November-Journal, 10.11.2012

Das mit dem Tweets-Einbinden wie gestern ist super. Ich muss gar nichts mehr bloggen, ich zitiere mich einfach selbst.

Der Tag begann in St. Joseph, das ich peinlicherweise als „Josephskirche“ auf Foursquare angelegt habe. Ich gehe gerne in Kirchen, ganz egal ob es mir gut oder schlecht geht, ich mag die Ruhe und die Zeit, in der ich mich kurz besinnen kann. Die Kirche gestern bestand quasi nur aus Ruhe, denn ich war ganz alleine und konnte so alle Bilder und Skulpturen und den Altar angucken und eine Kerze für 80 Cent (süß) anzünden. Aber das Gefühl der Besinnung stellte sich nicht sofort ein wie sonst, sobald ich eine Kirche betrete. Stattdessen:

„Das 1. Mal, das ich in eine Kirche komme und denke, einschiffiger Longitudinalbau, Tonnengewölbe, Pfeilerarkaden, Apsis.“

Ich hatte es nicht einmal darauf angelegt, zu gucken, was in den vier Wochen Uni schon hängengeblieben ist; das ploppte einfach so auf, als ich meinen Blick schweifen ließ. Like!

Danach schlenderte ich zur Bibliothek der Kunstgeschichte, denn in drei Wochen steht mein erstes Referat an OMG! und zwar zum Thema Hans Memling, genauer gesagt, lese ich gerade alles zu seinem Andachts-Diptychon des Maarten van Nieuwenhove. Sie können sich das Bild und ein paar lausige Stichworte dazu im Internet angucken.

Meine Pfandmünze für die Bibliotheksschließfächer ist übrigens das 2-Euro-Stück mit dem Hamburger Michel drauf.

Ich versank in meinen Bücherstapel, blätterte hierhin und dorthin, tippte eifrig Stichworte ins MacBook und vertiefte mich, vom Bild ausgehend, in Andachts-Diptychen anderer Maler, in Ehepaarporträts, in die Funktion von Diptypchen überhaupt und fand alles ganz großartig. Je länger ich mir Bilder von Memling anschaute, desto mehr wollte ich in die Alte Pinakothek, in der mindestens ein Memling hängt und die netterweise direkt um die Ecke ist, aber die Öffnungszeiten kollidierten etwas mit meinem Getippe. Denn wie ich in der Werbung gelernt habe: Never leave a hot keyboard. Wenn du im Fluss bist, geh nicht aus ihm raus. Aber trotzdem hat mir die Pinakothek den Tag versüßt mit diesem Satz auf ihrer Homepage:

„Freien Eintritt haben Studenten der Kunst, Kunstgeschichte, Kunstwissenschaften und Kunstpädagogik.“ #Pinakothek, my love“

Abends wurde ich turnusmäßig vom temporären Mitbewohner bekocht (der Mann macht einen Killersalat aus Avocados, Tomaten, roten Zwiebeln, Thunfisch und – Zitronen), und dann versackten wir vor Highlander. Den kann man wirklich immer noch gucken. It’s a kind of magic.

November-Journal, 7. bis 9.11.2012

Dienstag

Porträtkurs. Clevere Idee von Menschen, sich dem christlichen Bilderverbot zu widersetzen („Du sollst dir kein Bildnis machen yada-yada-yada“, weswegen Porträts seit der Christianisierung ein totales No-go in Mitteleuropa sind): Man stiftet der Kirche einen Batzen Geld oder ein Landgut oder gleich ne Kirche und kriegt dafür zunächst eine Urkunde. Dann eine Inschrift, vielleicht am Altar. Dann ein winziges Bildnis, auch am Altar. Und irgendwann sind wir beim sogenannten Stifterbild, in dem der Stifter sich mit kirchlichen Würdenträgern oder sogar Herrn Jesus persönlich im Bild befindet.

