Haydn hören

Von den drei Wiener Klassikern bin ich am meisten in Beethoven verknallt, dann kommt mit großem Abstand Mozart, und zu Haydn hatte ich bisher nicht mal wirklich eine Meinung außer „mir egal“. Ihr ahnt schon, was kommt: Zwei Stunden mit meinem Schnuffelprofessor haben gereicht, um mir diese Meinung auszutreiben.

Eckdaten: Joseph Haydn, 1732–1809, galt ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als der wichtigste Komponist für Instrumentalmusik und hat sich diesen Ruf zwei Jahrhunderte lang bewahren können. Heute nennen wir eher Mozart den big shot, aber wie immer bei Genies: Sie stehen schon auf den Schultern von Giganten. Mozart wäre ohne Haydn nicht der, der er war, und Beethoven auch nicht. Was an ihm neu und besonders war: Er verweigerte sich der Nebenbeimusik des galanten Stils (über den schrieb ich hier schon mal). Seine Musik sollte herausfordern, sie verlangte nach einem aktiven Zuhörer. Das ist für uns heute nicht mehr so recht nachzuvollziehen, weil wir schon sowas Herausforderndes wie Zwölftonmusik kennen, aber wenn man sich das hübsche Geplänkel des galanten Stils anhört, wird klar, was Haydn wollte.

Während seines recht langen Lebens komponierte er neben anderen Wundertüten 106 Sinfonien – zum Vergleich: Mozart komponierte rund 60, Beethoven neun – und 68 Streichquartette; er gilt als Begründer dieser Art der kammermusikalischen Darbietung. Bis 1900 nannte man Streichquartette die anspruchsvollste musikalische Gattung, und nicht jeder kam gut mit ihr zurecht. Sowohl Mozart als auch Beethoven taten sich ein bisschen schwer mit diesem Ding, und wenn man sich Mozarts KV 589 anschaut – ein Quartett, das sich auf Haydns Opus 33,2 bezieht –, dann merkt man schon, dass er sich anstrengen musste, um seinem „Lehrmeister“ Paroli bieten zu können. Und den Schluss, auf den ich noch genüsslich zu sprechen komme, konnte selbst er nicht übertreffen.

Haydn verbrachte fast sein gesamtes Komponistenleben am Hof des Fürsten Eszterházy, wo er unbeeinflusst von anderen musikalischen Strömungen ausprobieren konnte, was ging und was nicht und so seinen eigenen Stil entwickelte. Und der war, wie erwähnt, eine Ansage. Haydns Art zu komponieren, lässt sich am besten mit „ökonomisch“ umschreiben. Er nutzt wenige motivische Bausteine, die sich in einem folgerichtigen, logischen Prozess stimmig entwickeln. Seine Quartette haben einen konsequenten, fast zwingenden Charakter. Um das einzuordnen: Mozart folgt auch einem Schema, dengelt aber gerne noch eine Runde Verzierungen an alles dran, während Beethoven, das enfant terrible, gleich ganz die strenge Sonatensatzform zertrümmert – die Haydn entwickelt hatte, die aber erst nach 1800 überhaupt einen Namen bekam.

Hören wir doch mal in seine kleinen Spielereien rein, die er betrieb, um die Zuhörer bei der Stange zu halten. Oder: sie überhaupt vom Billardtisch, dem Kaffeekränzchen oder dem neuesten Klatsch aus der Hofburg wegzukriegen.

Im Streichquartett 25 in C-Dur von 1771 (Opus 20,2) eröffnet zum Beispiel nicht die erste Geige das Quartett, wie sich das gehört. Statt dessen ist es das bis dahin total egale Cello, das sonst nur als „Grundlage“ diente (Stichwort „Generalbass“). Was für ein Opener, wenn man diesen Klang als Soloinstrument nicht gewohnt war! Außerdem spielt das Cello in einer sehr hohen Lage, was es fast nach Bratsche klingen lässt: Es entsteht eine bis dahin ungehörte Klangfarbe. Und wenn man die Hörer schon mal hat, kann man ihnen auch gleich noch mehr zumuten: Der vierte Satz ist in Fugenform geschrieben, was sich eher weniger nebenbei weghören lässt. (O-Ton Professor: „Außer Sie sind unmusikalisch, dann ist das super.“)

Opus 20 „schlug den Weg frei“, wenn man Haydn glauben mag, zu Opus 33 von 1781, das als erstes großes Werk der Wiener Klassik gilt. Opus 33,5 (Streichquartett Nr. 29 in G-Dur) überraschte auch schon mit den ersten zwei Takten: Sie waren nämlich im pianissimo zu spielen. Normalerweise fehlte jede Dynamikangabe in den Noten, weil allen klar war: Wir fangen entspannt in Zimmerlautstärke an. Nicht so hier: Die ersten Takte haben fast den Charakter eines kleinen „Pssst, es geht los.“ Und wer sich mal die Noten anschauen mag: Der kleine Reinkommer ist zudem noch ein ziemlich wichtiger Baustein in der Melodieentwicklung, denn er beendet in Takt 9/10 das Hauptthema des Satzes. Es schließt sich ein für damalige Zuhörer erkennbarer Kreis.

Opus 33,3 (Streichquartett Nr. 32 in C-Dur, „Vogelquartett“) fängt ebenso seltsam an: mit der Begleitung. Hört man, sieht man in den Noten aber auch schön: Die zweite Geige und die Bratsche begleiten ein Thema, das noch gar nicht da ist, und als es dann endlich kommt, klingt es wie sinnlos rumzwitschernde Vögel. Oder wie unser Professor es nannte: „Eigentlich sind das bloß G’s mit Zeug dazwischen.“

Mal kurz weg von den Streichquartetten: In seiner 60. Sinfonie in C-Dur erklingt im Finalsatz etwas, das jeder wiedererkennt, der schon einmal ein Streichinstrument gespielt hat. Wenn Sie mal reinhören möchten? Dauert nur ein paar Sekunden, bis der Effekt kommt. Bitteschön. Für alle Nicht-Streicher_innen: Nach wenigen satten Akkorden, die so richtig schön klassisch nach brachialem Finalsatz klingen, ertönen die charakteristischen Quinten, die man hört, wenn man seine Geige, sein Cello oder ein ähnliches Instrument stimmt. Die zweite Geige darf sogar mit einer Sexte beginnen, so dass es wirklich so klingt, als hätten die Musiker_innen vergessen, ihre Instrumente zu stimmen – oder als ob sie lieber noch mal nachprüfen, ob auch alles seine Ordnung hat. In der Wikipedia sieht man das hübsche Notenbild dazu. Der Beiname dieser Sinfonie lautet übrigens „Der Zerstreute“.

Und als Rausschmeißer, der mich wirklich verzückt hat, noch schnell den vierten Satz von Opus 33,2 (Quartett Nr. 30 in Es-Dur). Er überrascht mit einem Schluss, den unser Professor als einen der „schönsten und zwanglosesten Schlüsse in der Musikgeschichte“ bezeichnete. Wenn Sie sich diese drei Minuten mal aufmerksam gönnen würden? Es lohnt sich. Der Hörsaal lauschte jedenfalls ziemlich begeistert und konnte sich irgendwann ein zufriedenes Lachen nicht verkneifen. Kein Wunder, dass dieses Quartett im englischen Sprachraum den Beinamen „The Joke“ trägt. (Ein Hinweis – ich kenne euch ungeduldige Internetleute doch: nicht zu früh weghören.)