier aus dem Topf heben und eine Stunde auskühlen lassen. Dabei in den ersten Minuten einem herrlichen Knistern zuhören.

Auch nach dem Auskühlen ist die Kruste etwas widerspenstig und das Brot noch recht weich; aus Erfahrung weiß ich, dass das einen Tag später nicht mehr ganz so ist. Gestern musste ich trotzdem drei dicke Scheiben abschneiden, dünne waren nicht möglich. Die erste verzehrte ich teilweise ohne jeden Belag, weil es einfach so hervorragend schmeckte, die zweite dann mit Butter und Salz, und abends zum Fußball gab’s noch ein Salamibrot.

Das Brot ist zäher als das arme Topfbrot, es hat etwas mehr Widerstand und genau die Konsistenz, die ich zum Beispiel bei Baguette so gerne mag. Also nicht diese fluffige weiße Watte, die man beim Kettenbäcker kriegt, sondern die festeren Stangen. Es ist recht grobporig, was ich sehr mag, in die Löcher passt prima Frischkäse. Das Brot riecht nussig, schmeckt ganz, ganz leicht salzig, aber eher würzig als gesalzen. Auch hier: perfekt, genau meins.

Den Laib werde ich heute vermutlich alleine aufessen, so gut schmeckt er. Gleich mal den nächsten Teig ansetzen.

Was schön war, Samstag, 16. Juni 2018 – Mein erster Bloomsday

Auf diesen Tag hatte ich quasi hingearbeitet: Ich wollte den Ulysses bis zum 15. Juni durchgelesen haben (I did it!), damit ich am 16. stolz den Bloomsday begehen konnte. Nicht in Dublin, aber immerhin mit dem Kauf von Zitronenseife, die ich auch brav in der Hosentasche mit mir herumtrug, wenigstens von der Lush-Filiale bis nach Hause.

Das Praktische an Lush ist ja: Selbst wenn man nicht weiß, wo genau es auf der Sendlinger Straße ist, riecht man es schon hundert Meter entfernt. So ging es mir auch; ich kam von der U-Bahn am Sendlinger Tor, ging in Richtung Asamkirche, und kurz hinter dieser roch ich schon die übliche Duftwolke. Ich habe seit Jahren nicht mehr bei Lush eingekauft, hatte den Geruch aber sofort wieder in der Nase. Eine freundliche Dame zeigte mir ihre beeindruckende Auswahl an Zitronenseifen, ich nahm gleich die erste, die am wenigsten Firlefanz hatte und noch dazu hübsch aussah, gönnte mir noch eine Nachtcreme und ging wieder aus dem Parfumschuppen an die frische Luft.

Wenn ich eh schon in der Nähe der Asamkirche bin, gucke ich natürlich auch rein. Fünf Minuten barockester Barock sind immer drin.

Die üblichen Touris machten ihre Bilder, und als ich mich wieder dem Ausgang zuwandte, kam eine ganze Gruppe hinein, alle schon die Kameras im Anschlag – und größtenteils in Argentinien-Trikots gewandet. Ich flüsterte ein „Good luck for the game today!“ in ihre Richtung, aber ich glaube, das war so außerhalb des kirchlichen oder touristischen Kontextes, dass ich nur lächelndes Starren zurückbekam. Wenn ich mein Finnbogason-Trikot angehabt hätte, wäre das vielleicht verständlicher gewesen. (Für die fußballfreie Zone: Gestern spielte Argentinien gegen Island in der WM. Der Herr Finnbogason spielt für Island, aber auch für Augschburg, und ich habe ein FCA-Trikot mit seinem Namen drauf.)


Sehen Sie die Figuren unten rechts? Diese Kirche ist so irre.

Nach der Kirche ging ich wieder in Richtung Sendlinger Tor, als ich mich an eine Twitter-Reply vom German Abendbrot erinnerte, die ich bekam, als ich vom neu entdeckten Nilgiri-Tee schwärmte. Sie fragte, ob ich den vom Teahouse an der Sendlinger kenne. Kannte ich noch nicht – aber seit gestern schon, denn ich ließ mir einfach mal 100 Gramm abwiegen und kochte zuhause eine schöne Kanne. Er kam mir deutlich zitroniger vor als der Nilgiri vom Dallmayr, was gut zu meiner Hosentasche passte.

Vor der Teekanne kamen aber noch der Supermarkt und der Buchladen dran. Im Buchladen holte ich meine zwei neuen Joyce-Bücher ab, und ich fand es sehr schön, dass sie genau am Bloomsday für mich bereitlagen. Ich hatte sie erst Freitag bestellt und mich auf Montag eingerichtet.

Danach ging ich zum Supermarkt und erstand ein Pfund Mehl sowie frische Hefe; das neue Brotbackbuch lockte. Eigentlich wollte ich mich sofort an Baguettebrötchen und Fladenbrot machen, aber ich dachte, fängste doch mal schlau mit dem ersten Rezept im Buch an, dem Grundrezept, das danach in 100 Variationen abgefiedelt wird. Die Unterschiede zum Topfbrot beschreibe ich vermutlich ein epischer Breite, wenn das Brot fertig ist; noch ist es ein Teig in meiner Küche, den ich direkt nach Veröffentlichung dieses Blogbeitrags in einen Laib verwandeln werde. Schauen Sie auch morgen wieder vorbei!

Mit frischem Tee, der Zeitung und zwei neuen Büchern lungerte ich dann des Rest des Tages auf dem Sofa herum und schaute ein Fußballspiel nach dem anderen. Zunächst mühte sich Frankreich sehr ab, was mir noch wurscht war, denn ich wartete natürlich auf #ARGISL, brav im Trikot, wie sich’s gehört. Dort durfte ich auch sehr laut jubeln, denn ALFREDFINNBOGASON (hier Stadionlautstärke in der Stimme vorstellen) schoss das erste WM-Tor für Island in dessen Fußballgeschichte. Das Spiel endete 1:1 unentschieden, was quasi ein Sieg war.

Ja, F. und ich DMen manchmal auf Englisch. Und der Mann weiß, dass es nicht „don’t“ heißt. Und ich weiß seit gestern, dass die Wikinger keine Hörner hatten.

Auf Peru gegen Dänemark verzichtete ich größtenteils, weil ich endlich die ersten Folgen der neuen Staffel Queer Eye gucken wollte. Ich war sofort wieder der Puscheligkeit der fünf Herren verfallen und bin begeistert darüber und fasziniert davon, dass es manche TV-Formate schaffen, mich nach fünf Minuten in eine Decke von Heimeligkeit zu wickeln.

Abends schlenderte ich dann über den Alten Nördlichen Friedhof zu F. und wir schauten Kroatien gegen Nigeria gemeinsam, tranken Wein, knabberten Salzgebäck und quatschten danach noch unter dem Sternenhimmel.

Mein erster Bloomsday war ein wirklich schöner Tag.

Ein äußerst wohliges Dankeschön …

… an Jill, die mich mit Lutz Geisslers Brot backen in Perfektion mit Hefe überraschte. Sein Plötzblog kenne ich natürlich, habe aber noch nie was nachgebacken. Mein uraltes Topfbrot-Rezept reichte mir eigentlich, aber nachdem ich gestern das Buch durchblätterte – das im Prinzip voller Topfbrot-Rezepte steckt –, werde ich mich wohl mal an Baguette trauen und Fladenbrot und ähnliche herrliche Wunderdinge.

