Meine Eltern, beide fast 80, haben mich die letzten Tage in München besucht. Das hat mich sehr gefreut, mich aber auch mehr Nerven gekostet als ich erwartet hatte: Ich war nicht darauf vorbereitet, wieviel ich erklären oder vorausdenken musste. Ich habe einiges über meine eigene Stadt gelernt und wie ich mich in ihr bewege – und dass man die eigene Wahrnehmung nicht einfach so für andere voraussetzen kann.
Meine Twittertimeline und die Lektüre von vielen Blogs haben mich bereits seit längerer Zeit dafür aufmerksam werden lassen, wie unfreundlich unsere Stadtarchitektur zu den sogenannten schwächeren Teilnehmern und Teilnehmerinnen ist. Schmale und zugeparkte Radwege sind ein Punkt, nicht genügend Fahrstühle an U-Bahnhöfen für Menschen mit Kinderwagen oder für Rollstuhlfahrer*innen sowie Trambahnen und Busse, die für die beiden letztgenannten teilweise nicht benutzbar sind, weil sie nicht ebenerdig zu betreten sind. In den letzten Tagen ist mir erstmals aufgefallen, wie kompliziert die Stadt sein kann, wenn man älter ist und vielleicht einfach nicht mehr so schnell oder aufmerksam. Oder auch, weil man es schlicht nicht gewohnt ist, sich in einer Großstadt zu bewegen.
Meine Eltern wohnen zwar in einer kleinen ländlichen Gemeinde, fahren aber seit Jahrzehnten problemlos Bahn und neuerdings S-Bahn, die sie nach Hannover bringt. Dort nutzen sie die Straßenbahn, um zum Beispiel zu Arztpraxen oder kulturellen Veranstaltungsorten zu kommen. Sie fahren auch beide noch Auto, sind es also gewohnt, sich im Verkehr zu bewegen bzw. auf vieles gleichzeitig achten zu müssen. Auch deswegen war ich an den ersten Tagen schlicht davon überfordert, sie gefühlt von überall her abholen oder sie irgendwo hinbringen zu müssen, anstatt sie sich selbst zu überlassen, weil ich dachte, das wäre für sie alles kein Problem. Mein Vater erklärte mir schließlich, dass er sich für Hannover immer aufschreibe, wo er langgehen müsste, welche Nummer die Bahnen hätten, wo genau er aussteigen muss etc. Zudem ist Hannover dann doch eine Ecke kleiner als München, und das hatte ich schlicht unterschätzt.
Ihr Hotel lag einen guten Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Am ersten Abend holte ich sie zu Fuß ab, um mit ihnen zu mir zu gehen, wo wir gemeinsam zu Abend aßen. Ich nutzte nicht den kürzesten Weg, sondern den etwas hübscheren, der aber auch fast immer geradeaus ging. Aber eben nur fast. Nebenbei erklärte ich, was ich so an Wissenswertem weitergeben wollte: Hier ist die Ersatzhaltestelle vom Bus, mit dem wir zur Masterzeugnisübergabe fahren; hier ist ein Supermarkt, falls ihr noch Snacks fürs Hotelzimmer braucht; hier ist der Alte Nordfriedhof, wo ich gerne rumlaufe; hier biegen wir endlich zu mir ab, merkt euch mal das italienische Restaurant, an dem ihr nachher nach rechts gehen müsst; hier ist meine U-Bahn-Station, merkt euch mal das blaue U zur Orientierung. Klang für mich alles total nachvollziehbar, und so schickte ich sie arglos nach dem Abendessen wieder zu Fuß in ihr Hotel (sie wollten nicht U-Bahn fahren).
Sie brauchten recht lange, um sich wieder telefonisch bei mir zu melden, dass sie gut im Hotel angekommen waren. Warum, das erzählten sie mir erst am nächsten Tag.
Zwischen U-Bahn und Italiener gibt es noch ein griechisches Restaurant, das sie mit dem italienischen verwechselten und schon wenige Meter nach meiner Wohnung falsch abbogen. Dann kamen sie zur nächsten U-Bahn-Station und waren völlig verwirrt, denn die war ja viel weiter weg als sie dachten. (Da waren sie quasi 300 Meter vom Hotel entfernt und wussten es nicht.) Den Friedhof und den Supermarkt fanden sie gar nicht mehr wieder, und wenn sie nicht nette Menschen mit Orientierungssinn und Ortskenntnis getroffen hätten, wären sie immer noch nicht wieder im Hotel.