Wir hörten von Kaiser Justitian und seiner Gattin Theodora, die Mitte des 6. Jahrhunderts vermutlich als erste in einem Stifterbild erscheinen, und von Papst Pascalis, der sich mal eben in der Apsis von Santa Prassede neben Jesus und ein paar Heilige gestellt hat. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht rumzuquietschen, denn diese Kirche hatten wir auf unserer Romreise besichtigt (18. Mai), und der Papst hat genau diesen lustigen blauen eckigen Heiligenschein, der mir damals schon aufgefallen ist (nicht an ihm). Wie toll. Dann kamen noch andere tolle Bilder und dann ein ganz tolles – bzw. ein tolles Kunstwerk, nämlich der Genter Altar von Jan van Eyck.

Der wurde von Jodocus Vijd und seiner Gattin gestiftet bzw. die beiden sind unter anderem zu sehen, und zwar knien sie neben zwei Heiligen. Das Besondere: Die Heiligen sind als Skulptur dargestellt, was van Eycks sehr früher Beitrag zum Paragone ist, dem Wettstreit, ob Bildhauerei oder Malerei nun die tollere Kunst sei. Wenn ich mich richtig erinnere, sind beide gleich toll, aber jetzt beim Aufschreiben bin ich mir nicht mehr sicher. Egal. Toller Altar.

Beim Stichwort „Paragone“ höre ich sofort die Stimme unsere Dozentin, die glaubt, wir seien alle im 8. Semester, denn sie sagt ständig „Kennen Sie ja, wissen Sie ja alles“, und wir gucken verstohlen um ums rum und schütteln vorsichtig die Köpfchen.

Danach zum Telekom-Laden, um Internet zu bestellen. Danach zu Ikea, um Möbel zu bestellen. Danach zum temporären Mitbwohner, der mit einem Festessen aufwartete. Wobei ich bei Muscheln immer so nach zehn Stück das Gefühl habe, reicht jetzt mit meinen Verwandten (Sternzeichen Fisch), da setzt dann immer ein leichter Widerwille gegen das Zeug ein. But look how pretty.

Mittwoch

Erste Vorlesung Musikgeschichte, mein Lieblingskurs. Ein begeisterter Professor, der zwischendurch singt und Noten an die Wand wirft und Tonbeispiele raushaut – oder schwungvoll die Abdeckung vom Flügel auffächert als wär’s ein Musketier-Mantel, sich ans Instrument setzt und mal eben vom Blatt ein bisschen Bach spielt. Nein, der andere Bach.

In Kunstgeschichte lernte ich, die riesengroße Monsterabtei von Cluny zu vermissen, die ich nie gesehen habe und auch nie sehen werde, weil nur noch klägliche Reste davon rumstehen. Die zur Vorlesung gehörige Übung musste ich leider ausfallen lassen, weil ich sonst nicht rechtzeitig ins Stadion gekommen wäre.

Danach in charmanter Viererrunde am Küchentisch bei den traditionellen White Russians versackt.

Donnerstag

Nie wieder White Russians. Sehr müde gewesen, natürlich brav zur Uni gegangen, denn die Messe der Renaissance wartete. Und mit ihr Introitus, Kyrie, Gloria, Oratio, Graduale, Alleluja, Credo, Sanctus, Agnus Dei und Ite Missa Est. Und noch ein paar weitere lustige Vokabeln, die mich kurz seufzen ließen, dass ich nicht katholisch bin, denn dann wäre ich mit dem Kram vielleicht halbwegs groß geworden. Nach ein paar Klangproben ging ich beseelt zu den Skulpturen der Romanik, dem einzigen Kurs, mit dem ich etwas auf Kriegsfuß stehe, denn der Dozent hat ein recht einschläferndes Timbre. Der Raum war abgedunkelt. Es war warm. Ich war müde. Und für eine Sekunde gab ich mich Morpheus’ Armen hin und merkte, dass ich im Sitz runterrutsche. Danach waren meine Augen Clockwork-Orange-weit offen, ich änderte alle zehn Sekunden meine Position, um bloß nicht noch mal einzunicken und freute mich sehr auf die frische Luft im Innenhof vor dem nächsten Kurs.