Ich freue mich jetzt schon auf das Gefühl, Hefeteig unter den Fingern zu haben. Darüber hatte ich vor kurzem mit Lektorgirl gesprochen, als sie mich auf diese seltsamen Videos hinwies, wo Damen in Slime mit Plastik drin rumkneten. (Ich bin seit Tagen süchtig nach Damen, die Seifenwürfelchen auf Plastik fallen lassen.) Mir fiel im Gespräch als erste Assoziation von Dingen, die ich gerne unter den Händen habe, nach menschlicher Haut Hefeteig ein. Diese glatte und gleichzeitig weiche Spannung der Oberfläche fasziniert mich jedesmal.

Die Widmung zum Buch fand ich übrigens auch sehr schön: „Wenn du damit durch bist, an Kaffee herumzuoptimieren, magst du vielleicht wieder Brot backen? No pressure :-)“ Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut. *geht Mehl kaufen*

Tagebuch, Donnerstag, 14. Juni 2018 – Ruhetag

Alle Texte erledigt, die noch in der Pipeline waren, alle Rechnungen geschrieben. Unter einem kleinen Ulysses-Kater gelitten („Und was mach ich jetzt?“). Croissants und Brezn über den Tag verteilt, keine Lust auf Kochen gehabt. Mich nachträglich über den schönen Dienstagabend mit F. gefreut, an dem wir endlich mal wieder länger für uns Zeit hatten; backfischige DMs geschrieben. Fußball nebenbei laufen lassen, aber irgendwie den Kopf nirgendwo hingekriegt. Nichts richtig gelesen, nicht mal Zeitung, keine Lust auf Serien gehabt, unkonzentriert den Tag rumgebracht. War ein bisschen wie Urlaub, nur ohne irgendwas zu lernen.

Finnegans wachen donnerstags auf

Sehr gelacht über den Satz von Fritz Senn, der sein Studium nie beendete und dessen Joyce-Stiftung in Zürich liegt, wo wöchentlich Lesegruppen stattfinden: „Zürich hat damit vermutlich den höchsten Prozentsatz von Einwohnern, die Ulysses wirklich gelesen haben.“

„JCL | Wie ging es weiter mit Ihrer «Wissenschaftskarriere»?

FS | Eine Folge war, dass ein junger Professor in Amerika, der ein James Joyce Quarterly herausgeben wollte, Verbindung aufnahm, sodass ich von Anfang an auch bei diesem neuen James Joyce Quarterly dabei war. Das führte zu einer Reihe von Publikationen, was besonders Akademiker in Amerika beeindruckt haben musste und wohl zur Annahme ver­leitete, ich – ein Außenseiter – stände mitten im akademischen Betrieb. Im Grunde bin ich immer Amateur geblieben. Der ist nicht an interne Spielregeln gebunden, sondern kann sich unbeschwert auf das ihm Wichtige konzentrieren und Überflüssiges weglassen.

Erst viel später habe ich gemerkt – man kennt ja seine eigenen Motive kaum –, dass ich eigentlich immer die Freude der Leser anregen will. Was mir Spaß gemacht hat, soll auch anderen Spaß bereiten. Dazu kam, dass Zürich – mit Flughafen und mitten in Europa gelegen – eine ideale Joyce-Stadt ist, die von vielen Akademikern besonders aus Amerika besucht wurde. Einmal kam der Herausgeber des James Joyce Quarterly zu Besuch, und wir stellten fest, dass wir beide zur selben Zeit nächstes Jahr um den Bloomsday herum in Dublin sein würden. Und so kamen wir zu später Stunde auf die Idee, eine Tagung in Dublin ins Leben zu rufen – ein Joyce Symposium. Das haben wir großspurig angekündigt, und tatsächlich fanden sich im Juni 1967 über 80 Leute zum ersten Anlass zusammen. Für die Einheimischen in Dublin waren wir bestenfalls Freaks, die großes Aufheben um diesen Joyce machten, der erst viel später massiv vom Tourismus ausgewertet wurde. Uns selber gefiel es so gut, dass wir beschlossen, das Symposium alle zwei Jahre zu wiederholen. So wurde es zur Institution. In diesem Juni wird das 26. Symposium in Antwerpen wiederum etwa 200 bis 300 Forscher, Akademiker und Liebhaberinnen zusammenbringen.“

(Danke an Vera für den Hinweis.)

The Strange Case of the Missing Joyce Scholar

Jack Hitt in der NYT über einen Wissenschaftler, der gerne mit Tauben sprach und sich mit Hans Walter Gabler anlegte. Und dann verarmt starb. Oder nicht? Außerdem im Artikel: eine kurze Versionsgeschichte vom Ulysses.

„Among scholars and Joyce freaks, everyone knew “Ulysses” was an odyssey of errors. Over the decades, there were rumors that some great textual fanatic was about to take on the brute task of cleaning it up. In the 1960s, excitement centered on Jack Dalton’s work, but the task seemed to overwhelm him, and he died in 1981 without producing his edition. By the mid-1980s, European scholars took up the charge, culminating in the announcement of a coming version — “Ulysses: The Corrected Text” — that would set straight 5,000 mistakes and give the world “ ‘Ulysses’ as Joyce wrote it.”

This updated edition was the product of years of fine-tooth-combing through manuscripts and copy-sheets, one letter at a time, all done according to a dense new textual theory that almost no one could understand. The entire project felt authoritative and dour, very German and all consuming, right down to the chief editor’s name, Hans Walter Gabler. Right away, Gabler was challenged by a New World scholar no one had ever heard of, his name right out of some early American morality play — John Kidd. It seemed as if the great watchmaker of the universe had handled the casting: German versus American, Old World versus New, credentialed versus self-taught. The face-off managed to draw an audience far outside academe. Try to imagine this today: For almost a year, textual criticism was happening, and red-hot copies of The New York Review of Books flew off the newsstands.“

(Danke an Vinoroma für den Hinweis.)

Joyce lesen

Die Überschrift ist eine Anspielung auf einen älteren Blogeintrag, den ich schrieb, nachdem ich den letzten Band der Recherche von Proust durchgelesen hatte. Gestern beendete ich Ulysses von Joyce. Ratet, was ich danach geschrieben habe.

Ich versammele mal (fast) alle Blogeinträge zum Buch, die ich seit Anfang diesen Jahres veröffentlicht habe. Wer die alle schon kennt, springt zum Instagram-Bild am Ende vor, danach kommt die große Erkenntnis, die mir vergönnt war.

Am 8. Januar erwähnte ich erstmals, was ich gerade las:

Für Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit habe ich drei Anläufe gebraucht, um über die ersten fünf Seiten hinauszukommen, aber dann habe ich einfach alle dreitausend gelesen. Mal sehen, ob das auch beim Ulysses klappt. Den lese ich nämlich seit gestern, und ich habe bereits zwei Kapitel bezwungen, nachdem ich bei den ersten Versuchen nach zwei Seiten aufgegeben hatte.

