(read shhhh)

Buchenwald. Jugendfreizeit in der DDR. Zuerst das Goethehaus, Mittag essen, Sättigungsbeilage, in den Bus, den Ettersberg hinauf, Weimar zu Füßen. Man sieht Buchenwald aus Weimar nicht. Unser Führer (viele Witze über diese Bezeichnung, keiner dabei, den er noch nicht gehört hätte, wie er uns sagt) erzählt uns vom Ascheregen, der manchmal tagelang nicht aufhörte. Wir gehen durch das Tor, in dem „Jedem das Seine“ in Eisen geschmiedet steht. Die Uhr über dem Tor ist auf die Uhrzeit der Befreiung eingestellt. Wo früher die Baracken standen, sind heute die Fundamente mit Steinen nachgezeichnet. Eine große, plane Fläche, über die der Wind weht, wie in einem sehr, sehr schlechten Film. Das Wort „Totenstille“ fällt mir ein. Wir besichtigen die Genickschussanlage, und mir ist unwohl dabei, eine derartige Konstruktion zu „besichtigen“. Der Zellenblock für die Einzelhaft. Die nachgebildeten Holzkarren, auf deren Originalen Steine für die Straße nach Weimar transportiert werden mussten. Der Pfahl, an dem Gefangene an den Handgelenken aufgehängt wurden, bis die Schultern auskugelten. Die Öfen, vor denen einige aus der Gruppe posieren, um ein Foto zu machen. Was für ein Urlaubsdia. „Ach, guck mal, da waren wir im KZ.“ Die Pathologie. Die gekachelten Bänke und Becken, der Abfluss im Boden. Dann die Ausstellung, die fast nur von den Kommunisten und Ernst Thälmann erzählt, von den russischen Gefangenen. Alle anderen werden nebenbei erwähnt. Eine Vitrine mit Kinderschuhen aus Auschwitz. Eine Mitreisende fragt mich, wieso man das nötig habe, Schuhe aus Auschwitz hierher zu bringen – reiche das noch nicht, was man hier sieht? Und ob ich mal ein Taschentuch habe. Hab ich nicht. Ich hab keine mehr. Das Ende der Ausstellung markieren rote Fahnen und ein Hinweis auf den antifaschistischen Schutzwall und das obligatorische Honeckerbild.

Theresienstadt. Klassenfahrt nach Prag. Eine Busladung von 17- und 18jährigen, die einen Abend vorher Türme aus leeren Biergläsern in der Prager Altstadt gebaut haben. Das „Vorzeige-KZ“, die „jüdische Mustersiedlung“. Das Ghetto. Über dem Tor „Arbeit macht frei“. Die anderen besichtigen einen Tunnel, der durch das Lager führt. Ich warte lieber draußen. Ich habe Angst, wenn es so eng ist. Hier draußen ist es still. Es regnet. In einer Art Schulungsraum sehen wir Filme, die die Alliierten nach der Befreiung in mehreren Konzentrationslagern gedreht haben. Die Skelette in den Gruben. Die Brillengestelle. Das Zahngold. Die Haare. Die Koffer, Taschen, Kartons. Die gestreiften Anzüge, die sprachlosen Gesichter. Nach fünf Minuten gehen die ersten nach draußen, eine rauchen.

Bergen-Belsen. Schulausflug, 10. Klasse. Ein Mitschüler mit FAP-Aufnäher an der Bomberjacke. Er steht da, mit den Händen in der Tasche, während ich mir die Vitrine zu Anne Frank durchlese. Alles wirkt wie ein Park, die Ruhe, sauber geharkte Wege, Blumen. Ab und zu eine Tafel „Hier liegen 1000 Menschen“, „Hier liegen 5000 Menschen“, „Hier liegen 10.000 Menschen“. Eine Wand, an der Kränze niedergelegt werden. Auf der Rückfahrt die vergebliche Diskussion mit dem FAP-Mitschüler, der sich in das Stichwort „Auschwitzlüge“ verbeißt. Wir diskutieren mehrere Geschichtsstunden lang. Irgendwann möchte ich ihm nur noch eine reinhauen.

Urlaub in Israel. Das Fischrestaurant in Tel Aviv, das komische Gefühl beim Treiben im Toten Meer, die Golan-Höhen, die Kindergartengruppe in Akko mit ihren Aufseherinnen, die beide ein Gewehr geschultert haben, die Grabeskirche in Jerusalem, die Klagemauer, der Felsendom, Beth-Schean, Masada, Bethlehem, Sonne, das Mittelmeer, das Rote Meer, Urlaub eben … Tiberias am See Genezareth. Kurz vor Abfahrt des Reisebusses. Ich bin zu spät, haste aus dem Hotelzimmer, sehe den Fahrstuhl auf meiner Etage, in dem ein alter Mann steht, ich rufe “Hold it, hold it, please”, und er hält mir freundlich die Tür auf. “Thank you”, Baseballmütze zurechtgerückt, Rucksack aufgesetzt. “Are you American?” “No, I’m German.” Er hört meine Worte und sein Lächeln verschwindet. Er tritt so weit wie möglich von mir weg, drückt sich an die Fahrstuhlwand und schaut demonstrativ an mir vorbei. Ich sehe seine Tätowierung und wäre gerne unsichtbar.

Yad Vashem. Die Halle, in der die Namen von allen Konzentrationslagern auf dem Boden geschrieben stehen. Kränze, eine Feuerschale, es ist fast dunkel. Und es ist sehr still. Die Allee der Gerechten, die Bäume, die für die Retter gepflanzt wurden. Ich kenne keinen der Namen. Die Austellung mit den Bildern, die mich immer noch zum Weinen bringen. Kann man bei diesen Fotos jemals abstumpfen? Kann man irgendwann begreifen, was geschehen ist? Kann man verstehen, wie aus Menschen Mörder werden? Kann man ermessen, wieviel sechs Millionen sind?

In der Gedenkstätte ein großer, niedriger Raum. In ihm sind Regale aufgereiht, in denen Akten stehen. Eine Akte für jeden Juden, der umgebracht wurde. Die bekannten Daten, Bilder, wenn vorhanden, ehemaliger Wohnort, Tag der Deportation, in welches Lager, Tag der Ermordung. Eine Akte pro Mensch. Ein blödes Blatt Papier zwischen zwei Pappdeckeln. Alles, was noch da ist. Eine verdammte Akte.

Ich kann die Rückwand des Raumes nicht sehen. Nur Regale und Akten. Der Raum hat kein Ende. Der Raum hat einfach kein Ende.