Bücher Juni/Juli 2014

fest

Saša Stanišić – Vor dem Fest

Ich mochte das sehr. Ich mag die Sprache von Stanišić, dieses vorsichtige Rantasten an die richtigen Wörter, das man noch spüren kann, wenn man sie liest.

„Sie loben die ganze Zeit die Landschaft, als könnte das Dorf etwas dafür.“

Und ich mochte die Personen, die das Dorf bevölkern, in dem morgen ein Fest stattfindet. Ich mochte, dass ich in wenigen Sätzen sehr viel über sie erfahren habe. Da sind sie wieder, die Wörter, nach denen Stanišić gesucht und dann die richtigen aufgeschrieben hat.

„Der Fährmann hat Gölow Geld geschuldet. Nicht viel. Nicht viel für Gölow. Vermutlich viel für den Fährmann. Und Gölow geht hin und kauft ihm einen Sarg. Er kauft ausdrücklich einen bequemen Sarg. Er recherchiert im Internet zwei Nächte lang, Barbara wird ungeduldig: Warum bequem, was macht das noch für einen Unterschied? Gölow sagt, der Fährmann hatte einen kaputten Rücken. Das seien so Bewegungen beim Rudern, beim Seilanziehen, ganz egal, ob du die jahrelang richtig oder falsch ausgeführt hast, am Ende brauchst du einen bequemen Sarg.“

Das ganze Dorf hat eine Geschichte, und jede Person hat eine Geschichte, und in der Nacht vor dem Fest kommen sie zusammen, diese ganzen Geschichten. Wir gehen zurück in die Zeit der DDR und die des Nationalsozialismus’ und die des Kaiserreichs und die des Absolutismus’. Und plötzlich verändert sich die Sprache und kommt wieder zurück, genau wie Geschichten sich verändern und da sind und wiederkommen und bleiben.

Ich bin sehr verliebt in dieses Buch.

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glueck

Wilhelm Genazino – Das Glück in glücksfernen Zeiten

In der SZ stand zur Rezension von Genazinos neuem Buch Bei Regen im Saal folgendes, ich zitiere den Perlentaucher:

„Rezensent Ulrich Rüdenauer begrüßt nach der Lektüre von „Bei Regen im Saal“ einen neuen Protagonisten im „Genazino-Mikrokosmos“, der, wie seine Vorgänger, ebenfalls trostlos und weltverloren durch die eigene Biografie mäandert, dabei aber doch den Alltagsanforderungen und urbanen Belanglosigkeiten trotzt und still und traumverloren durch Fluchtwelten flanierend, Individualität bewahrt.“

Irgendwo anders hatte ich auch schon gelesen, dass alle Genazinos im Prinzip die gleiche Geschichte erzählen. Das finde ich schön, dann habe ich noch viel zu lesen, denn mir hat Glück sehr gut gefallen. Scheint wie bei Ortheil zu sein, der auch immer das Gleiche schreibt, und ich lese das dann halt gerne, wie ich alle anderen Bücher von ihm auch gerne gelesen habe. Ich habe nur die ganze Zeit gedacht, wie das Buch wohl klänge, wenn eine Frau die Hauptperson gewesen wäre, aber das mag meine derzeitige Konditionierung sein.

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fault

John Green – The Fault in Our Stars

Das war eher nicht so meins. Die Geschichte eines krebskranken Mädchens, das sich in einer Selbsthilfegruppe in einen der Mitpatienten verliebt, war mir zu geradeaus und teilweise zu selbstverliebt in seine eigene Geschichte. (LOOK AT ME I’M SAAAAD!) Dafür standen allerdings zwischendurch ein paar wirklich schön auf Pointe getextete Sätze in der Traurigkeit. Aber die Pluspunkte muss ich wieder abziehen für die meiner Meinung nach extrem doofe Szene im Anne-Frank-Haus. (LOOK AT ME I’M IN LOOOOOVE!)