F. hat im letzten Jahr mehrere Monate Finnegans Wake vor der Nase gehabt, an das ich mich vermutlich nicht rantrauen werde, aber wir sprachen öfter darüber und über die Züricher James-Joyce-Stiftung, die F. mit einem seiner Freunde schon mehrfach besucht hat. Der Leiter der Stiftung Fritz Senn hat einen guten Tipp fürs Joyce-Lesen, wenn man eingeschüchtert vor dem Wälzer steht und gar nicht weiß, mit welcher Sekundärliteratur man anfangen soll, um die ganzen Anspielungen zu verstehen. Er meint: „Take the short cut. Read the book.“

Genau das habe ich gestern gemacht. Ich selbst besitze den Text der Erstausgabe von 1922, laut meiner Eintragung auf der ersten Buchseite seit 2004. Diese wurde aber von Joyce wieder und wieder überarbeitet – wenn ich dem Vorwort glauben darf, musste man ihm die Druckfahnen quasi aus der Hand reißen, und selbst dann hat er noch darauf rumgemalt, weswegen es diverse Textfassungen gibt. Seit Jahren gilt die Gabler-Edition von 1984 als der Text, der Joyces Vorstellung am nächsten kommt, auch wenn die Ausgabe große Kontroversen hervorrief. Die Editionsgeschichte in der englischen Wikipedia tut so, als wäre die Gabler-Edition Schrott, was, soweit ich weiß, selbst Schrott ist. Aber eigentlich weiß ich über das Thema noch viel zu wenig.

Wie dem auch sei: Ich lese seit gestern die Gabler-Edition von F., die keine Fußnoten hat, gucke aber nach jedem Kapitel in die Endnotes meiner Edition, um im Nachhinein zu verstehen, was ich da gerade gelesen habe. Es macht aber ziemlichen Spaß, sich einfach so in Joyce fallenzulassen, seine Sprache zu genießen, auch wenn ich bei manchen Zeilen nicht weiß, was die schönen Wörter mir sagen wollen. But look how pretty:

„Woodshadows floated silently by through the morning peace from the stairhead seaward where he gazed. Inshore and farther out the mirror of water whitened, spurned by lightshod hurrying feet. White breast of the dim sea. The twining stresses, two by two. A hand plucking the harpstrings, merging their twining chords. Wavewhite wedded words shimmering on the dim tide.“

Oder hier, als Dedalus an seine tote Mutter denkt:

„Folded away in the memory of nature with her toys. Memories beset his brooding brain. Her glass of water from the kitchen tap when she had approached the sacrament. A cored apple, filled with brown sugar, roasting for her at the hob on a dark autumn evening. Her shapely fingernails reddened by the blood of squashed lice from the children’s shirts.“

Oder so Nebenbeisätze, die mich kurz innehalten lassen – wenn Dedalus sich selbst im Spiegel sieht und denkt: „Who chose this face for me?“

Ich freue mich jetzt schon auf den Feierabend, wenn ich das dritte Kapitel beginnen werde.

Am 9. Januar hatte ich bereits drei Kapitel geschafft:

Kurz vor dem Schlafengehen schaffte ich noch das dritte Kapitel von Ulysses, den ich vorgestern begonnen hatte. Ich glaube, die ersten zwei Kapitel hatten mich in falsche Sicherheit gewogen, denn sie waren zwar schwierig, aber irgendwie nachvollziehbar. Aber nach dem dritten dachte ich: „I have no idea what I’ve just read.“ Dass es ein Stream of Consciousness war, hatte ich immerhin kapiert, aber worum es genau ging, konnte ich nur erahnen.

Trotzdem war es eine Freude, den Text zu lesen, was mich die ganze Zeit selbst verwirrte. Bei Sachtexten schimpfe ich sofort los, wenn irgendwas unklar ist, und auch bei literarischen weiß ich gerne, was das Buch von mir will. Hier habe ich keine Ahnung, ich treibe einfach so durch die Worte und gucke, was sie mit mir machen. Mir fiel auf, dass ich genauso auch inzwischen an Kunst herangehe – ich versuche nicht mehr zu verstehen, ich gucke einfach nur und warte, was passiert. Meist lese ich danach schlaue Texte über die Bilder, vor denen ich gerade stand – und genauso wollte ich Ulysses lesen. Als ich aber gestern merkte, dass die Explanatory Notes länger waren als das eigentliche Kapitel, dachte ich mir, ach, Schnickschnack, ich lese einfach das Buch weiter und gucke mal, wo es mich hinwirft. Wie ich vorgestern schon schrieb: „Take the short cut, read the book.“ Den Satz verstand ich erst gestern abend so richtig.

Einen Tag später hatte ich das vierte Kapitel durch:

Abends das vierte Kapitel von Ulysses gelesen. Die Taktik, sich wirklich immer nur ein Kapitel vorzunehmen, klappt ganz gut, ich werde nicht erschlagen von den vielen Fragen, die ich während des Lesens habe, kann aber schon Dinge einordnen, die mir bekannt vorkommen. Außerdem habe ich neben der Oxford-Studienausgabe mit den Endnotes noch ein weiteres Buch bei mir im Regal gefunden, das ich sehr hilfreich finde: The New Bloomsday Book: Guide Through “Ulysses”. Darin wird der Inhalt nacherzählt, aber es werden keine literarischen Anspielungen erklärt oder die vielen fremdsprachigen Einwürfe und Begriffe übersetzt. Diesen Satz aus einer Rezension fand ich sehr schön: „He guides the first-time reader carefully through Joyce’s (famously difficult) novel, but does not challenge the mystery that make[s] Ulysses a joy to read.“ Mit diesen beiden Sekundärliteraturen kann man sich das Buch ziemlich gut erarbeiten. Yay, ich lese Ulysses!

Am 12. Januar steckte ich in Kapitel 5 fest:

Genau wie in Kapitel 4 folgen wir Herrn Bloom bei seinem Weg durch Dublin und kriegen wie aus den Augenwinkeln mit, was er tut, was er sieht und worüber er nachdenkt, gerne flüchtig und in schwer durchschaubaren Halbsätzen. Gestern fiel mir zum ersten Mal auf, dass einige dieser Halbsätze wie Bildbeschreibungen aussehen – und mit denen kann ich rein aus Erfahrung mehr anfangen als mit, ich nenne sie jetzt mal so, literarischen Halbsätzen. Sobald ich anfing, seine Worte nicht mehr als Gedankenstrom und Assoziationsgeklingel anzusehen, sondern als einen Bildeindruck, verstand ich sie gefühlt eher. Ich nahm Cluster war, die ich vorher nicht gesehen hatte, Symboliken, die auf einmal Sinn ergaben.

Ich merke, dass es mir schwerfällt, meine Leseeindrücke in Worte zu fassen. Vielleicht sind meine Gedanken genau die gleichen Assoziationen, die mir gerade beschrieben werden: Bloom blubbert innerlich vor sich hin und ich lege im Geist weitere Dinge an. Das ist ein sehr neues Leseerlebnis, was mir da gerade widerfährt. Es ist deutlich zeitaufwändiger als das meiste, was ich bisher gelesen habe, weil ich mich sehr konzentrieren muss – Ulysses ist kein Buch für die U-Bahn, am gestrigen dreizehnseitigen Kapitel saß ich eine Stunde –, aber es ist sehr lohnend.