Der war dann Beethovens Klaviertrios, die wir in diesem Semester analysieren. Zu gestern sollten wir uns das Op. 1 in Es-Dur zu Gemüte führen. Ich habe Stunden am Küchentisch inmitten von vielen Fachbüchern, Ausdrucken und Google verbracht, um mich 200 Takten Musik zu widmen, denn blöderweise ist dieser Kurs ein Vertiefungskurs. Das hatte ich in der Hektik OMG BEETHOVEN! total übersehen, und jetzt sitze ich in einer kleinen Runde von Fünfsemestern und stelle Fragen wie: „Was ist denn eigentlich ein Klaviertrio?“ In den letzten zwei Wochen habe ich mir viel erkämpft und daher jetzt das Gefühl, 200 Vokabeln auswendig zu wissen – aber keinen einzigen Satz sagen zu können.

Umso spannender war die gestrige Sitzung. Natürlich wurde ich gefragt, was ich denn so zu bieten hätte, denn ich bin mit meinen minderbemittelten Ausführungen immer ein guter Ausgangspunkt. Diesmal konnte ich immerhin triumphierend zeigen, wo das erste Thema anfängt, wo das zweite und dass das zweite total schnafte auf der Dominante beginnt, wie es sich für einen anständigen Sonatensatz gehört (die Trios von Beethoven sind im Sonatensatz geschrieben). Mein Lieblingswort von gestern war „Mannheimer Rakete“, was ich dringend im nächsten Small-Talk unterbringen will. Und ich habe mich noch mehr in den Dozenten verknallt:

November-Journal, 6.11.2012

Am Terminal 2, Hamburg:

Ja, Mensch, Typ im Apricot-Hemd, da hast du dich so schön professionell vorgedrängelt, um quick zu boarden, und jetzt stehst du doch mit uns allen im Finger und musst warten. Wer hätte es gedacht.

In der S8 Richtung München:

Ja, Mensch, Typ im Anzug und mit keckem Mützchen auf, da hast du dich so schön professionell auf drei Sitze verteilt UND die Beine übereinandergeschlagen und so auch noch den niedlichen Versuch gestartet, einen vierten Platz zu blockieren, und jetzt setz ich mich trotzdem da hin. Wer hätte es gedacht.

(Pappnasen sind pappnasig.)

Wohnungsübergabe. Zum gefühlt hundertsten Mal in München gedacht, hossa, jetzt bist du echt in München. Auf 44 Quadratmetern in der Maxvorstadt, um genau zu sein. Ein Zimmer – das wird das Schlafzimmer, logisch –, fast genauso große Wohnküche – da kommt meine total innovative Küchentisch/Arbeitstisch-Kombi hin plus der Drucker, den ich nicht im Schlafzimmer haben will –, Bad mit Badewanne und: eine Abstellkammer bzw. ein begehbarer Kleiderschrank. Schon mit Böden und Kleiderstange drin. Der temporäre Mitbewohner hat drei Wochen lang Witze darüber gemacht, dass ich Wohnungen ohne Abstellkammer oder wenigstens Stauraum sofort verworfen habe, aber für mich ist das wirklich ein K.O.-Kriterium, wenn ich in einer 1-Zimmer-Wohnung (nach der hatte ich ja gesucht) ständig meinen Staubsauger sehen muss, weil er nirgends zu verstecken ist. Jetzt hat er ein prima Plätzchen. Wobei: Ich muss erstmal einen Staubsauger kaufen, den ich verstecken kann.

Das „Hossa, jetzt bist du echt in München“-Gefühl wurde abends noch schlimmer, als der temporäre Mitbewohner sein Auto umbaute, um meinem ganzen Krempel nach dem ersten Ikea-Einkauf Platz zu machen. Denn anstatt unsere Hamburger Wohnung halb auszuräumen und hier wieder aufzubauen, kaufe ich lieber alles neu. Kommt preislich ungefähr auf dasselbe raus und ist weniger Nervkram. (Bis jetzt. Mal sehen, wie der Ikea-Einkaufs-, Liefer- und Aufbauservice funktioniert.)

