Aus der Buchmitte entspringt ein Redefluss

Minusvisionen von Ingo Niermann. Das Interessante an dem Buch ist nicht, dass alle Wagemutigen mit ihren Geschäftsideen auf die Fresse gefallen sind (das weiß man ja vorher, mieser Spannungsbogen, doo), sondern dass alle Biografien so schön durcheinander mäandern. Meine Eltern finden es ja schon seltsam, dass ich mein Studium nicht beendet habe („Du wirst nie eine anständige Arbeitsstelle kriegen“ – überhaupt: Arbeitsstelle, sagt auch keiner mehr, Job, Beschäftigung, Arbeitsplatz höchstens, Arbeitsstellen gibt’s nur da, wo’s auch Betriebsräte gibt und ne Kantine) oder dass ich ab und zu den Arbeitgeber gewechselt habe und das garantiert auch noch mehrere Male tun werde („Früher blieb man 40 Jahre in einem Betrieb, und dann gab’s ne goldene Uhr“) oder dass ich noch keine Kinder habe („Deine Cousine hat schon zwei“) oder dass ich einen Job habe, für den es keine geregelte Ausbildung gibt („Ich weiß immer gar nicht, was ich meinen Freundinnen sagen soll, was du eigentlich machst“). Im Vergleich zu den Lebenslinien in Minusvisionen bin ich der normalste Mensch der Welt.

Wie es leuchtet von Thomas Brussig. Sonnenallee hab ich von ihm nicht gelesen, und nach dem Film wollte ich das auch gar nicht mehr, sentimentales Gelabere, pseudolustig, ach guck mal, die komischen Schuhe, och, jetzt hamse den Robert Stadlober erschossen, nee doch nicht, wasn Glück, ach guck mal, die komischen Schuhe. Wie es leuchtet lesen ist ein bisschen wie Big Brother sehen: Die banalste Nebensächlichkeit ist gleich zehn Sendeminuten wert. Das Buch beschreibt die Zeit der Wende aus der Perspektive von ungefähr einer Milliarde Charakteren, die alle gehetzt über die Seiten wuseln und sich ab und zu treffen. Es ist nicht uninteressant und nicht langweilig, aber das war Big Brother auch nicht, und trotzdem hatte man die ganze Zeit das Gefühl, man könnte irgendwie was Sinnvolleres machen, abwaschen oder so.

Geschichte vom Nichts. Peter Glaser war der literarische Held meiner Jugend und Tempo das erste vernünftige Magazin, das ich damals in der Hand hatte und das meinen Horizont um (metaphernschwache) Lichtjahre erweitere. Gonzo, Coupland, 100 Zeilen Hass, Bei der Geburt getrennte Zwillinge, Michael Stich würde für Waffenkonzerne werben, Björk popelt während des Interviews, bei Michael Kühnen hat das AIDS-Virus mal Recht gehabt, und Peter Glaser erzählt von Legosteinen. Seine Kolumnen haben mich damals Satz für Satz überrascht, ich konnte es manchmal gar nicht glauben, zu welch irrsinnigen und vor allem irrsinnig schönen Kombinationen man ganz normale Worte, die ich jeden Tag für Pubertätsproblembesprechungen verschwendete, zusammensetzen konnte. Geschichte vom Nichts hat auch viele irrsinnige Sätze, aber mir fehlt der Zusammenhang, mir fehlt der Punkt, bei dem ich in den Tempo-Kolumnen aufrichtig beeindruckt war. Ichweißichweiß, es ist gemein, die Texte mit 20 Jahre alten Arbeiten zu vergleichen, aber für mich persönlich war Glaser damals besser. Oder anders. Oder er passte eben zu mir. Oder er hat genau die Worte gefunden, die ich damals gesucht habe, ohne zu wissen, dass ich sie finden will.

Talking to myself von Yohji Yamamoto. Meine ehemalige Art Direktorin und ich haben diversen Kunden auf diversen Briefings jahrelang eine Idee verkaufen wollen und sind jedesmal gescheitert: eine Broschüre in japanischer Bindung. Wollte nie einer haben, weil produktionstechnisch zu aufwendig blablabla. Umso mehr hat es mich gefreut, diese Art der Bindung bei Herrn Yamamoto zu finden und dazu noch einen genähten Rücken und ein gesticktes Cover. Noch mehr freut mich an dem auf 7000 Exemplare begrenzten Buch (ich bin die Nummer 5155), dass es voll ist mit Zeichnungen und Fotos von Kleidern (habe ich erwähnt, dass ich Yamamoto verehre und ich auf die Bayreuth-DVD von Tristan und Isolde warte, auch wenn da Langweiler Domingo singt, aber Y. hat die Kostüme gemacht) und lustigen japanischen Schriftzeichen, die ich natürlich nicht verstehe, weswegen jede Seite in meinen bloßbilingualen Augen nicht wie eine normale Buchseite mit Bild und Text aussieht, sondern nur wie ein Bild. Das ganze Buch ist ein Bild nach dem anderen. Die englische und französische Übersetzung ist beigelegt, aber ehrlich gesagt habe ich bis jetzt noch keinen einzigen Satz von Yamamoto gelesen, warum er designt und wie und ob er dazu was isst und wenn ja was, ist mir eigentlich egal, ich will doch nur die Bilder von den Kleidern angucken und die japanisch gebundenen Seiten umblättern.

6 Antworten:

  1. „Ich weiß immer gar nicht, was ich meinen Freundinnen sagen soll, was du eigentlich machst“ > haha, mir gehts genauso. jedsmal wieder. erklären ist nutzlos (man hat ja aber auch einen unerklärlich seltsamen beruf). plus der wunsch der eltern, man möge etwas tun, worunter sie sich was vorstellen können (“journalismus, das wär doch was für dich. du solltest mehr schreiben.” > ich schreibe zwar ohnehin den ganzen tag, aber ach .com, egal.)

    zur japanischen bindung: buchkunst wäre ja überhaupt soetwas, womit man sich beschäftigen könnte.

  2. “Japanische Bindung”: Habe ich erst Anfang dieses Jahres gelernt, um sie sofort für eine hochwertige Festschrift in Auftrag zu geben. Fnaharrrrrr!

  3. Da fällt mir wieder ein, dass ich irgendwo noch ein paar Jahre Tempo lagern habe. Inkl. dem fake “Neues Deutschland”. Das waren Zeiten…

  4. @wohnzimmer: Richtig lustig wurde es, als ich versucht habe, meinen Eltern zu erklären, was ein Weblog ist. Da musste ich erstmal das Konzept des Internets erklären, das mir in seiner Größe und Technik ja manchmal auch ein bisschen unverständlich ist.

  5. Ein Kollege erzählte mir neulich von einem Gespräch, das er Weihnachten mit seinem Vater führte.
    Vater: Und? Hat euch die Agentur was geschenkt?
    Sohn: Einen I-Pod.
    Vater: Hä?!?
    Sohn: Das ist ein MP3-Player.
    Vater: Häh?!?
    Sohn: Das wird heute bestimmt noch regnen.
    Vater: Ja, ja.

  6. Ok, es ist Zeit “Minusvisionen” von der Wunschliste zu nehmen und endlich zu kaufen.
    “Im Vergleich zu den Lebenslinien in Minusvisionen bin ich der normalste Mensch der Welt.”