Tagebuch, Mittwoch, 25. April 2018 – MITTWOCH! Und Paletten

Mein Hamburg-Trip sollte eigentlich bereits am Montag mit der Rückfahrt zuende gehen, aber durch die kleine Überraschungsparty am Montagabend hatte ich den Zug für Dienstag umgegebucht. Mir war das auch durchaus klar, dass das Dienstag war, denn ich wimmerte innerlich ein bisschen rum, dass ich die schöne Fotografie-Vorlesung verpassen würde. Gestern sah ich dann die zweite Sitzung der Vorlesung über die Materialien der modernen Malerei, wusste also offensichtlich, dass es Mittwoch war – aber anscheinend nur bis zum Ende der Vorlesung. Danach dachte ich, es sei Dienstag und verpeilte alle Termine, die ich für Mittwoch gemacht hatte, was ein paar hektische Mails und ein zweimal begonnenes Telefonat zur Folge hatte. („Ach, das ist HEUTE?“ – „Soll ich in zehn Minuten nochmal anrufen?“ – „In fünf reicht auch.“ *wirbel, kurze Hektik*)

Ich kann die lustige Wundertütenvorlesung gar nicht würdig wiedergeben, weil es so viele interessante Einzelheiten waren; ich verweise einfach auf die lange Publikationsliste des Dozenten und werde mich im ZI wohl mal ein bisschen abseits meines Diss-Themas einlesen.

Ich fand aber schon den Anfang der Sitzung erhellend, in der es um Paletten ging. Der Dozent zitierte Frank Stella, der den Beginn der modernen Malerei – also die Befreiung der Farbe von der Gegenständlichkeit – damit verband, dass die Palette ihren Status als Werkzeug verlor und nicht die Leinwand, wie anderswo geschrieben wurde. Dann ging es um die manchmal fast intime Verbindung von Malern mit ihren Werkzeugen, die der von Musiker*innen ähnelte. Einen Buchtipp habe ich mir notiert: Karin Nohr – Der Musiker und sein Instrument, wobei der Dozent bemängelte, dass sich das Buch sehr mit zeitgenössischen Musiker*innen befasste und wenig historisiere; der Topos dieser Beziehung sei schon älter. In der Malerei gebe es dagegen kaum derartige Beschreibungen; meist werde die Malerei generell als Konkurrentin zu einer realen Frau gesehen, aber nicht die Werkzeuge. Wenn überhaupt, sei die Leinwand die Partnerin, mit der ein Schöpfungsakt vollzogen werde, wobei der Pinsel – auch aus dem Wortstamm heraus – gerne als Penis gedeutet wird. Dieses Exlibris für Manet von Félix Braquemond zeigt das sehr eindrücklich. (Ich schwankte hier wie immer zwischen Augenrollen und fasziniertem Zuhören.)

Dann ging es um die Palette an sich, die, wie mir neu war, nicht nur als Werkzeug zum Farbenmischen diente, sondern auch durchaus als Untergrund für Malerei. Ich lernte den Sammler Georges Beugniet kennen, dessen Palettensammlung leider Anfang des 20. Jahrhunderts in Einzelteilen versteigert wurde; ein Auktionskatalog zeigt immerhin noch einige Exemplare. Der Link führt zu einem Aufsatz des Dozenten, den wir gestern in Auszügen vorgetragen bekamen, bitte einfach bei Google weiterlesen. Echt jetzt! Interessant! Mit Bildern! Zum Beispiel von Paletten, die als Malgrund dienten. Auch hier wurden gerne unbekleidete junge Damen aufs Holz gepinselt und ich rollte wieder mit den Augen. Jungs! Gibt’s echt nichts Spannenderes? Ich kann euch ja verstehen, wir sind super, aber meine Güte! Das 19. Jahrhundert macht mich fertig mit seinen räkelnden, lasziv gestreckten Akten. Ich war irgendwann sehr dankbar für die Wald- und Landschaftsbilder, die wir auch zu sehen bekamen.

Ich fand die Gegenüberstellung von zwei Paletten und ihren Nutzern dann bildlich sehr schön. Wir sahen Selbstporträts von Cézanne und Van Gogh mit ihren Paletten, und auf der Folie befanden sich auch zwei Abbildungen ihrer Paletten, deren Farbigkeit sich in den Werken wiederfindet. Ich lernte außerdem James McNeill Whistler kennen, dessen Porträt seiner Mutter ich kannte, dessen Namen ich mir aber nie gemerkt hatte.

Außerdem mochte ich die vielen Bilder der Paletten von Delacroix, der angeblich teilweise monatelang an der richtigen Farbmischung für seine Werke tüftelte, bevor er den ersten Pinselstrich ausführte. Ich musste an heutige Pantonefächer denken und die Farbkarten, mit denen man sich im Baumarkt Wandfarben anmischen kann. Mir fielen auch auf einmal die vielen Paletten ein, die ich auf Bildern von Anselm Kiefer (zum Beispiel Palette, 1981) oder Markus Lüpertz (zum Beispiel Palette – dithyrambisch III, 1974) gesehen hatte. Bei Kiefer hatte ich die immer als vagen Hinweis auf Malerei verstanden, musste mich aber nie mit einem bestimmten Werk befassen. Für meine Masterarbeit schrieb ich immerhin über ein Bild von Lüpertz, in dem eine Palette zu sehen war, führte diese aber als Referenz an alte Stillleben an. Über die Palette als Werkzeug, als intimer Gegenstand, als Vorbereitung für ein Gemälde habe ich noch nie nachgedacht.

Auch so nebenbei gelernt: das französische Wort für Steckenpferd bzw. Hobby: violon d’Ingres. Ich weiß nicht mehr, wie der Dozent darauf kam, vermutlich waren wir wieder bei Linie versus Farbe bzw. Ingres versus Delacroix (ich schrieb darüber). Jedenfalls spielte Ingres gerne Violine und warum auch immer hat sich dieser Begriff im Französischen für Hobby durchgesetzt. Für mich hat das bekannte Bild von Man Ray mit diesem Titel jetzt noch mehr einen seltsamen Unterton. Hier konnte ich aber wieder eine schöne Querverbindung ziehen: Das Model, das im Text vom Getty Museum nur als „Kiki“ bezeichnet wird, war Kiki de Montparnasse, über die ich gerade bei Philipp Blom in seinen Zerrissenen Jahren gelesen hatte.