Am 19. Januar erwähnte ich nur, dass ich ein weiteres Kapitel hinter mir gelassen hatte, beschrieb das Leseerlebnis aber nicht groß – außer meine Überraschung, dass „Ulysses“ lustig sein kann. Am 21. Januar hatte ich das achte Kapitel beendet und schrieb über meine Assoziationen zu Essen, das in diesem Kapitel eine Rolle spielte. Am 30. Januar war anscheinend eine Erkältung auskuriert und ich konnte wieder lesen:

Der Husten hält sich hartnäckig, aber der Kopf ist wieder klar. Das heißt, ich konnte nach tagelanger Pause endlich im Ulysses weitermachen, für den mein Hirn die ganze letzte Woche gefühlt zu matschig gewesen war. Ich beendete das neunte Kapitel.

In den Kapiteln zuvor folgte ich Bloom und meckerte innerlich rum, dass ich viel lieber Dedalus folgen würde und zack, durfte ich das im neunten Kapitel tun. Schon nach den ersten Seiten fiel mir ein, warum ich lieber über Stephen lesen wollte: Bisher sind die Dedalus-Kapitel die fiesen, bei denen man quasi nichts versteht, aber dafür lesen sie sich für meinen Geschmack viel spannender, eben weil man quasi nichts versteht. Wobei das falsch formuliert ist: Ich lese viel neugieriger, viel aufmerksamer, weil ich stets versuche, doch irgendwas mitzukriegen. Ich kann die Worte erfassen, die mir begegnen, aber sie ergeben keinen für mich bekannten Sinneszusammenhang. Es liest sich wie der irre zweite Wein, den wir im Tantris hatten, es liest sich wie ein Twombly-Gemälde. Man wird irgendwo reingeworfen und muss sehen, wie man mit den Umständen klarkommt. Ich kann verstehen, dass das nicht jedermanns Sache ist, ich habe, wie beschrieben, auch drei Anläufe für dieses Buch gebraucht, aber jetzt sitze ich mitten drin und lasse mich durch die Wortwellen schaukeln.

Außerdem habe ich seit gestern die perfekte Reply auf alles auf Twitter: „I know. Shut up. Blast you. I have reasons.“ (Kapitel 9, Zeile 847, Gabler-Edition.)

Und eine wunderbare Beschreibung des Zustands, wenn man aus der Bibliothek kommt: „Stephen, greeting, then all amort, followed a lubber jester, a wellkempt head, newbarbered, out of the vaulted cell into a shattering daylight of no thought.“ A shattering daylight of no thought. <3 (Kapitel 9, Zeilen 1110–1113, Gabler-Edition.)

Erst am 23. Februar fand sich der nächste Eintrag:

Abends endlich mal wieder ein Kapitel im Ulysses gelesen: Wandering Rocks. Dabei bummeln wir mit diversen Protagonist*innen durch Dublin. Es war das Kapitel, das mir bisher am modernsten vorkam, es fühlte sich an wie eine filmische Montage, die mehrere Handlungsstränge aufmacht und sie am Ende stimmig wieder zusammenführt.

Und nebenbei kam der schöne Satz „Damn good gin that was“ darin vor. Soll nochmal einer sagen, dass Joyce so unverständlich ist.

Und wiederum erst gut einen Monat später der nächste Eintrag, der sich inhaltlich mit dem Buch auseinandersetzte:

Nachmittags lockte dann aber wieder der Ulysses. Im Sirenen-Kapitel saß ich sehr lange fest, weil ich immer nur zwei Seiten geschafft hatte, bevor mir abends die Augen zufielen. […]

Gestern wollte ich dieses Kapitel aber endlich abschließen. Nicht weil es so langweilig ist (haha, langweilig. Der Ulysses und langweilig. Ihr seid ja niedlich), sondern … ähm … ich weiß gar nicht, warum ich es so dringend abschließen wollte. Vielleicht einfach nur, um mich ins nächste Kapitel stürzen zu können, das wieder ganz anders klingt. Wobei mir bisher Sirens am besten gefallen hat, denn es liest sich irre musikalisch. Die nachträglich aufgeschlagene Sekundärliteratur verriet mir, dass Joyce 150 Stücke oder Lieder irgendwie anreißt, aber das war mir alles wurst. Dieses Kapitel klingt durch seine vielen Alliterationen, abgekürzte Wörter, Sätze ohne Kommata, wildes Wortgewusel teilweise so, als ob man es singen könnte, was total toll zu den Sirenen passt. (Ach was?!?)

Nebenbei lernte ich neulich auf Twitter, dass Sirenen nicht sexy sind. Das wusste Joyce mit seiner englischen Übersetzung vermutlich nicht; auch darauf weist jemand im Thread hin. Denn das Kapitel kam mir neben seiner Musikalität sehr sinnlich vor, teilweise schon fast niedlich-platt auf die Zwölf, teilweise verführerisch, tastend, langsam, mal sehen, was geht. Und außerdem fand ich in diesem Kapitel meinen Künstlernamen, falls ich jemals einen brauche. […]

Jedenfalls geht es in diesem Kapitel um zwei Bardamen, Lydia und Mina. Den beiden werden Bronze und Gold zugeordnet, warum, steht bei der Wikipedia, und zum Schluss verkürzt Joyce mal wieder wild, weil er’s halt kann, auch Namen, und dann kommen Sätze dabei heraus wie: „Blind he was she told George Lidwell second I saw. And played so exquisitely, treat to hear. Exquisite contrast, bronzelid, minagold.“

Mina Gold. Super Name. Die Idee hatte allerdings schon jemand. Und eine Mine ist es auch. Aber bis zum Googeln war ich der Meinung, ich hätte einen schönen Künstlernamen gefunden.

Am 2. April war wieder ein Kapitel erledigt:

Wieder ein Kapitel im Ulysses durchschritten. Ich verweise faul auf die Zusammenfassung in der Wikipedia, die ich aber noch ergänzen möchte. Ich empfand den Schreibstil nicht als Slang oder Alltagssprache – im Vergleich zu den anderen Kapiteln las sich dieses fast wie ein normales Buch mit Dialogen, denen man folgen konnte. Diese Gespräche einer Männergruppe im Pub werden unterbrochen von Berichten, die völlig überzogen von verschiedenen Dingen erzählen. Mit „völlig überzogen“ meine ich nicht nur den Tonfall, sondern auch die Beschreibungen. Hier zum Beispiel der Beginn der Beschreibung eines irischen Helden:

„The figure seated on a large boulder at the foot of a round tower was that of a broadshouldered deepchested stronglimbed frankeyed redhaired freely freckled shaggybearded wide-mouthed largenosed longheaded deepvoiced barekneed brawnyhanded hairylegged ruddyfaced sinewyarmed hero.“ (Gabler-Edition, S. 243, Zeile 151–156.)

Die Herren unterhalten sich über Hinrichtungen. Auch hier wird wieder ein Bericht eingeschoben. Er erwähnt unter anderem die anwesenden Zeugen, bei deren Fantasiennamen man heute wegen ihres Alltagsrassismus latent zusammenzuckt. Ich muss gestehen, ich habe bei den deutschsprachigen aber doch lachen müssen. (Den Bindestrich habe ich eingefügt, weil der Name mir sonst ernsthaft das Layout zerschossen hätte.)

