Arnold Esch, „Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers“ (1985)

In meinem Basiskurs Mittelalter haben wir als erste Hausaufgabe einen Text bekommen, den ich so spannend fand, das ich ihn euch hiermit aufdrängen möchte. Jede/r HistorikerIn winkt bestimmt mild lächelnd ab, ja klar, den kennen wir und ja klar, wir kennen auch das beschriebene Problem, aber für mich waren das mal wieder ein paar schlaue Gedanken, die ich mir noch nicht gemacht hatte.

Worum es geht: dass Geschichte, gerade alte, selektiv ist. Totale Überraschung, ich weiß, aber der Text fasst das alles sehr hübsch zusammen und liest sich charmant-unwissenschaftlich. Ihr findet ihn vollständig in der Bibliothek der Monumenta Germaniae Historica als Scan oder bei jstor als pdf, falls ihr da Zugriffsrechte habt.

Der Text beginnt mit der Überlegung, was eigentlich alles überliefert ist – und vor allem: was nicht? Esch beschreibt die Einzigartigkeit von Pompeji, erwähnt den Urkundenbestand der toskanischen Stadt Lucca, aus der tausende von Besitzurkunden von Grundstücken aus dem 12. Jahrhundert überliefert sind, aber kaum weitere Zeugnisse über anderen Handel und was uns das für ein Bild zeichnet. Er erwähnt auch, dass viele Urkunden nur temporären Charakter hatten, dass sie weggeworfen wurden oder das Pergament neu verwendet wurde und dass uns vor allem offizielle Schriftstücke vorliegen, meist aus Klöstern, Kirchen und Behörden.

„Die Chancen-Ungleicheit der Überlieferung prämiert also, sagen wir, den Grundbesitz und diskriminiert Handel und Gewerbe; sie begünstigt die Kirche und benachteiligt die Laien. Und sie tut noch etwas anderes: sie begünstigt das Unerhörte, das Ungewöhnliche, das Fatale, und benachteiligt den Alltag, das Übliche, das Normale. Das Schiff, das heil nach Hause zurückkommt, werden wir möglicherweise gar nicht wahrnehmen, es segelt unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle: es würde allenfalls in einem Zollregister vermerkt werden, soweit solche überhaupt geführt wurden – und was ist uns davon schon erhalten. Geht das Schiff aber unter, dann findet es vielleicht Eingang in eine Chronik, in einen Brief, wird womöglich zum Versicherungsfall, zum Fall vor Gericht mit all den Akten, die dazugehören, kurz: das untergehende Schiff erzeugt viele Quellen und erhöht damit die Chance, daß wir 500 Jahre später von diesem (und vielleicht nur von diesem) Schiff noch hören. Nicht zufällig trägt eine von den Übersee-Historikern vielbenutzte portugiesische Sammlung den sprechenden Titel História trágico marítima: tragische Seegeschichte, maritime Geschichte als Geschichte untergehender Schiffe.

Doch ist es zu Lande nicht anders: Der gute Wechselbrief hat eine viel geringere Chance, auf uns zu kommen, als der schlechte, der sich vor Gericht und damit doppelt und dreifach in Erinnerung bringt. Alles ging schief, sagen wir uns erschrocken – und wissen davon vielleicht überhaupt nur, weil es schief ging. Denn die größere Ãœberlieferungs-Chance hat alles, was zusätzlich Quellen erzeugt: der Streit vor Gericht (…); die Mehrausgabe (die bewilligt und gerechtfertigt sein will und darum vielleicht zusätzlich Eingang in weitere Registerserien findet – überhaupt hat eine Chance alles, was etwas kostet und abgerechnet werden muß); die Repression (…) – so ist eine wachsende Zahl von Bauernunruhen nicht notwendig Indiz für zunehmende Aufsässigkeit, sondern vielleicht nur für den zunehmenden Ausbau wachsamer Behörden.“

Esch spricht dann von dem Überlieferungs-Zufall – dass also vieles, was uns überliefert wurde, gar nicht dazu gedacht war. Er erwähnt altägyptische Papyri, die nur durch das Wüstenklima überdauert habe und nicht, weil der Inhalt vieler Briefe und Notizen von der damaligen Gesellschaft als überlieferungswürdig eingestuft wurde. Und dann kommt er auf einen Sonderfall, der mich sehr fasziniert hat:

