Was schön war, Sonntag, 30. Juli 2017 – Documenta, Tag 3

Am zweiten Tag hatte ich leider nicht so viel geschafft wie F., der sich neben unseren gemeinsam besuchten Stätten noch die Documenta-Halle sowie das Fridericianum anschaute. Aber am Sonntag konnten wir gemeinsam alles gucken, was ich sehr genossen habe.

Wir begannen im Museum für Sepulkralkultur, das ich immer noch nicht fehlerfrei aussprechen kann. Das Gebäude an sich gefiel mir in seiner Durchlässigkeit sehr gut, und wir schauten uns nicht nur die Documenta-Objekte an, sondern auch, was sonst noch im Museum ausgestellt war. Im Erdgeschoss mochte ich besonders die stehenden und hängenden Holzobjekte von Agim Çavdarbasha, vor allem mit dem weiten Blick über die Stadt, den die großen Fensterflächen ermöglichen. Nix mit geschlossenem White Cube und stiller Betrachtung in der Einöde; hier entstand eine schöne Spannung zwischen Objekt und Umgebung, und ich konnte wieder meinem Materialfetischismus frönen. Alles, was anders ist als Farbe auf Leinwand, hat bei mir schon gewonnen. Wobei ich natürlich auch nichts gegen Farbe auf Leinwand habe.

Ich mochte auch die Fotozusammenstellung von Prinz Gholam, der alte archäologische Aufnahmen von antiken Ruinen mit nur wenig oder gar nicht bekleideten Jungen kombinierte. Das war irritierend und ästhetisch zugleich und hat mich darüber nachdenken lassen, wie sich unser Sinn für Angemessenes und Nacktheit verändert.

In einem Schaukasten entdeckte ich entsetzt Medaillen, die für das Lynchen von Schwarzen vergeben wurden, und von deren Existenz ich bisher nichts gewusst hatte. Ich kann dieses Werk trotz Katalogs nicht zuordnen, daher weiß ich nicht, ob es zum normalen Bestand des Hauses gehört. Direkt nebenan lagen im Schaukasten noch Materialien zu einer Audio- und Videoinstallation von Terre Thaemlitz. Von ihr schauten wir uns den Anfang an und sprachen über zerrissene Selbstbilder und Selbstfindung. Die ganzen 58 Minuten wollten wir aus Zeitgründen nicht anschauen, aber wenn wir noch einen Tag mehr gehabt hätten, hätten wir das gemacht.

Lois Weinberger: Die Erde halten/Holding the earth (2010).

Im Untergeschoss schauten wir uns dann den normalen Bestand des Museums an und lernten viel über Beräbniskultur. Manche Details wollte ich allerdings gar nicht wissen. Vor dem Filmkabinett von Terre Thaemlitz hing ein Hinweis, dass der Film erst ab 18 ist und dass Kinder vielleicht davon verstört werden. Diesen Hinweis hätte ich mir für zartbesaitete Knappfünfzigjährige im Untergeschoss gewünscht. Ich habe die historische Aufarbeitung von Friedhofskultur allerdings sehr gerne nachgelesen und angeschaut, denn seit letzter Woche bin ich ja quasi fit, was das 19. Jahrhundert angeht. Das war sehr schön, das jetzt einbetten zu können in den Barock und das 20. Jahrhundert.

Am Ausgang des Museums steht übrigens unten an der Tür „Leben Sie wohl“, was ich für einen perfekten Rausschmeißer halte.

Eigentlich wollten wir danach in die Torwache, aber die Grimmwelt lag direkt nebenan. Gut, dass wir reingegangen sind – das war zumindest mein liebster Ausstellungsraum.

Ich hatte zwar keine Geduld für Roee Rosens The Blind Merchant, das F. sehr gut gefallen hat, aber ich las dafür die Schaukästen komplett durch, in denen Kinderbuchillustrationen von Tom Seidmann-Freud ausgestellt waren, der Nichte von Siegmund Freud. Ich fand die Entwicklung vom Jugendstil zu den neusachlichen Zeichnungen spannend, und natürlich war es auch hier wieder der Zeitkontext, der für mich interessant war. Ich blätterte auch in den ausgestellten Katalog zu Rosen hinein und fand sein Werk Live and Die as Eva Braun, das ich mir erstmal im Zentralinstitut für Kunstgeschichte erschließen werde.