„The viceregal houseparty which included many wellknown ladies was chaperoned by Their Excellencies to the most favourable positions on the grand stand while the picturesque foreign delegation known as the Friends of the Emerald Isle was accommodated on a tribune directly opposite. The delegation, present in full force, consisted of Commendatore Bacibaci Beninobenone (the semi-paralysed doyen of the party who had to be assisted to his seat by the aid of a powerful steam crane), Monsieur Pierrepaul Petitépatant, the Grandjoker Vladinmire Pokethankertscheff, the Archjoker Leopold Rudolph von Schwanzenbad-Hodenthaler, Countess Marha Virdga Kisászony Putrápesthi, Hiram Y. Bomboost, Count Athanatos Karamelopulos. Ali Baba Backsheesh Rahat Lokum Effendi, Señor Hidalgo Caballero Don Pecadillo y Palabras y Paternoster de la Malora de la Malaria, Hokopoko Harakiri, Hi Hung Chang, Olaf Kobberkeddelsen, Mynheer Trik van Trumps, Pan Poleaxe Paddyrisky, Goosepond Prhklstr Kratchinabritchisitch, Herr Hurhausdirektorprasident Hans Chuechli-Steuerli, Nationalgymnasiummuseumsanatoriumandsuspensoriumsordinary-privatdocentgeneralhistoryspecialprofessordoctor Kriegfried Ueberallgemein. All the delegates without exception expressed themselves in the strongest possible heterogeneous terms concerning the nameless barbarity which they had been called upon to witness.“ (Gabler-Edition, S. 252, Zeilen 552–571.)

Was im Wikipedia-Eintrag ein bisschen zu kurz kommt: Es geht nicht nur um Antisemitismus. Auch Schwarze, Engländer und Frauen kommen nicht besonders gut weg in diesem Kapitel. Wobei ich fast bei allen Büchern aus dieser Zeit bei den Frauenbeschreibungen die Augen rolle, aber da muss ich wohl weiterhin durch. Wie oben angesprochen, las sich dieses Kapitel im Vergleich recht einfach. Aber da will mich Joyce nur in Sicherheit wiegen, denn das übernächste wird eine schöne Herausforderung, wenn ich der Wikipedia und F. glauben darf.

Auf der Rückfahrt von Hamburg am 23. April las ich teilweise augenrollend, aber größtenteils fasziniert „Nausica“ (das Kapitel vor dem eben angesprochenen „Oxen of the Sun“):

[D]ann las ich ein weiteres Kapitel im Ulysses und musste wiederholt die Augen rollen bei den Beschreibungen der Damenwelt. Wenn es irgendeinen Grund gibt, warum ich die Bücher des literarischen Kanons (also den von weißen Kerlen aufgestellten) allmählich ignoriere, dann den, weil es so irrsinnig anstrengend ist, den male gaze, den ich schon in der Kunstgeschichte dauernd sehe, auch noch lesen zu müssen. Hier entspannt sich Bloom gerade, nachdem er sich befriedigt hat und schaut der hinkenden Frau nach, die sich von ihm dafür hat anschauen lassen:

„Mr Bloom watched her as she limped away. Poor girl! That’s why she’s left on the shelf and the others did a sprint. Thought something was wrong by the cut of her jib. Jilted beauty. A defect is ten times worse in a woman. But makes them polite. Glad I didn’t know it when she was on show. Hot little devil all The same. Wouldn’t mind. Curiosity like a nun or a negress or a girl with glasses. That squinty one is delicate. Near her monthlies, I expect, makes them feel ticklish. I have such a bad headache today. Where did I put the letter? Yes, all right. All kinds of crazy longings. Licking pennies. Girl in Tranquilla convent that nun told me liked to smell rock oil. Virgins go mad in the end I suppose. Sister? How many women in Dublin have it today? Martha, she. Something in the air. That’s the moon. But then why don’t all women menstruate at the same time with same moon, I mean? Depends on the time they were born, I suppose. Or all start scratch then get out of step. Sometimes Molly and Milly together. Anyhow I got the best of that. Damned glad I didn’t do it in the bath this morning over her silly I will punish you letter. Made up for that tramdriver this morning. That gouger M’Coy stopping me to say nothing. And his wife engagement in the country valise, voice like a pickaxe. Thankful for small mercies. Cheap too. Yours for the asking. Because they want it themselves. Their natural craving. Shoals of them every evening poured out of offices. Reserve better. Don’t want it they throw it at you. Catch em alive, O. Pity they can’t see themselves. A dream of wellfilled hose.“

(Kapitel 13, Zeilen 772–793, Gabler-Edition.)

EYEROLL!

„Oxen of the Sun“ erwähnte ich sehr kurz am 10. Mai:

Wieder ein Kapitel im Ulysses in Angriff genommen. Nicht ganz fertig geworden, mich aber wieder gefreut, Ulysses zu lesen. Ich wusste, dass sich in diesem Kapitel der Sprachstil ändert und hatte mir vorgenommen, darauf zu achten, wann und wie er das tut, also ob sich das am Inhalt direkt festmachen lässt, wann das Englische vom Altenglisch zu einem etwas moderneren wird. Trotzdem habe ich diesen einen Satz, diesen einen Zeitpunkt nie mitbekommen, weil ich so mit dem Inhalt beschäftigt war. Mir ist nur irgendwann mittendrin aufgefallen, dass es sich auf einmal anders liest. Joyce, der alte DJ! Schön übergeblendet! (Oder wie immer das bei DJs heißt, wenn ein Stück ins nächste übergeht, ohne dass man es mitbekommt.)

Und am 24. Mai war ich dann im längsten Kapitel des Buchs: „Ich bin endlich im Circe-Kapitel angekommen, dem Everest des ganzen Buchs, und ich ahne, dass ich darin ein bisschen versacken werde.“ Am 27. Mai bloggte ich darüber:

Ansonsten widmete ich mich dem riesigen Circe-Kapitel im Ulysses, das ich allerdings nicht durchbekam; irgendwie geriet mir ein Schläfchen dazwischen. Mein Plan ist es, das Buch bis zum 15. Juni durchgelesen zu haben, denn am 16. ist bekanntlich Bloomsday, und den könnte ich dann in diesem Jahr erstmals mitfeiern. Zumindest im Geist, nach Dublin fahren werde ich dazu nicht. Aber ich könnte eine schöne Zitronenseife kaufen.

Vorher muss ich aber noch ein bisschen lesen. Circe ist in Form eines Theaterstücks geschrieben. Die Regieanweisungen sind genauso surreal wie die theoretisch gesprochenen Texte, und was mir in diesem Kapitel zum ersten Mal im Buch passierte, ist, dass sich das Gefühl beim Lesen dauernd ändert. Klar gibt es auch in den anderen Kapiteln Spannungsbögen – oder eben nicht –, aber gestern stellte ich quasi alle fünf Minuten fest, dass ich mich anders fühlte als eben noch.

