Fußball gucken

Der Kerl und ich sind seit über sechs Jahren zusammen. In dieser Zeit haben wir so manche Stunde gemeinsam vor dem Fernseher verbracht: vor VH-1, um über alte Videos zu lästern und uns gegenseitig zu erzählen, wo wir sie zum ersten Mal gesehen haben und wie jung und unschuldig wir damals waren. Vor Premiere, um Filme zu gucken, bei denen ich keine Lust hatte, die DVD auszuleihen. Und vor gefühlt dutzenden von Sendern, auf denen Fußball läuft, American Football, Baseball, Leichtathletik, Wintersport (alles außer Eiskunstlaufen), Rugby, Eishockey und was es sonst noch so alles gibt, bei dem man sich die Lunge aus dem Leib rennen kann. Aber eben hauptsächlich Fußball.

Unser erstes Date fand im Kino statt, unser zweites war dann schon Footballgucken beim Kerl auf dem Sofa. Ich kannte sein Blog, in dem recht häufig über Sport geschrieben wurde und wusste daher, auf was ich mich einließ. Dachte ich. Football hatte ich vor der Beziehung auch schon gesehen, allerdings nicht viel mehr als den Super Bowl, aber als Amerika-Fan kannte ich mich trotzdem so ein ganz winziges bisschen mit dem Sport aus und hatte ein Brett-Favre-Trikot im Schrank. (Okay, ich hab’s mir für das Date gekauft, schon gut. Aber geistig hatte ich das schon vorher im Schrank. Inzwischen trage ich Peyton Manning in blau.) Auch Fußball war nichts Neues für mich: Papa erzählt heute noch gerne die Geschichte, dass der erste Fernseher im Hause Gröner pünktlich für die WM 1974 angeschafft wurde, der erste in Farbe dann für die WM 78, und mein erstes Spiel im Stadion war mit Papa die Begegnung Irland-Sowjetunion bei der EM 88 in Hannover. Die Spiele der Nationalmannschaft wurden bei uns immer angeschaut, und ich kenne bis heute mehr Namen der Mannschaft der WM 1982 in Spanien (Naranjitoooo!) als die der WM-Mannschaft des Sommermärchens 2006.

Aber Fußballgucken mit dem Kerl war anders. Als Sesselathlet hatte er natürlich das Premiereabo mit allen Sportkanälen, und daher war Samstag heilige Bundesligazeit. Andere Pärchen sehen sich unter der Woche nicht so häufig, aber dafür am Wochenende – wir haben uns von Anfang an so gut wie jeden Abend unter der Woche gesehen, aber dafür war am Wochenende getrennt sein angesagt: Kerl guckte Fussi, ich Filme. Jeder in seiner Wohnung, und jeder war glücklich damit.

Bis wir zusammengezogen sind und ich auf einmal die Gelegenheit hatte, mich auch mal um 15.30 Uhr vor die sagenumwobene Konferenz zu setzen und den deutschen Vereinen bei der Arbeit zuzugucken. Anfangs bin ich regelmäßig dabei eingeschlafen – Fußball hat so eine angenehm-eintönige Geräuschkulisse, außer in Südafrika –, aber irgendwann bin ich wachgeblieben und durfte feststellen, dass Vereinsfußball eine ganz andere Kiste ist als Nationalmannschaftsfußball.

Bisher war ich naiv davon ausgegangen: In der Nationalmannschaft spielen die besten Kerle, also muss auch der Fußball der beste sein. Was natürlich Blödsinn ist, weil Vereinsfußballer den lieben langen Tag miteinander trainieren können, während die Nationalmannschaft sich weitaus seltener sieht, um Spielzüge einzustudieren. Und so habe ich gemerkt, wie spannend Vereinsfußball sein kann und um wieviel attraktiver er anzuschauen ist. Nach und nach bin ich dann auch bei den Europapokal- und Champions-League-Spielen hängengeblieben, auch wenn ich dort eher auf Schnuckel geachtet habe als auf gute Spiele. Aber seit der letzten Bundesligasaison hat sich auch das geändert. Denn da habe ich blöderweise gemerkt, dass ich ausgerechnet Bayern München sehr gerne zuschaue.