Unsere Hamburger Wohnung ist neben Holztönen creme, rot und violett, die in München wird grau und grün. Damit ich weiß, wo das richtige Zuhause ist und wo das fast richtige.

Zwei schöne Mails an einem Tag. Ich zitiere die erste:

„Ich finde es faszinierend, daß du wieder zur Uni gehst. Ich glaube ich könnte das nicht und möchte dir gerne meine Bewunderung aussprechen! (…) Entfernungsbeziehung ist scheiße, auch das kann ich dir bestätigen. Es zeigt mir aber, wie sehr du dieses Studium brauchst.“

Dass mit dem „brauchen“ hatte ich so noch gar nicht gesehen, aber: Ja. Wenn ich das alles in Kauf nehme und dabei auch noch meine Ersparnisse auf den Kopf haue, dann ist das anscheinend mehr als nur etwas, was glücklich macht. Vielleicht ist es wirklich etwas, was sein muss.

Und die zweite:

„Übrigens wollte ich Ihnen schon lange mal sagen, dass Den-Blog-von-der-ollen-Gröner lesen, manchmal, also wenn man an so ins stille Zimmerchen kommt und nur sein Wurstbrot als Gesprächspartner zur Verfügung steht, schon sowas Vertrautes hat. Bisschen wie Heimkommen.“

Dankeschön.

November-Journal, 5.11.2012

So ziemlich den ganzen Tag brav damit zugebracht, die letzten beiden Uniwochen von der Kladde in anständige Word-Dokumente zu übertragen. Das wollte ich eigentlich jedes Wochenende machen, aber Donnerstag vor einer Woche rief mich eine nette Agentur aus Berlin an, ob ich total spontan ab Freitag bis eventuell Dienstag arbeiten könnte? Dafür müsste ich auch nicht nach Berlin kommen, von zuhause ginge auch. Ich überlegte kurz, wo gerade zuhause ist, überschlug meinen Stundenplan und wir klamüserten ein paar Arbeitstage aus, mit denen wir beide zufrieden waren. Im Endeffekt waren es drei statt fünf, was einerseits okay ist, weil der Widerwille gegen Autoheadlines immer stärker wird, je länger ich mich mit Beethoven und Botticelli beschäftige; andererseits würden fünf Arbeitstage sehr entspannt zwei Wohnungsmieten und ein paar Flüge bezahlen. (Okay, drei tun’s auch, aber ab und zu esse ich auch ganz gern was oder kaufe Bücher total wichtiges Unizeug.)

Daher dachte ich das komplette letzte Wochenende über Volkswagen nach und wurde dann Montag etwas unplanmäßig krank, weswegen das Übertragen noch ein paar Tage warten musste. Jetzt kann es nicht mehr warten, denn natürlich werde ich als unwissendes Erstsemester minütlich hibbeliger, was bloß in den Klausuren am Semesterende auf mich wartet und was ich dafür noch alles lernen muss. Ich hoffe, ich bin im zweiten Semester total abgeklärt. Andererseits mag ich meine großäugige Ahnungslosigkeit derzeit ganz gerne.

Fußball geguckt bzw. dabei eingeschlafen (alles wie immer). Koffer gepackt. Am Kerl festgehalten. Schon nach drei Wochen darüber genölt, dauernd von zuhause weg zu sein. Andererseits bin ich dafür bei Beethoven und Botticelli. Noch 13 Wochenenden bis zu den Semesterferien und davon sind zwei Weihnachten. Ein Klacks. (Mein neues Mantra: ein Klacks.)

November-Journal, 4.11.2012

Morgens hin- und hergerissen gewesen: Der geplante Fußballbesucher sagte nicht ganz unerwartet ab, ich saß mit zwei HSV-FCB-Karten rum und konnte mich nicht entscheiden. Alleine ins Stadion? Mit einem/r Unbekannten/r neben mir? Beide Karten raushauen? Einfach liegenlassen und spontan hinfahren – oder eben spontan verfallen lassen? Ein Elend. Schließlich siegte das innere Plüschtier, das nach zehn Tagen Trennung den Kerl gar nicht mehr loslassen wollte: Sofa und Kuscheln statt Stadion und Kreischen. Es dauerte dann auch nur fünf Minuten, bis die Karten eine neue Heimat gefunden hatten, was mich für die Dame sehr freut, die uns sicherlich würdig im Fanblock vertreten hat.