Es gibt Stellen, bei denen ich keine Ahnung habe, worum es gerade geht, aber auch das kenne ich schon, und ich glaube inzwischen, das muss so sein. Ich lasse mich von den Worten und Beschreibungen mittragen, ohne dass ich weiß, was sie von mir wollen; es ist ein bisschen wie Touristin in einem fremden Land zu sein, dessen Sprache man nicht spricht. Man wird zu irgendeiner Feier eingeladen, es gibt Dinge zu essen und zu trinken, die man nicht kennt, und man macht halt mit und es ist irgendwie okay. Wenige Seiten später merkte ich, dass ich traurig war und nicht einmal sagen konnte, warum eigentlich. Bloom muss sich verteidigen, er stottert Wortbrocken vor sich hin, beschreibt die Beerdigung, von der er kommt, bis sogar der Leichnam persönlich seine Aussage bestätigt. Wieder einige Seiten später scheint Bloom erst zum Bürgermeister Dublins zu werden und dann gottähnlich, es folgen Beschreibungen von üppigen Festivitäten mit riesigen Aufbauten und Menschenmengen, und ich wurde ehrfürchtig (und mochte die Beschreibungen gern).

„BLOOM My beloved subjects, a new era is about to dawn. I, Bloom, tell you verily it is even now at hand. Yea, on the word of a Bloom, ye shall ere long enter into the golden city which is to be, the new Bloomusalem in the Nova Hibernia of the future.

(Thirtytwo workmen wearing rosettes, from all the counties of Ireland, under the guidance of Derwan the builder construct the new Bloomusalem. It is a colossal edifice, with crystal roof built in the shape of a huge pork kidney, containing forty thousand rooms. In the course of its extension several buildings and monuments are demolished. Government offices are temporarily transferred to railway sheds. Numerous houses are razed to the ground. The inhabitants are lodged in barrels and boxes, all marked in red with the letters: L. B. Several paupers fall from a ladder. A part of the walls of Dublin, crowded with loyal sightseers, collapses.)

THE SIGHTSEERS (Dying) Morituri te salutant. (They die.)“

(Gabler-Edition, Kapitel 15, Zeilen 1541–1557)

Ein paar Seiten später musste ich sehr über die neuen Musen dieser neuen Zeit lachen:

„Bloom explains to those near him his schemes for social regeneration. All agree with him. The keeper of the Kildare Street Museum appears, dragging a lorry on which are the shaking statues of several naked goddesses, Venus Callipyge, Venus Pandemos Venus Metempsychosis, and plaster figures, also naked, representing the new nine muses, Commerce, Operatic Music, Amor Publicity, Manufacture, liberty of Speech, Plural Voting, Gastronomy, Private Hygiene, Seaside Concert Entertainments, Painless Obstetrics and Astronomy for the People.“ (1702–1710)

Dann wird Bloom plötzlich zu einer Frau und gebiert Kinder und ich las vermutlich mit offenem Mund und simpler Begeisterung.

„DR DIXON (Reads a bill of health) Professor Bloom is a finished example of the new womanly man. His moral nature is simple and lovable. Many have found him a dear man, a dear person. He is a rather quaint fellow on the whole, coy though not feeble-minded in the medical sense. He has written a really beautiful letter, a poem in itself, to the court missionary of the Reformed Priests’ Protection Society which clears up everything. He is practically a total abstainer and I can affirm that he sleeps on a straw litter and eats the most Spartan food, cold dried grocer’s peas. He wears a hairshirt winter and summer and scourges himself every Saturday. He was, I understand, at one time a firstclass misdemeanant in Glencree reformatory. Another report states that he was a very posthumous child. I appeal for clemency in the name of the most sacred word our vocal organs have ever been called upon to speak. He is about to have a baby.

(General commotion and compassion. Women faint. A wealthy American makes a street collection for Bloom. Gold and silver coins, bank cheques, banknotes, jewels, treasury bonds, maturing bills of exchange, I.O.U.s, wedding rings’ watch-chains, lockets, necklaces and bracelets are rapidly collected.)

BLOOM O, I so want to be a mother.

MRS THORNTON (In nursetender’s gown) Embrace me tight, dear. You’ll be soon over it. Tight, dear.

(Bloom embraces her tightly and bears eight male yellow and white children. They appear on a redcarpeted staircase adorned with expensive plants. All are handsome, with valuable metallic faces, wellmade, respectably dressed and wellconducted, speaking five modern languages fluently and interested in various arts and sciences. Each has his name printed in legible letters on his shirtfront: Nasodoro, Goldfinger, Chrysostomos, Maindorée, Silversmile, Silberselber, Vifargent, Panargros. They are immediately appointed to positions of high public trust in several different countries as managing directors of banks, traffic managers of railways, chairmen of limited liability companies, vice chairmen of hotel syndicates.)“ (1798–1832)

Dann sind wir wieder im Bordell, wo das ganze Kapitel spielt, die anwesenden Damen und ihre körperlichen Vorzüge werden beschrieben, was mich genervt hat, aber immerhin ist Stephen wieder da, dem ich so gerne folge. Und dann singt eine Motte ein Lied, das mich rührte, warum auch immer:

„I’m a tiny tiny thing
Ever flying in the spring
Round and round a ringaring.
Long ago I was a king,
Now I do this kind of thing
On the wing, on the wing!
Bing!“ (2469–2475)

„Long ago I was a king / Now I do this kind of thing“ fand ich sehr schön und gleichzeitig sehr traurig. (Ja, es ist eine Motte, schon gut. Trotzdem.)

Ich beendete das Kapitel bei circa Zeile 2700; auf mich warten noch ungefähr 2300. Die Drogen, die Joyce bei diesem Kapitel eingenommen hat, will ich auch.

Am 10. Juni war das drittletzte Kapitel erledigt:

Gestern durchschritt ich das drittletzte Kapitel vom Ulysses, das mir wie eine Pastiche (oder sogar Parodie) auf Proust, Dickens, Melville und die anderen Herren mit den langen Texten und den vielen Adjektiven vorkam. Das war mit Abstand das un-ulysseischste Kapitel im Buch, weil es sich so normal angefühlt hat. Und so sehr ich bei allen anderen Kapiteln zwar davon fasziniert war, dass ich Dinge lese und nicht weiß warum, weil ich nicht weiß, was das alles soll, aber gleichzeitig ein bisschen verlassen auf hoher See war, weil ich eben nicht wusste, wo es hingeht, so war ich hier auf einmal im sicheren Hafen total gelangweilt. Hier kenne ich ja alles! Werd bitte wieder irre, du seltsamstes Buch aller Zeiten!

Vergangenen Montag dann das vorletzte:

[D]ann nahm ich mir das vorletzte Kapitel im Ulysses vor: Ithaca.

Die Wikipedia behauptet, „Die Handlung wird – mühsam und umständlich – in Form von pseudo-wissenschaftlichen Fragen und Antworten erzählt“, was ich überhaupt nicht so empfunden habe. Frage und Antwort, ja, oder auch gerne mal eine Anweisung: „Compile the budget for 16 June 1904“, worauf eine Liste mit Dingen und Preisen folgt, aber dass das „mühsam und umständlich“ gewesen sein soll, fand ich überhaupt nicht. Ich habe das Kapitel mit großem Genuss gelesen und hätte davon auch gerne noch weitere 50 Seiten gehabt, gerade weil ich es so spannend fand, dass das relativ strenge Format – Frage und Antwort – nie langweilig wurde, ganz im Gegenteil.