Mein lokalpatriotisches Herz schlägt natürlich für Hannover 96, aber ich habe kaum ein Spiel von ihnen gesehen – außer wenn sie gegen den HSV spielen, dem der Rest meines Herzens gehört. Der Kerl sieht sich grundsätzlich alle Pauli-Spiele an, dann alle HSV-Spiele und dann alles andere. Daher kenne ich die HSV-Mannschaft einfach am besten, habe mir allmählich die Spielernamen merken können und gucke ein bisschen aufmerksamer zu. Und: Inzwischen achte ich nicht nur auf den Ball, sondern auch auf die Jungs, die den Ball gerade nicht haben. Ich erkenne so laaangsam die Spielsysteme, nach denen gebolzt wird, und ich erkenne ebenso langsam die Unterschiede zwischen den einzelnen Mannschaften. Ich mag inzwischen ein 0:0 lieber, wenn das Spiel taktisch faszinierend ist, als eine 8:0-Hinrichtung, bei der nur noch eine Mannschaft was vom Spiel hat. Und das ist, wie gesagt, die Schuld von Bayern München. Seit der Herr van Gaal die Jungs trainiert, gucke ich ihnen unglaublich gerne bei der Arbeit zu, weil so gut wie jedes Spiel einfach schön zum Zugucken ist: flüssig, taktisch klug, kein blödes Nachvornewerfen und Hail-Mary-Gekicke (der Kaiser nennt es Kick-and-Rush), sondern gezielte Aufbauarbeit im Mittelfeld und teilweise unfassbare Abschlüsse (Robben und Olic, I’m looking at you).

Die lustige Wortkombination „Aufbauarbeit im Mittelfeld“ kommt mir inzwischen ziemlich flüssig über die Lippen, denn mich hat es immer genervt, dass der Kerl so launig von „Rauten“ fabulierte, von der „Doppelsechs“ oder der „flachen Vier“, dass ich angefangen habe, mich auch theoretisch mit Fußball zu beschäftigen. Seit der WM ist Zonal Marking meine zweite Heimat, auch wenn ich mich sehr konzentrieren muss, um einen Eintrag zuende zu lesen; es fühlt sich fast an wie früher an der Uni Fachliteratur zu studieren, das kann man nicht mal eben so überfliegen. Und vor wenigen Tagen habe ich mein neues Lieblingsbuch beendet: Inverting the Pyramid vom Sportjournalisten Jonathan Wilson. Es beschreibt die Veränderung von Fußballtaktiken seit Beginn des Spiels bis heute. Der Titel kommt vom ersten System, das jemals gespielt wurde, einem 2-3-5, also zwei Verteidiger, drei Mittelfeldspieler und fünf Stürmer. Heute ist die Gewichtung genau umgekehrt; es stehen grundsätzlich mehr Verteidiger als Stürmer auf dem Platz, und die deutsche Mannschaft hat während der WM meist in der Formation 4-2-3-1 gespielt.

Seitdem ich mich mit Spielsystemen beschäftige, gucke ich Fußballspiele ganz anders. Auf einmal ist es gar nicht mehr so wichtig, ob ein Tor fällt oder nicht, es ist viel spannender, dem Fluss des Balls zuzuschauen, den Bewegungen der Spieler bzw. einer Linie – der Verteidigungslinie, wie sie die Abseitsfalle vorbereitet oder dem offensiven Mittelfeld, wie es sich gemeinsam nach vorne schiebt und die Stürmer füttert –, wie gut das Zusammenspiel funktioniert (Hallo, FCB) oder eben nicht (Hallo, HSV). Es ist auf einmal ästhetischer, Fußball zu gucken, wenn man weiß, warum die Jungs auf dem Feld so und nicht anders rumwuseln. Und als der Kerl und ich vor kurzem Liverpool gegen Arsenal geguckt haben und ICH DIE SYSTEME RICHTIG ERKANNT HABE UND DER KERL NICHT, war das wie Weihnachten. (Ich bin sehr einfach glücklich zu machen.)

Mit diesem theoretischen Rüstzeug bin ich sehr gespannt auf die neue Bundesligasaison, die heute startet, weil ich zum ersten Mal von Anfang an ganz anders dabei sein werde. Ich werde immer noch 96 die Daumen drücken, egal wie scheiße sie spielen, ich werde bei HSV gegen Pauli dem HSV alles Gute wünschen, während der Kerl für Pauli sein wird, und ich freue mich auf dutzende von europäischen Begegnungen, weil das wieder ein ganz anderer Schnack ist. Das einzige, was mich ein bisschen wehmütig macht: Ich gucke Spiele der Nationalmannschaft nicht mehr ganz so gerne, weil ich inzwischen weiß, wie großartig Vereinsfußball sein kann. Aber immerhin kann man bei denen Fahnen schwenken und hupend durch die Gegend fahren. Ist ja auch was.