„Die Scheu, Schriftstücke zu vernichten, die beiläufig den Namen Gottes enthielten oder auch nur durch die hebräische Schrift geheiligt waren, ließ strenggläubige Juden ihre Briefe und Verträge zu ritueller Bestattung in einem eigenen Depotraum (Geniza) der Synagoge niederlegen. Glückliche Umstände, darunter wiederum das dortige Klima, haben den Inhalt einer solchen Geniza erhalten. Das sind die berühmten Bestände der Geniza von Alt-Kairo, seit 1890 in zahllose Sammlungen zerstreut und doch aus demselben, in tausend Jahren nie geleerten Raum stammend: Geschäftsbriefe von Marokko bis Indien, Privatbriefe, Zahlungsanweisungen, Frachtlisten, die Autobiographie eines normannischen Proselyten und ein mittelhochdeutsches Epos in hebräischer Schrift, Verträge jeder Art, vom Heiratsvertrag aus dem Jahre 871 bis zum Scheidungsakt von 1879 aus Bombay, und vorzugsweise Stücke aus dem 11. und 12. Jahrhundert in totalem, immer wieder durchwühlten Durcheinander. Ein weiterer Fall außerordentlicher Überlieferung also, der nicht auf die Nachwelt zielt (und insofern dem konservierenden Wüstensand näher ist als dem bewahrenden Archiv); ein Bestand, der nicht von der Geschichte ausgelesen wurde und nun – wie die Papyri auf den Alltag des antiken Ägypten – einen scharfgebündelten Lichtstrahl auf den Alltag einer Gruppe auch des mittelalterlichen Ägypten wirft – und ringsum jene Dunkelheit, an die das Auge des Mediävisten gewöhnt ist.“

Der „scharf gebündelte Lichtstrahl“ ist wichtig, denn als HistorikerIn darf man nie vergessen, dass diese Quellen nur eine Auswahl sind; sie zeigen nie das ganze Bild der Zeit. Und: Sie unterliegen sozialen Auswahlprozessen:

„Selbstzeugnisse aus dem sogenannten „niederen Volk“ gibt es fast nicht, sie fallen in die Kategorie der nie geschriebenen Quellen. (…) Wenn Bertolt Brechts Lesender Arbeiter fragt: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Caesar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte untergegangen war. Weinte sonst niemand?“ – wenn er so fragt, dann meint er, daß nach Caesars Koch oder nach Philipps Soldaten nicht gefragt werde (und damit hat er, oder hatte er, sicherlich auch recht). Aber daß Brechts lesender Arbeiter auf seine treffenden Fragen nicht so leicht eine Antwort findet, liegt nicht allein an der Bosheit der herrschenden Klasse, die diese Fragen nicht stelle, die diese historische Fragestellung nicht zulasse, sondern ist wiederum zugleich ein Problem der Ãœberlieferung (und das heißt allerdings wieder: daß nie einer da nach gefragt hat). Caesars Koch hat keine sehr große Chance, in eine historische Quelle zu kommen – es sei denn, er täte das Unerhörte und vergifte Caesar.“

Etwas weiter oben sprach ich es schon an: Die Lebenden treffen bereits eine Auswahl darüber, was überlieferungswürdig ist. Das machen wir heute genauso, nämlich bei Tageszeitungen (ich erinnere daran, dass der Text von 1985 stammt). Esch schreibt, dass von den 500.000 Wörtern, die täglich bei einer Presseagentur eingehen, nur zehn Prozent an die Tageszeitungen weitergegeben werden, und die wiederum nur das abdrucken, was passt oder gefällt: Sie schneidern uns eine „Wahrheit nach Maß“. Und: Sie berichten, genau wie die alten Quellen, eher das Ungewöhnliche als den Alltag.