Steuer für Oktober gemacht. Meine Steuerberaterin wird mich für die ganzen winzigen Münchenfahrscheine so hassen. (Memo to me: Monatsticket kaufen.)

Den Anmeldeantrag für München ausgefüllt, in einen Briefumschlag gepackt und zusammen mit dem Steuerkram eingeworfen.

Danach Milchkaffee und Kuchen mit Frau @hammwanich, die mir von ihrer Hochzeitsreise berichtete, während ich von meinen Abenteuern in der Kunst und Musik erzählte. Unsere leuchtenden Äuglein dürften einander Konkurrenz gemacht haben.

Nicht dass ich mich über die Unlustigkeit meines temporären Mitbewohners in München beschweren möchte (ganz im Gegenteil), aber so wunderbare Sätze wie „Und ich sag noch: keine Babys in Garagen rumliegen lassen“ bringt eben nur der Kerl.

Jetzt weiß ich wieder, was an Wochenendbeziehungen nervt: alles.

November-Journal, 3.11.2012

Ich bin gerade drei Wochen in München und das nicht mal richtig, und ich renne schon wie eine Ehemalige durch Hamburg. „Ach guck, die Baustelle ist weitergewandert. Und der Buchladen hat umdekoriert.“

Nachmittags mit Holgi ein zweites Interview gemacht zum Thema Bloggen. Wobei wir eigentlich erstmal viel gelacht und viele Donuts gegessen haben, aber dann haben wir uns auch übers Bloggen unterhalten. Das ist für mich gerade recht weit weg – zum einen, weil es so selbstverständlich zu meinem Tag gehört, dass ich nicht mehr darüber nachdenke, zum anderen, weil ich gerade über so viele andere Dinge nachdenke.

Es sind Kleinigkeiten, die mir auffallen und die Veränderungen zeigen. Das erste Mal, als der lange Uni-Mittwoch vor mir lag, überlegte ich mir, was alles in meinen Rucksack müsste, damit ich weder verhungere oder vor Durst umkomme. In der Agentur steht meine Müslidose an meinem Platz, im Agenturkühlschrank wartet die Milch, die Kaffeemaschine und ein Berg Wasserkisten sind den ganzen Tag für mich da, und meistens steht auch noch ein Korb Obst rum. Weitere Komfortfunktionen meines Arbeitsplatzes: In der Schreibtischschublade liegen meine Atemfrischkaugummis und meine Handcreme, bergeweise Stifte und Post-Its und mein geliebtes Moleskine. Das heißt, ich muss zuhause höchstens einen Apfel neben mein MacBook in den Rucksack packen – falls der Agenturobstkorb doch leer sein sollte – und der Tag kann losgehen.

In meinem Rucksack, der mich durch neun Stunden Uni begleitet, liegt ebenfalls ein Moleskine. Bei dem Tempo, in dem ich es vollschreibe, werde ich allerdings demnächst auf billige Imitate umsteigen müssen. (Nein, DIN-A4-Blöcke, womöglich noch kariert, sind keine Alternative. Ich bin zu alt für neue Schreibformate, ich mag DIN-A5 ohne jegliche Muster.) Daneben liegt eine Brotdose, in der sich ein geviertelter Apfel und ein paar Weintrauben befinden. Dazu ein Joghurt, um dessen Esswerkzeug sich gerade meine iPhone-Kopfhörer wickeln. Oder um die Dose mit den Kaugummis. Oder um die kleine Tube Handcreme. Ebenfalls im Rucksack: eine Flasche Wasser. Immerhin nur ein halber Liter, denn das Münchener Wasser ist so schmackhaft, dass ich es am Wasserhahn auf dem Uniklo nachfüllen kann.

