Tagebuch Donnerstag, 5. November – Crash and burn and cry and grieve

Einer dieser Tage, wo mich eine Kleinigkeit auf dem falschen Fuß erwischt und die ganze schöne gut gelaunte Fassade den Abgang macht. Ich las mal wieder über Wagner, stieß auf ein Buch, das interessant klang, suchte vergeblich nach ihm im OPAC der Unibibliothek, dann in dem der Stabi, wo ich es fand und wo vor allem das Titelbild abgebildet war. Sobald ich es sah, wusste ich, das hast du, du Knalltüte, das müsste nebenan im Regal stehen, wo du anscheinend echt keinen Überblick mehr darüber hast, was dir gehört. Ich ging also nach nebenan, guckte in der Musikecke, in der Biografienecke, etwas verwirrt in der Geschichtsecke, bis mir einfiel: Das Buch hatte in Hamburg nicht im Regal gestanden. Das lag auf dem riesigen Stapel ungelesener Bücher, der sich seit drei Jahren nicht mehr bewegt hatte bis auf ganz wenige Bücher, die ich mit nach München genommen hatte, um sie zu lesen.

Im Nachhinein unter „dumm gelaufen“ abgelegt: Sobald ich Bücher in München gelesen hatte, habe ich sie wieder nach Hamburg geschleppt, um sie ins dortige Regal zu stellen – nur um sie im September wieder in Umzugskisten zu packen und zurückzutransportieren. Der Stapel ungelesener Bücher wanderte allerdings nicht in die Umzugskisten; dort kam meine Taktik „Liegt hier seit drei Jahren rum und wurde weder vermisst noch benutzt – kommt weg“ zum Einsatz. Also warf ich ein nagelneues Buch in die Tonne, nur um es zwei Monate später für die Uni zu suchen. Und sobald mir klar was, was mit ihm passiert ist, fing ich an zu weinen, weil es mich an den Umzug erinnerte, an die Trennung, an den Kerl, an das Vorher.

Dieser ganze Trennungsrotz überfordert mich. Ich weiß, dass der Kerl mich wochenlang auf Twitter gemutet hatte, weil er mich nicht lesen konnte. Ich hatte ihn kurzzeitig auf Facebook entfreundet, weil er mir da ständig überraschend in die sehr ausgewählte Freundestimeline hüpfte. Jedes Instagrambild aus Hamburg tut weh, jedes Twitterfoto, auf dem seine Hände zu sehen sind, an die sich mein Körper noch gut erinnert, jeder Swarm-Check-in bei Orten, die ich mit ihm verbinde. Und trotzdem will ich nicht auf Social Media verzichten, weil ich wissen möchte, ob es ihm halbwegs gut oder wenigstens nicht allzu scheiße geht, weil ich mir Sorgen mache oder weil ich mich freue, wenn er gute Laune hat, weil es schön ist, wenn er gute Laune hat. So mochte ich ihn am liebsten, und ich vermisse seine schlechten Witze sehr.

Gleichzeitig gibt es aber nun hier einen Nachfolger, was mich immer noch überrascht, weil ich schlicht nicht damit gerechnet hatte, mich so schnell wieder neu zu verlieben. Eigentlich war ich nach der Trennung im März davon ausgegangen, ein Jahr heulend in der Gegend rumzuhängen (das könnte klappen) und dann fünf Jahre lang alle Internet-Singlebörsen durchzuspielen (ich hoffe, das bleibt mir erspart). Dass ich nur wenige Wochen nach der offiziellen Trennung, die wahrscheinlich schon längst inoffiziell vollzogen war, ohne dass wir beide das mitbekommen haben, jemand anderen lieben würde, war nicht vorgesehen – und es überfordert mich an manchen Tagen immer noch. Nicht die Liebe, die ist super. Aber der Abschied von der ehemaligen Liebe, die immer noch eine tiefe Zuneigung ist, der überfordert mich.

Vielleicht auch, weil die beiden Welten nicht mehr so schön klar voneinander getrennt sind: Hamburg war Kerl, München war Studium. Jetzt ist München Studium und neuer Mann, und mein Tag besteht nicht mehr nur aus Lernen, Tee trinken, grinsend durch München radeln oder beim ehemaligen Mitbewohner auf der Couch Bier trinken, sondern da ist jetzt jemand, ein Gefühl, eine Aufgabe, die bisher nach Hamburg gehört hat. Ich vermisse meine alten Strukturen, obwohl sie mich anscheinend so genervt haben, dass ich sie ändern wollte (Studium, in eine andere Stadt ziehen). Ich muss mir neue Strukturen schaffen, neue Zeitabläufe, ich muss damit klarkommen, dass ich jetzt hier bin und nicht mehr hier und dort.

An Tagen wie gestern würde ich am liebsten die leeren Umzugskisten, die noch im Keller stehen, gleich wieder vollpacken und ganz woanders hinziehen, wo ich kein soziales Netz habe, Dresden, Weimar – ich habe den Osten noch nicht aufgegeben und ich würde da gerne mal hin. Irgendwo das MA-Studium zuende machen, dabei quasi nix von meinen Ersparnissen für Miete investieren (gerade mal geguckt: Für das Geld, was ich hier in München für meine 44 Quadratmeter zahle, kann ich in Weimar in einem Altbau mit vier Zimmern und zwei Bädern wohnen), alleine sein, Serien gucken, lernen, Freundschaften übers Internet halten, fertig. Vielleicht fehlt mir das zeitweilige Alleinsein, also das richtig Alleinsein, nicht nur das „Ich hab hier in München quasi Singlestatus, aber in Hamburg wartet jemand auf mich“. Vielleicht hätte der Einschnitt klarer sein müssen, vielleicht hätte es überhaupt einen Einschnitt geben müssen und nicht so eine wachsweiche Statusänderung wie ich sie vollzogen habe, aus einer Stadt einfach in eine andere, die ich schon kenne, zu einem Mann, den ich schon kenne. Vielleicht trauere ich deshalb so komisch in Schüben in der Gegend rum, weil ich nicht richtig zum Trauern gekommen bin.

Und gleichzeitig bin ich wütend. Wütend über uns, weil wir es nicht gebacken gekriegt haben, wieder zusammenzufinden, wütend über ihn, weil er noch in unserer wunderschönen Wohnung wohnt, wo verdammt noch mal Platz für meinen ungelesenen Bücherstapel war, wütend auf mich, weil ich gefühlt diejenige war, die gegangen ist, wütend auf München, weil’s hier so schön ist, wütend auf die Uni, weil sie meinen Plan durchkreuzt hat, wieder Werbung machen zu wollen, wütend auf den neuen Mann, weil er mir sorgenvoll niedliche Pinguinbilder schickt, während ich weine und wütend bin und jetzt keine Pinguinbilder brauchen kann, weil ich dann nicht mehr weinen und wütend sein kann. Und dann denke ich, wieso ist es erst 13 Uhr und ich sitze hier mit Tee am Schreibtisch, wieso ist es nicht zehn Uhr abends, wo ich Pizza bestellen könnte, damit der Wein im Magen nicht so alleine ist?

Und dann schreibe ich das alles auf und putze mir die Nase und lese weiter über Wagner. Bis mich wieder eine Kleinigkeit umhaut.

Das wird ein tolles Jahr.