„Solange es die von Christian Morgenstern erdachten Zeitungen nicht gibt, „die immer gerade das mitteilen und betonen, was augenblicklich nicht ist; zum Beispiel: keine Cholera! Kein Krieg! Keine Revolution! Keine schlechte Ernte! Keine neue Steuer!“ – solange wird uns die Zeitung grundsätzlich mehr das Ungewöhnliche, das Berichtenswerte mitteilen so wie jede bewußte Ãœberlieferung und Mitteilung mehr dem Außergewöhnlichen als dem Alltäglichen gilt, auch im privaten Bereich: „wie viele Fotos gibt es von Sonntagen, und wie viele von … Montagen?“ Eine Sonntag/Montag-Grenze eigener Art, die wir für unsere eigene Gegenwart leicht, für frühere Zeiten schwer ziehen können. Und so, wie die Nachrichten dann auf die Seiten der Zeitung sortiert sind, würde es für das Bild, das sich eine spätere Zeit von der unsrigen machen wird, einen großen Unterschied bedeuten, ob ihr von einer Tageszeitung zufällig die Weihnachts-Beilage oder aber die 14. Seite eines Dienstags im Februar überliefert wäre. Für die Ãœberlieferung und ihre Bewertung hat der Informations-Verbund, den die Presse unter der Menschheit herstellt, im übrigen noch tiefgreifende Folgen: Eines der aufregendsten Erlebnisse der jüngeren Menschheitsgeschichte, die erste Mondlandung, wird in den Abertausenden von Postkarten, die an jenem Juli-Sonntag geschrieben worden sind, vermutlich gar nicht erwähnt worden sein, einfach weil jedermann diese Information bei jedermann voraussetzen durfte.“

Und genau deswegen bin ich so froh darüber, dass es Blogs und Instagram gibt. Der blöde Satz „Nobody cares what you had for lunch“ regt mich jedesmal auf, wenn ich ihn in seiner Überheblichkeit irgendwo stehen sehe. Denn: I care. Ich lese lieber persönliche Blogs als irgendwelche Newsfeeds, mich interessieren Menschen und ihr Alltag mehr als Neuigkeiten. Klar sind die spannend, aber in meinem kleinen Umfeld sind sie deutlich unwichtiger als die Frage, wie es meinen Bloglieblingen geht, was sie so machen, was sie erleben. Ich mag Futterfotos auf Instagram gerne, und die ganzen Baudenkmäler, die ihr ablichtet, gucke ich mir auch sehr gern an.

Nicht nur ich: Wir produzieren wie die Irren. Heute ist eher die Menge der Datensätze als ihr Fehlen ein Problem:

„Rühmt der wohlwollende Rezensent beim Mediävisten vorzugsweise den „kombinatorischen Scharfsinn“, so beim Zeithistoriker eher den „sicheren Zugriff“ – und wahrhaftig, den braucht es angesichts der Materialfülle. Man denke nur an die Aktenproduktion der modernen Verwaltung auf allen ihren Ebenen: Nach fünfeinhalb Jahren Regierungszeit hat die Nixon-Administration 42 Millionen Seiten Dokumente hinterlassen – wobei noch sehr die Frage ist, ob wichtige Entscheidungen nicht per Telephon gefallen sind und in dieser Papiermasse vielleicht gar nicht mehr überliefert werden: In immer mehr Akten steht immer weniger drin. (…)

Wir begannen mit der Frage, was wir denn gern überliefert bekämen, und sehen uns nun zum Schluß der Frage gegenüber, was wir denn unsererseits überliefern wollen. Denn mit dem (unter Archivaren so genannten) „Aussonderungs- und Wertungsverfahren“ bestimmen wir, bestimmt der Archivar, was endlich der Überlieferung für wert zu halten sei – er vereinigt gewissermaßen Chance und Zufall in seiner Person: Wahrhaftig eine fast göttliche Macht, freilich mit durchaus menschlichen Zügen, mit (manchmal sehr persönlichen) Auswahlkriterien, die dann noch von Generation zu Generation wechseln. Einer der nützlichsten Fonds des Berner Staatsarchivs trägt die bemerkenswerte Signatur „Unnütze Papiere“ – eben darum, weil diese Papiere im 18. Jahrhundert der Überlieferung nicht für wert befunden wurden, während sie heute sehr willkommen sind.“

Und so freuen sich vielleicht die HistorikerInnen der Zukunft über eure – und meine – Fischstäbchenbilder.