Welches Utensil ich nach meinem Abi 1989 völlig vergessen hatte: Federmäppchen. Alleine das Wort! In den ersten Tagen habe ich, wie immer, wenn ich unterwegs bin und weiß, dass ich irgendwas was notieren muss, einen Kugelschreiber im Rucksack gehabt und fertig. Inzwischen habe ich mein altes Mäppchen wiedergefunden und trage nun zwei Kugelschreiber, einen Bleistift, einen Textmarker und einen Anspitzer mit mir rum. In meiner Brieftasche befinden sich neben meinem üblichen Kartenkram ein Bibliotheksausweis, ein Studentenausweis und eine Kopierkarte, auf der mal zehn Euro Guthaben waren, aber das verringert sich gefühlt beim Atmen.

Das Dusselige am Allesmitschleppen: Ich schleppe es abends meist wieder nach Hause, denn die 30 Minuten zwischen den vier Vorlesungen reichen kaum, um von einem Hörsaal zum nächsten zu kommen (große Uni ist groß und verteilt sich zudem auf mehrere Gebäude, von denen „meine“ Minimum sechs U-Bahn-Stationen voneinander entfernt sind) und sich dort einen Platz zu erkämpfen, der nicht am Rand oder in der letzten Reihe ist. Ich weigere mich, im Hörsaal zu essen – der ist zum Lernen da, findet Oma Gröner –, und deswegen muss ich das erledigen, bevor ich reingehe, aber dann sind eben schon alle Plätze weg und deswegen sitze ich hungrig im Hörsaal, kann dafür aber super sehen und hören (vor allem meinen knurrenden Magen). Ich spüre da noch Optimierungsbedarf, aber nur, wenn der Magen knurrt, denn sonst ist mir das alles egal, das Mitschleppen, das Hungrigsein, weil ich super sehe und super höre und alle zehn Minuten ein innerliches „Ach was?!“ à la Loriot von mir gebe, weil alles so spannend ist.

Holgi hat mir gestanden, dass er geistig auszoomt, sobald ich was Kulturelles schreibe. Ich frag ihn mal, ob er bis hierhin durchgehalten hat. PROFESSOR! PROFESSOR HASTIG!

November-Journal, 2.11.2012

Gestern war in Bayern Feiertag. Das merkte ich allerdings erst, als meine Dozent_innen letzte Woche alle sagten, wir sähen uns dann in zwei Wochen wieder. Der Rückflug nach Hamburg war natürlich längst gebucht, weswegen ich – totale Strafe! – NOCH LÄNGER in München bleiben musste. Da jammere ich jahrelang rum, dass die ollen Bayern so viele Feiertage haben, und jetzt hab ich sie selber und krieg sie nicht mal mit.

Leere Stadt, total ausgebuchter Flieger.

Seit ich vor zehn Tagen nach München geflogen bin, habe ich mich auf den Moment des Nachhausekommens gefreut, genauer gesagt, auf den Moment, in dem die Schiebetüren des Hamburger Flughafens sich für mich öffnen und ich den Kerl wiedersehe und, noch besser, ihn wieder hemmungslos angrabschen kann. Normalerweise checkt der Herr fast zeitgleich mit mir auf Foursquare ein, so dass ich ihn „sehe“, sobald ich im Flugzeug mein iPhone wieder aus dem Flugmodus hole. Dieses Mal sah ich ihn nicht und war schon mitten zwischen quengelig und traurig. Bis ich ihn dann sah, als sich die Schiebetüren öffneten und er sein Kerlgrinsen anmachte und ich anfing rumzuschniefen und er meinte, er habe extra geheim eingecheckt: Das gibt Punkte UND eine Überraschung. (Mistkerl, meiner.)

Eine lobenswerte Dozentin mailt uns immer ihre Unterlagen als pdf zu, damit wir nicht alle einzeln zum Handapparat pilgern und kopieren müssen. Nach drei Uni-Wochen haben sich ungefähr 100 PowerPoint-Folien angesammelt und das wollte ich meinem temporären Gastgeber und seinem Drucker nicht zumuten. Ich hatte mir fest vorgenommen, das sofort brav zuhause zu erledigen, zusammen mit der Steuer für Oktober, dem ersten Googeln, wie ich mein Internet in die Maxvorstadt kriege, wo ich meine Vitra-Stühle kaufe, wie der Einkaufs- und Aufbauservice von Ikea funktioniert, ach ja, und ein Back-up machen muss ich ja auch noch. Das Back-up habe ich geschafft, danach bin ich auf dem Sofa vom Kerl eingeschlafen, während er gearbeitet hat. Home sweet home.