Das lag natürlich auch an den Fragen. Manche erforderten eine kurze Antwort, andere brauchten eine Seite. Zum Beispiel, als Bloom sich in der Küche die Hände waschen möchte, bevor er sich und Stephen einen Kakao zubereitet. Die total logische Frage, die uns allen auf der Seele brennt, lautet:

„What in water did Bloom, waterlover, drawer of water, watercarrier returning to the range, admire?“

Und die Antwort, nach der ich das Buch mal eben umarmen und F. eine schwärmische DM schicken musste, weil ich so verliebt in den Text war:

„Its universality: its democratic equality and constancy to its nature in seeking its own level: its vastness in the ocean of Mercator’s projection: its umplumbed profundity in the Sundam trench of the Pacific exceeding 8,000 fathoms: the restlessness of its waves and surface particles visiting in turn all points of its seaboard: the independence of its units: the variability of states of sea: its hydrostatic quiescence in calm: its hydrokinetic turgidity in neap and spring tides: its subsidence after devastation: its sterility in the circumpolar icecaps, arctic and antarctic: its climatic and commercial significance: its preponderance of 3 to 1 over the dry land of the globe: its indisputable hegemony extending in square leagues over all the region below the subequatorial tropic of Capricorn: the multisecular stability of its primeval basin: its luteofulvous bed: Its capacity to dissolve and hold in solution all soluble substances including billions of tons of the most precious metals: its slow erosions of peninsulas and downwardtending promontories: its alluvial deposits: its weight and volume and density: its imperturbability in lagoons and highland tarns: its gradation of colours in the torrid and temperate and frigid zones: its vehicular ramifications in continental lakecontained streams and confluent oceanflowing rivers with their tributaries and transoceanic currents: gulfstream, north and south equatorial courses: its violence in seaquakes, waterspouts, artesian wells, eruptions, torrents, eddies, freshets, spates, groundswells, watersheds, waterpartings, geysers, cataracts, whirlpools, maelstroms, inundations, deluges, cloudbursts: its vast circumterrestrial ahorizontal curve: its secrecy in springs, and latent humidity, revealed by rhabdomantic or hygrometric instruments and exemplified by the hole in the wall at Ashtown gate, saturation of air, distillation of dew: the simplicity of its composition, two constituent parts of hydrogen with one constituent part of oxygen: its healing virtues: its buoyancy in the waters of the Dead Sea: its persevering penetrativeness in runnels, gullies, inadequate dams, leaks on shipboard: its properties for cleansing, quenching thirst and fire, nourishing vegetation: its infallibility as paradigm and paragon: its metamorphoses as vapour, mist, cloud, rain, sleet, snow, hail: its strength in rigid hydrants: its variety of forms in loughs and bays and gulfs and bights and guts and lagoons and atolls and archipelagos and sounds and fjords and minches and tidal estuaries and arms of sea: its solidity in glaciers, icebergs, icefloes: its docility in working hydraulic millwheels, turbines, dynamos, electric power stations, bleachworks, tanneries, scutchmills: its utility in canals, rivers, if navigable, floating and graving docks: its potentiality derivable from harnessed tides or watercourses falling from level to level: its submarine fauna and flora (anacoustic, photophobe) numerically, if not literally, the inhabitants of the globe: its ubiquity as constituting 90% of the human body: the noxiousness of its effluvia in lacustrine marshes, pestilential fens, faded flowerwater, stagnant pools in the waning moon.“

(Zeilen 185–228, Gabler-Edition)

HACH! He, Wallace, THIS is water.

Zwischendurch war ich wie immer im Buch verzückt von schönen Formulierungen, die bei längerem Nachdenken keinen Sinn ergeben, aber schön klingen („with winedark hair“, Zeile 785) oder die schön klingen und viel zu viel Sinn ergeben wie „the ecstasy of catastrophe“, Zeile 786, oder:

„What events might nullify these calculations? [die Altersberechnung von Stephen und Bloom]

The cessation of existence of both or either, the inauguration of a new era or calendar, the annihilation of the world and consequent extermination of the human species, inevitable but impredictable.“ (462–465)

oder

„Alone, what did Bloom feel?

The cold of interstellar space, thousands of degrees below freezing point or the absolute zero of Fahrenheit, Centigrade or Réaumur: the incipient intimations of proximate dawn.“ (1242–1244)

[…]

Jetzt muss ich aber los, Penelope wartet.

Penelope las ich vorgestern und gestern durch und damit den Rest des Buchs. 644 Seiten in gut fünf Monaten ist vermutlich nicht irre schnell, aber man kann Ulysses anscheinend auch mit größeren Pausen darin lesen. Vielleicht sind sie sogar nötig.

Goodbye, „Ulysses“. It‘s been quite a journey. ❤️

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Mir ist beim nachträglichen Sammeln der Blogeinträge einiges aufgefallen. Zum Beispiel, dass ich bereits relativ früh aufgehört habe, die Fußnoten zu lesen, die in meiner Oxford-Ausgabe drin sind und die ich anfangs parallel zur Gabler-Edition las. Ich merkte aber schnell, dass ich gar nicht jedes fremdsprachige Wort und jede Anspielung verstehen musste, um das Buch zu genießen. Genauso ging es mir mit der Sekundärliteratur. Während ich anfangs nach jedem Kapitel im Bloomsday Book nachlas, ob ich das eben Gelesene auch richtig verstanden hatte, merkte ich hier ungefähr in der Mitte des Buchs, dass es völlig egal ist, ob man irgendwas versteht.

Das war vermutlich für mich das größte Aha-Erlebnis dieses Werks: Es geht gar nicht darum, es zu verstehen. Genauso wenig wie man abstrakte Kunst verstehen muss oder zeitgenössische Musik. Man kann natürlich die viele Literatur zum Ulysses nebenbei lesen, man kann versuchen, das Gilbert-Schema wiederzufinden (ich habe das komplett ignoriert), man kann sich an jedes Wort und jede Szene klammern. Man kann sich aber auch einfach dem Roman überlassen und die völlige Distanzlosigkeit zwischen Verfasser und Leserin erleben.

Meiner Meinung nach geht es schlicht darum, die Schönheit und Vielfalt der englischen Sprache zu würdigen, zu genießen, sie zu bewundern oder sich auch von ihren Möglichkeiten einschüchtern zu lassen. Jedes Kapitel ist in einem anderen Stil verfasst, weswegen sich das Buch auch nach 500 Seiten noch so anfühlt, als hätte man gerade erst damit angefangen. Manche Kapitel gefielen mir besser, andere las ich eher pflichtschuldig durch, aber bei denen, die ich mit Begeisterung las, ging es mir wie bei Proust: Mir war bewusst, dass ich etwas Außergewöhnliches lese. Warum, ist egal. Ob ich alles kapiere, auch egal. Ich darf an etwas teilnehmen, was vielleicht nicht jeder vergönnt ist. Ich hatte die Zeit und die Muße und, ja vielleicht auch die innere Einstellung, mich in dieses Buch und seine Kapriolen fallen zu lassen.