Mein liebstes Werk auf der ganzen Documenta fand sich auch hier: das 30-minütige Video Lost and Found von Susan Hiller. Es besteht nur aus Ton; verschiedene Sprecher*innen unterhalten sich, lesen Statements, singen oder sagen das Alphabet auf – in ausgestorbenen, bedrohten oder wiederbelebten Sprachen. Ich wusste nicht, dass Maori schon ausgestorben war oder Hawaiianisch. Ich hätte auch nicht gedacht, welche hypnotische Wirkung es hat, Sprachen zuzuhören, die man nicht versteht und die meist recht unaufregende Dinge beschreiben. Immer noch im Ohr habe ich ein Lied auf Salish, das nur die Buchstaben des Alphabets singt; die Untertitel versuchten, die vielen Kehlkopf- und Zungenlaute mit einer Kombination aus anderen Buchstaben und Zeichen darzustellen, was mir sogar sinnhaft vorkam und gleichzeitig fremdartig-schön. Er steht dankenswerterweise auf YouTube, und jetzt bekomme ich es überhaupt nicht mehr aus dem Kopf.

In der Grimmwelt kann man übrigens im Falada prima Kaffee trinken. Ich empfehle den Iced Latte. Und Name und Logo sind auch toll.

Danach war aber die Torwache dran. Schon von außen ist sie als Objekt zu erkennen, denn sie ist mit unzähligen Jutesäcken verdeckt. Die Idee dahinter ist mir erst durch den Katalog klargeworden (Globalisierung, Imperialismus, Ausbeutung), aber mir reichte schon die irritierende Optik.

Im Inneren verguckte ich mich dann in einen albanischen Maler, den wir später am Tag noch in der Neuen Neuen Galerie (ja, die heißt so) wiedersahen: Edi Hila. Ich mag an seinen Bildern die Stille, die über ihnen zu liegen scheint; den Kontrast aus mittelformatigem, fast altmodischem Tafelbild und den modernen Formen bzw. der irrealen Architektur, die auf ihnen zu sehen ist. Mir gefiel auch die helle, blaugraue Farbigkeit, die mich an verblassende Polaroids erinnerte und an einen Buchtitel von Douglas Coupland, Polaroids from the Dead.

Edi Hila: Boulevard (2015), ein Bild von sechs, Öl auf Leinwand, unterschiedliche Maße.

Nebenan wurde die ruhige Stimmung dann radikal ruiniert: Hier waren Entwürfe zu einem Auschwitz-Denkmal von 1957 zu sehen. An dieser Ausschreibung hatte sich damals auch Joseph Beuys erfolglos beteiligt, wie ich aus den Recherchen zu meiner Masterarbeit gelernt hatte. Im Moment fallen mal wieder viele kleine Puzzleteilchen in meinem Kopf an seinen Platz. Vielleicht hat mir auch deswegen der letzte Documenta-Tag so gut gefallen.

Ich erwartete minütlich, keinen Platz mehr im Kopf zu haben und wollte im Hessischen Landesmuseum eigentlich Schluss machen, nur noch die wenigen Documenta-Exponate gucken und dann des Rest des Hauses mit altem Porzellan und Zeug. Aber dann beflügelte mich das doch alles, was ich dort so sah und so sprintete ich F. hinterher, der sich schon in Richtung Neue Neue Galerie aufgemacht hatte.

Zunächst freute ich mich mal wieder über Material: Nevin Aladağ nutzte florale und feine Muster, um daraus sechsseitige Keramikkacheln zu brennen, die aber nicht auf dem Boden lagen, sondern wie eine Gitterwand im Raum standen. Sie erinnerten mich an ein Raumelement, das ich in der osmanischen Architektur kennengelernt hatte: die vergitterten Fenster, die Licht und Luft ins Innere des Hauses lassen, die Bewohner*innen aber vor den Blicken von außen schützen. Sie bestehen eigentlich aus Holz, und ich mochte diese leichte Veränderung von Material, Aussehen und Funktion. Ich mag generell Dinge, die mir bekannt vorkommen, es aber gar nicht sind.