Bücher Oktober 2012

Ich hatte vergessen, wie viel man für die Uni lesen muss, daher ist dieser Monat etwas dünn bestückt. Im Stapel fehlen allerdings drei Bücher über die Formenlehre bzw. Musikanalyse – die liegen nämlich da, wo sie hingehören: in München. Ach ja, und rezensionsfaul bin ich auch.

Rainald Goetz – Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft.

Fand ich sehr gut, die Mehrheit der Rezensent_innen im Perlentaucher eher nicht.

Dieter Forte – Auf der anderen Seite der Welt

Fand ich gut, die Mehrheit der Rezensent_innen im Perlentaucher auch.

Herman Melville (Matthias Jendis, Übers.) – Moby-Dick

Fand ich sehr gut, Herr Buddenbohm auch.

Martina Kink – Bad Hair Years

Fand ich gut, Frau Isabo auch.

November-Journal, 1.11.2012

Mittwochs ist mein langer Uni-Tag mit vier Veranstaltungen – und aus der ersten musste ich auch noch früher raus, um einer Einladung einer Hausverwaltung zu folgen. Ich hatte mir vor einigen Tagen eine Wohnung in Schwabing angeschaut, die eine von diesen klassischen Reinkommen-und-einziehen-wollen-Wohnungen war. Genau in diese bin ich bis jetzt immer eingezogen (einmal Bremen, einmal Hannover und dreimal Hamburg), und deswegen flehte ich die Immogötter an, mir auch diesmal gnädig zu sein.

Aber erstmal lauschte ich wie immer mit seligem Lächeln meinem Professor in Musikwissenschaft, der mir die Musikgeschichte von 1700 bis 1830 näherbringen will. Gestern ging es um die Nachahmungsästhetik, die man circa 1700 bis 1815 einordnet. Die Vokalmusik stand deutlich über der Instrumentalmusik, und die Aufgabe beider war es, die Natur nachzuahmen. Entweder a) die menschlichen Affekte (Liebe, Hass, Rache …) oder b) die Laute der beseelten und unbeseelten Natur (Tonmalerei) oder c) die Sprachmelodie oder den Sprachgestus.

Vokalmusik stand dabei weit über der Instrumentalmusik, die als schwerer verständlich galt. Rousseau verstieg sich zur Aussage, jegliche Instrumentalmusik solle doch bitteschön eine Überschrift haben „wie undeutliche Gemälde“, damit man wisse, was sie einem sagen wolle. Ein Satz von Fontenelle: „Sonate, que me veux-tu? – Sonate, was soll ich mit dir?“ Die Vokalmusik wurde auch deshalb geschätzt, weil sie auch Unsichtbares darstellen kann – im Gegensatz zu Bildern, die genau das nicht hinkriegen. Und so ein schönes Singspiel sagt einem ja netterweise per Text, worum es geht. Das war dann auch die Funktion: Der Text vermittelt den Inhalt, die Musik sorgt für die passende Regung im Zuhörer. Johann Adam Hiller formulierte es so: Worte liefern die Zeichnung, Musik die Farbe.