Ich begann darüber nachzudenken, wie ich Wege erkläre, dass ich vermutlich nicht präzise genug gewesen bin oder sie mit viel zu vielen Informationen zugeballert hatte – oder dass ich schlicht nicht daran gedacht hatte, dass man sich verlaufen kann. Denn ich habe schließlich immer ein Smartphone dabei, auf dem mir gleich mehrere Apps sagen, wo ich mich innerhalb einer Stadt befinde, die wunderbar in Google oder Apple Maps aufbereitet ist, so dass ich Straßennamen finde oder sogar Restaurants oder Läden, die mir als Wegmarkierung dienen können. Ich kann mir eine Route anzeigen lassen und sie blöd abmarschieren. Oder ich nutze eine der vielen Verkehrs-Apps, die mir Busse und Bahnen anzeigen. Oder notfalls die Taxi-App, durch die ich bis vor die Haustür chauffiert werde. Ich hatte schlicht vergessen, dass meine Eltern kein Smartphone haben. Immerhin das hat diese Reise erreicht: Die beiden wollen sich jetzt endlich eins anschaffen. Das hatte meinen Vater schon fasziniert, als er im Juli mit meiner Schwester und ihrem Mann hier war; dass ich letzterem immer sagte, wie treffen uns dann nachher da und da, woraufhin er einfach sein Handy zückte, die richtige Tram fand und den Fußweg. Das begeisterte meinen Vater schon, dass man sich alleine in einer fremden Stadt in wenigen Minuten zurechtfinden kann.
Mir fiel nach dem ersten Verlaufen der beiden (es war nicht das einzige) auch auf, dass U-Bahnhöfe für ungeübte Augen alle gleich aussehen, zumindest hier in München und vor allem im Dunkeln. Der Stationsname steht hier nicht groß am blauen U, sondern quasi erst auf Augenhöhe, wenn man bereits die ersten Treppenstufen heruntergegangen ist, und besonders gut beleuchtet ist er auch nicht. Darauf hatte ich noch nie geachtet, denn ich weiß ja schließlich, an welcher U-Bahn ich bin. Ich musste mich wirklich selbst umschauen, wo genau denn eigentlich der Stationsname steht; darauf hatte ich seit Jahren nicht mehr geachtet.
Als wir einen Tag später U-Bahn fuhren, um zum Hauptbahnhof zu kommen und von dort einen Zug nach Rosenheim zu nehmen, musste ich mich immer nach den beiden umschauen, um sicher zu sein, dass sie mich sehen. Ich achtete erstmals bewusst darauf, wie sehr man sich auf die Ausschilderung konzentrieren muss, um von der U-Bahn nach oben zum Bahnhof zu kommen und von dort ans richtige Gleis. Ich weiß selbst auch oft nicht, welchen Aufgang ich nach oben brauche, ich nehme halt irgendeinen und gucke von da weiter. Das ging hier nicht, hier musste ich wissen, wo wir hinwollen, um sie nicht noch mehr zu verwirren; die beiden waren von den Menschenmengen und ihrer Geschwindigkeit etwas eingeschüchtert und überanstrengt. Mir fiel auf, wie voll die Stadt ist und wie wenig Zeit sich die Reisenden geben, um von A nach B zu kommen. Bleibt man stehen, um die Schilder zu lesen, steht man sofort 20 Leuten im Weg, weil die Bahnsteige manchmal recht schmal sind. Darüber, dass Touristen immer im Weg stehen, rollt man ja gerne die Augen, aber dass auch ältere Menschen manchmal schlicht mehr Zeit brauchen, um sich zu orientieren, wurde mir sehr deutlich vor Augen geführt. Lernerfolg für mich: mehr Geduld mit meinen Mitmenschen haben, vielleicht auch mal proaktiv Hilfe anbieten, wenn jemand offensichtlich lange auf Schilder guckt, anstatt zu denken, der oder die wird den Weg schon finden, sonst kann er oder sie ja fragen. Vielleicht mal nicht darauf warten, dass jemand fragt.
Die eben schon angesprochene Eile macht sich auch beim Fahren in Öffis bemerkbar. Mir ist bewusst, dass die Fahrpläne eng getaktet sind, aber gerade bei den Bussen würde ich mich schon freuen, wenn sie erst losführen, wenn alle Passagiere sitzen – gerade ältere Menschen. Einmal fiel mir mein Vater entgegen, als der Fahrer zügig loslegte; seitdem stand ich immer hinter ihm, sobald er einstieg und sich einen Platz suchte, damit ich ihn notfalls stützen könnte. Ich bat die beiden auch immer, sich zu setzen, weil ich erstmals bewusst merkte, wie zackig manche Fahrer und Fahrerinnen ihr Gefährt bewegen. Ich fahre auch lieber Tram, weil die meiner Meinung nach am ruhigsten fährt, aber wie wenig ruckartige Bewegung schon reicht, um nicht mehr ganz standfeste Menschen ins Stolpern zu bringen, wurde mir erst in den letzten Tagen klar. Auch in der U-Bahn, die gerne mal schärfer bremst.