Von Naeem Mohaiemen lief im Obergeschoss der 90-minütige Film Two Meetings and a Funeral, der sich mit dem Non-Aligned Movement (NAM) und der Organisation of Islamic Cooperation (OIC) vor allem in den 1970er Jahren beschäftigt. Ich glaube, wir saßen 20 Minuten im Film, hatten aber auch hier schlicht keine Zeit, obwohl er viele spannende Interviews oder Original-TV-Ausschnitte zeigte. Ich fragte mich danach, wann Europa und/oder die USA Afrika als funktionierenden Kontinent aufgegeben haben und wie man das ändern könnte.

Máret Ánne Sara: Pile o’ Sápmi (2017), Vorhang aus Rentierschädeln und Metalldraht, Teil einer Installation aus unterschiedlichen Materialien.

Als Abschluss streiften wir durch die große Neue Neue Galerie. Auch hier wieder Materialspaß, Rentierschädel, Seife aus Kohle, Metallbarren. Mir gefiel die aus vielen Materialien bestehende Installation von Daniel García Andújar, The Disasters of War/Trojan Horse, die unter anderem Picassos Guernica in ein Puzzle zerlegte. In Ausschnitten sah ich mir den Film von Arin Rungjang an, der erzählt, dass sein Vater von deutschen Neonazis erschlagen wurde und dass der Berliner Führerbunker heute ein Parkplatz ist. Im Obergeschoss stand ich lange vor den grafisch-schlichten und eindrucksvollen Schwarzweißfotos von Ulrich Wüst, der unter anderem die DDR in ihren letzten Jahren und nach der Wende festgehalten hatte. An der Wand gegenüber hingen weitere Gemälde von Edi Hila, und auch sie hätte ich sofort alle mitnehmen wollen.

Daniel García Andújar, The Disasters of War/Trojan Horse (2017), Detail einer Installation aus verschiedenen Materialien.

Dieses Dinge-Mitnehmenwollen ließ mich mich selbst fragen, was ich stattdessen von der Documenta mitnehme. Zeitgenössische Kunst muss ich mir immer anders erarbeiten als ältere, die schon im Kanon verortet ist und wo mir Kataloge und Dozentinnen sagen, ja, das ist Kunst, das darfst du dir merken. Wenn etwas neu ist, muss ich erstmal gucken, ob ich das gelten lasse. Manchmal befürchte ich, genauso ignorant zu sein wie damals die Menschen Ende des 19. Jahrhunderts, die die Impressionisten als Schmierfinken bezeichnet haben. Bei vielen Dingen, die ich in den vergangenen Tagen sah, runzelte ich höchstens die Stirn oder ging gleich daran vorbei, und vielleicht habe ich die große Neuentdeckung von 2017 ignoriert, übersehen oder augenrollend links liegen gelassen, keine Ahnung. Gleichzeitig denke ich darüber nach, für wen diese Art Massenausstellung überhaupt gemacht ist. Gerade bei der irrwitzigen Entwicklung des Kunstmarkts, die dazu führt, dass nur wenige Menschen sich Kunst leisten können, frage ich mich, ob solche Ausstellungen nur noch Sammler und Kuratorinnen irgendwie weiterbringen und der Rest, so wie ich, zwar großäugig (oder gelangweilt) durch die Massen an Werken rennt, aber außer dem Klicken im Kopf nichts davon hat. Ist diese Ausstellung damit exkludierend, obwohl sie durch ihre Zugängigkeit und Preisgestaltung genau das nicht sein will? (Zu diesem Thema lese ich übrigens gerade Wolfang Ullrichs Siegerkunst.)

Ich glaube, ich nehme, wie üblich, eine Wertschätzung von Kunst mit, ganz egal ob sie mir nun gefällt oder nicht, ob sie mich verstört oder langweilt. Ich weiß zu schätzen, dass sie da ist. Ich glaube manchmal, das reicht auch schon.