Für den französischen Rationalismus in Form des Autors Charles Batteux war Musik eine „Spiegelung der Realität“. Er unterteilte die Künste in „mechanische Künste“ (damit kann man seinen Lebensunterhalt verdienen), „schöne Künste“ (zweckfrei, setzen Muße und Überfluss voraus – vulgo: Malerei, Musik, Poesie) und „gemischte Künste“ (wie der Name schon sagt). Das Wichtigste an der rationalen Herangehensweise an Musik: Der Künstler soll nicht seine eigenen Gefühle vermitteln, sondern den Anschein dieser Gefühle erwecken. Dozent: „Viele denken, der Mozart wär so traurig gewesen, als er seine Moll-Sonaten schrieb, dabei hat er bloß verdammt gute Moll-Sonaten geschrieben. Und fünf Minuten später die Jupiter-Sinfonie. Der war nicht traurig, der war ein guter Komponist.“

Ich hätte noch stundenlang zuhören können, aber ich musste ja einen guten Eindruck auf Hausverwaltungen machen, weswegen ich in die U-Bahn vor der Uni stieg, am Sendlinger Tor in die Tram kletterte, die Reichenbachbrücke überquerte und drei Stationen weiter einen guten Eindruck auf eine Hausverwaltung machte. Glaube ich jedenfalls, denn nach nicht einmal zehn Minuten entspannter Konversation frug man mich, ob ich den Mietvertrag unterschreiben wolle, was ich quietschend bejahte. Den Immogöttern sei gedankt, und wenn ich wüsste, wo ihr Tempel steht, würde ich ihnen ein Schwein opfern.

Ab heute residiere ich in Schwabing – das behauptete jedenfalls die Anzeige, aber laut Münchener Timeline ist es eher Maxvorstadt. Mir egal, es sind zu Fuß fünf Minuten zum Kunsthistorischen Seminar, und das ist alles, was zählt.

Zurück an der Uni ging es in die Kunstgeschichte von 500 bis 1500. Die letzten Mal beschäftigten wir uns mit karolingischer und ottonischer Architektur, jetzt kam die Romanik dran und damit der Dom von Speyer. Den teilt man in Speyer I und Speyer II ein; Speyer II wurde von 1082 bis 1108 erbaut, und man geht davon aus, dass Heinrich IV mit diesem Protzbau dem Papst einen reinwürgen wollte, der ihn gerade in Canossa empfangen hatte. Danach widmeten wir uns der Hirsauer Bauschule, die Anleihen an der Antike nahm, zum Beispiel bei den Säulenkapitellen, denen sie lustigerweise kleine Ecknasen gaben, die „Hirsauer Nasen“ heißen. Oder wie der Dozent meinte: „Wenn Sie eine von diesen Nasen sehen, riecht das sehr nach Hirsau.“ Gnihihi. (Auf dem Bild da, die kleine Einkerbung über dem Doppelschild, das ist die Nase.)

Die letzten drei Stunden mittwochs gehören der Übung zur Vorlesung, wo wir noch mal Säulenordungen auswendig lernen und Kirchen an ihren Grundrissen erkennen und nebenbei erfahren, wie man zu schöner Literatur kommt, um am Semesterende eine Hausarbeit schreiben zu können. Ich sitze die ganze Zeit da und denke, wir hatten damals ja nix, wenn ich mir anschaue, auf wievielen Seiten man inzwischen vom Sofa aus Bücher suchen kann. Good times.

Überhaupt sitze ich die ganze Zeit da und vergleiche. Der Hauptunterschied haut mich jedesmal um: Ich MUSS nicht hier sein. Ich muss hier keinen Grundstein für eine Karriere legen, ich muss nicht in allen Klausuren Einsen schreiben (auch wenn das natürlich der Plan ist), ich muss hier auch nicht den Mann fürs Leben kennenlernen oder Freundschaften knüpfen oder Netzwerke gründen. Ich sitze hier, weil ich es kann und weil ich es will. Und deswegen grinse ich die ganze Zeit so debil-glücklich vor mich hin, weil ich weiß, weil ich in jeder Sekunde weiß, was für ein Luxus das da gerade ist. Die Chance, sich mit etwas so Wunderschönem wie Kunst oder Musik zu beschäftigen, ohne dass ein Zweck dahintersteckt außer: Es macht mich glücklich.

Und abends hat dann auch noch Bayern gewonnen, und ich hätte sogar eine Karte fürs Stadion gehabt, aber ich wollte nicht alleine unter 70.000 Leuten sitzen, sondern ich wollte mit einem Freund die Wohnung feiern und weiterhin debil-glücklich grinsen. Hab ich dann auch gemacht.