Zu dieser Einstellung schrieb F. vor ein paar Tagen etwas sehr Gutes, das ich mal zusammenfasse:

„Seit dem Lachenmann-Konzert am Freitag habe ich über etwas nachgedacht. Der Herr neben mir zog während des Schlußapplauses mit seiner Frau empört von dannen und konstatierte, es sei eine Zumutung gewesen. Abgesehen von der Frage, warum er überhaupt da war (vermutlich Ehrenkarte). / Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß jegliche Infragestellung unserer kulturellen Gewohnheiten (sei es Musik, Theater oder bildende Kunst) zunächst eine Zumutung ist, dann aber zur Herausforderung wird, die wiederum Erkenntnis gebiert, was dann am Ende unseren Horizont erweitert. / Ich bin froh, für mich selber an dem Punkt angekommen zu sein, dass ich es gleich als Herausforderung empfinde, in meinen Seh- oder Hörgewohnheiten angegriffen zu werden. Und daß dann in gewisser Regelmäßigkeit auch Erkenntnis folgt. / Glücklich kann sich schätzen, wer in einem oder mehrerer dieser Bereiche so bewandert ist, dass er sowohl Zumutung als auch Herausforderung überspringen kann, und gleich zum Erkenntnisgewinn kommt.“

Zunächst schrieb ich nach dieser Tweetkette diese Sätze in den Blogeintrag: „So bewandert bin ich literarisch nicht, dass der Ulysses für mich eine Erkenntnis bereitgehalten hat – außer dass ich jetzt noch mehr Joyce lesen möchte, hey!“ Ein paar Stunden später fiel mir aber auf, dass ich eine irre große Erkenntnis gewinnen konnte, die mir aber nicht sofort eingefallen war, weil sie mit meinem Handwerk und meiner Einschätzung meiner eigenen Fähigkeiten zu tun hat, die ich beide gerne abtue, was sehr doof ist. Also, Erkenntnis, Achtung: was Sprache alles kann. Was sie kann, wenn man sie lässt bzw. wenn man jemanden hat, der*die weiß, wie er*sie mit ihr arbeitet. Und was man selber kann, wenn man sich lässt und nicht dauernd hinterfragt, ob das jetzt Sinn ergibt oder was nützt. (!) Erkenntnisausrufezeichen! Bloom gilt als der Allerweltsmann, und wir lesen lauter Allerweltsdinge in einer Allerweltsstadt. Genau deshalb, denke ich, kann der Ulysses auch jede Leserin zu einer anderen Erkenntnis bringen, denn jeder Alltag ist anders. Dein Leben ist anders als meins, und deswegen liest du dieses Buch auch anders.

Nochmal zurück zur Tweetkette: Ja, Ulysses war mehrere Anläufe lang eine Zumutung, der ich mich nicht aussetzen wollte. In diesem Jahr aber ist es anscheinend zu einer Herausforderung geworden, ohne dass ich es darauf angelegt hätte. Wie bei Proust denke ich, dass die Zeit – bzw. ich – einfach dafür reif war, mich von diesem Werk mitnehmen zu lassen und mich ihm völlig auszuliefern.

Ich las mal irgendwo, dass man Ulysses mindestens dreimal liest: das erste Mal, um einfach zu gucken, warum alle so eine Angst vor diesem Buch haben – ist das wirklich so schlimm und unverständlich und anstrengend? (Nein, oft, selten.) Dann das zweite Mal, wo man schon weiß, worum es geht, man kennt die Orte und Personen – jetzt kann man sich den tausend Fußnoten und Anmerkungen hingeben, um das Buch vielleicht doch zu entschlüsseln, wenn man es denn darauf anlegt. Und das dritte Mal liest man zum Spaß: Das Buch hat keine Geheimnisse mehr – aber jetzt ist man gewappnet für alle Ebenen, die man bei den ersten beiden Anläufen noch nicht mitbekommen hat und die man jetzt ganz individuell für sich aufdröselt. Dazu zitiere ich noch mal Fritz Senn:

„Natürlich verdient der Ulysses die ganze intellektuelle Belastung durchaus. Der Roman ist noch lange nicht ausgebeutet: Da ist noch viel zu entdecken. Das Buch eignet sich vorzüglich für gelehrte und geistesgeschichtliche Untersuchungen, ob deren Ergebnisse nun pedantisch, abseitig, lehrreich, abstrakt oder wegweisend sind. Was alles wir über den Ulysses schon gehört haben, trifft meistens auch zu; aber noch viel mehr stimmt das, was vielleicht noch nicht gesagt worden ist und worauf vielleicht, wer weiß, gerade wir bei der unvoreingenommenen Lektüre, wenn’s die gäbe, zuerst stoßen. Trotz der vielen Wegweiser, die hilfreich in alle Richtungen zeigen, weist die Landkarte noch ein paar weiße Flecke auf.“

(Fritz Senn: „Lese-Abenteuer ‚Ulysses‘“, in: Franz Cavigelli (Hrsg.)/Ders.: Nichts gegen Joyce. Aufsätze 1959–1983, Zürich 1983, S. 32–47, hier S. 32.)

Anders ausgedrückt: Ulysses ist, was du daraus machst.

Take the short cut. Read the book.

Ein immer erstaunteres Dankeschön …

… an die gleiche Dame, die mich schon am Wochenende mit fünf (FÜNF) Büchern beglückte und die sich nach meinem ratlosen Eintrag vom Sonntag meldete. Gestern kamen nochmal drei Bücher, dieses Mal von meinem Wunschzettel, und eins steht dazu noch auf dem Lieferschein, der dem Päckchen beilag, denn das erscheint erst am 28. Juni. Kind! Gib nicht so viel Geld für mich aus! So viele Bücher bekomme ich sonst innerhalb eines Jahres von neun verschiedenen Leuten! Aber hey: DANKE!

Die drei Neuzugänge im Regal muss ich euch natürlich vorstellen, denn ich bin sehr gespannt auf sie. Das erste Buch ist Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent: Europa 1900–1914. Dessen Nachfolger, Die zerrissenen Jahre: 1918–1938, habe ich sehr gern gelesen und freue mich daher auf die Hinführung.

Dann lag im Päckchen noch Das andere Achtundsechzig: Gesellschaftsgeschichte einer Revolte von Christina von Hodenberg. Das Buch lenkt den Blick unter anderem auch auf die weiblichen Akteure der 68er Umbrüche und befasst sich auch mit dem Generationenkonflikt mit den Eltern der NS-Zeit. Beim Perlentaucher steht mehr.

Außerdem freue ich mich über Peter Geimers Theorien der Fotografie zur Einführung, das uns die Dozentin der Fotografievorlesung ans Herz gelegt hat. Es ist ein schmales Bändchen, scheint aber ein sehr guter Überblick zu sein. Das Inhaltsverzeichnis klingt jedenfalls sehr vielversprechend. Ich habe es dann doch weitaus seltener in diesen Hörsaal geschafft als geplant, aber ich gucke mir immer brav die Powerpoint-Folien an, auf die ich Zugriff habe und merke stets, im Studium doch mehr über die Akteur*innenn der Fotografiegeschichte mitbekommen zu haben als ich dachte. Und das theoretische Rüstzeug hole ich jetzt nach.

Ende Juni erscheint dann von Armisteas Maupin Logical Family: A Memoir. Maupins Tales-of-the-City-Reihe habe ich mehrfach gelesen, was allerdings auch schon 20 Jahre her sein dürfte. Ich bin daher sehr gespannt auf seine Autobiografie, aus der sich die Tales ja teilweise zogen.

Vielen, vielen Dank für die ganzen Päckchen. Ich war offensichtlich verwirrt darüber, habe mich aber sehr gefreut.