Dann fielen mir noch Kleinigkeiten auf, die nichts mit dem Verkehr zu tun hatten – zum Beispiel die vielen englischsprachigen Schilder. (Hier bitte selbständig einen Rant auf die ganzen gehässigen Jens-Spahn-Tweets einfügen, auf den ich schon damals keine Lust hatte. Das mag mich als Spießerin ausweisen, aber ich halte es für eine Grundanforderung, in einem Serviceberuf die Sprache zu sprechen, in der der Service angeboten wird. Ansonsten finde ich Spahn meist doof, aber an dem Punkt war ich ausnahmsweise mal seiner Meinung.) Dass in der Werbung viele Anglizismen rumlaufen, geht mir ja selbst als Werberin auf den Keks. Aber wie unfassbar kompliziert Starbucks ist, fiel mir erst auf, als meine Eltern da am Bahnhof, bevor ihr Zug fuhr, noch einen Kaffee trinken wollten. Ausgerechnet bei Starbucks? Ja, weil das außer Burger King der einzige Laden war, in dem man nicht stehen oder auf Barhocker klettern musste, was für ältere Menschen manchmal nicht so töfte ist. Also Starbucks.
Ich setzte meinen Papa samt Gepäck in eine Sitzecke und bot an, für alle Kaffee und Kuchen zu organisieren, aber meine Mama wollte das Backwerk selbst sehen. Ich versuchte, Raspberry White Chocolate Cheesecake und Carrot Cake zu erklären („Mohrrübenkuchen? Haha!“) und ließ das bei der Kaffeebestellung gleich sein. Papa wollte „einfach einen Kaffee“ und ich stellte erstaunt fest, dass Starbucks schlichten Filterkaffee anbietet. Der kam dann aber auch in der kleinsten Größe gleich gefühlt in 0,3 Liter. War es vermutlich nicht, sah aber so aus im Vergleich zu den kleinen Flat-White-Becherchen, die ich für Mama und mich orderte, weil es mich überforderte, die ganzen anderen Dinge zu übesetzen. Ich weiß, es ist total Zweitausender Jahre, sich über die irren Auswahlmöglichkeiten bei Starbucks lustig zu machen, aber gestern bemerkte ich erstmals, dass man davon wirklich überfordert sein kann. Auch von der Geschwindigkeit, mit der die Baristas was von dir wollen. Eigentlich schätze ich das als introvertierter Mensch, der wenig Wert auf zwischenmenschlichen Firlefanz legt, sehr: kein Smalltalk, keine Beratung, man guckt selbständig, was man will, sucht sich was aus, bestellt, wartet kurz und geht. Dass aber genau das für ältere Menschen eine große Herausforderung ist, die schon beim ersten Teil des Vorgangs – „man sucht sich einfach was aus“ – beginnt, war mir nicht so klar.
Das soll jetzt kein kulturpessimistischer Zurück-zur-Natur-Eintrag werden, ganz im Gegenteil. Ich mag die Großstadt ja, ich will nie wieder auf dem Land wohnen, auch wenn ich die stillere Geräuschkulisse dort inzwischen zu schätzen weiß. Ich mag die Öffis, ich mag die Geschwindigkeit und die ganzen Möglichkeiten, die mir die Stadt bietet; dafür ertrage ich halt die vielen Menschen und tanke allein in meiner kleinen, ruhigen Wohnung wieder Kraft für das Dadraußen. Aber ich beginne darüber nachzudenken, wie ich mich in einigen Jahren in der Stadt zurechtfinde. Was kann ich dann vielleicht körperlich nicht mehr machen, was kann ich geistig nicht mehr bewerkstelligen? Um wieviel Hilfe werde ich bitten müssen und wie unterstützt mich dann die Stadt und ihr System durch Schilder und Verkehrsmittel? Ich glaube, ich werde besser zurechtkommen als meine Eltern, einfach weil ich seit Jahrzehnten in der Stadt lebe. Aber die letzten Tage haben meinen Blick etwas geschärft für die Herausforderungen, auf die andere Menschen reagieren müssen, die die Stadt auch aus Altersgründen anders wahrnehmen als ich.