(Leseprobe bei Amazon.de.)

am

Chimamanda Ngozi Adichie – Americanah

Dafür war das hier wieder ein großer Wurf. Americanah erzählt die Geschichte von Ifemelu, die aus Nigeria in die USA auswandert, wo sie bemerkt, das es dort anders ist, schwarz zu sein, worüber sie ein Blog beginnt. Das ist natürlich nur der Aufhänger, in Wirklichkeit geht’s um Lebensentwürfe und was aus ihnen im Laufe der Zeit wird, Lebenspartner und was aus ihnen im Laufe der Zeit wird und Lebenszeiten und ihr wisst schon, ich lass’ das jetzt.

Adichie ist gebürtige Nigerianerin und dementsprechend zweisprachig aufgewachsen. Ihre erste Sprache ist Igbo, und davon streut sie auch gerne Sätze oder Phrasen in ihre Geschichte, die sie auf Englisch, ihrer zweiten Sprache, geschrieben hat. Ich behaupte, das merkt man ein bisschen, dass Englisch die offizielle Sprache ist und Igbo die, die näher am Herzen ist, falls ich das als non-native-speaker überhaupt beurteilen kann. Auch hier mochte ich wieder den bewussten Umgang mit Worten, die mit wenig viel sagen:

„Curt’s mother had a bloodless elegance, her hair shiny, her complexion well-preserved, her tasteful und expensive clothes made to look tasteful und expensive; she seemed like the kind of wealthy person who did not tip well.“

Ein Großteil des Buchs befasst sich mit dem Zusammenleben von Schwarz und Weiß in den USA und dem Leben in Nigeria, was ich besonders spannend und lesenswert fand:

„When I started in real estate, I considered renovating old houses instead of tearing them down, but it didn’t make sense. Nigerians don’t buy houses because they’re old. A renovated two-hundred-year-old mill granary, you know, the kind of thing Europeans like. It doesn’t work here at all. But of course it makes sense because we are Third Worlders and Third Worlders are forward-looking, we like things to be new, because our best is still ahead, while in the West their best is already past and so they have to make a fetish of that past.“

Aber noch mehr mochte ich die Veränderungen der Hauptfiguren, vor allem natürlich Ifemelu, die sich stets ein bisschen ihrer Umgebung, ihrem Umgang, ihren Lebensgefährten anpasst. Das kam mir alles sehr stimmig vor, diese kleinen Kompromisse, die man im Sinne eines guten Zusammenlebens eingeht, die vielleicht irgendwann zu groß werden, um sie durchhalten zu können.

Definitiv mein Liebling der Leseliste, so kurz sie auch ist.

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München – Kirchensur – Gstadt – Fraueninsel – Herreninsel – Gstadt – München

Sandwiches geschmiert, Salate gemacht, erst im Auto daran gedacht: Wann sollen wir das bloß alles essen? Als ob wir in menschen- und restaurantleere Gegenden fahren. Egal. Kühltasche angestöpselt, losgefahren.

sandwiches

Auf dem Weg zum Chiemsee durch Kirchensur gefahren. Ich fiepste, weil ich die Kirche so schön fand in ihrer schmalen, hohen Schlichtheit, der ehemalige Mitbewohner hielt an, wir bemühten uns, die Autotüren nicht allzu lange offen zu lassen, damit aus den klimaanlageproduzierten 22 Grad keine 30 wurden, stapften zur Kirche – und fanden sie verschlossen. Immerhin konnten wir kurz ins Innere gucken, das uns alt und goldig entgegenglänzte, aber das hätte ich mir gerne aus der Nähe angeschaut.

kirchensur

In Gstadt fuhren wir in eine Parkhauseinfahrt, nur um festzustellen, dass das Parkhaus keines war, sondern nur eine abgesperrte Ecke von Gstadt, die jetzt anscheinend als Parkplatz dient. Wir fanden sogar noch ein Plätzchen im Schatten, bepackten unsere Rucksäcke bzw. Taschen mit Sandwiches, Wasser und Sonnencreme und gingen zum Bootsanleger, um uns in fünf Minuten zur Fraueninsel schippern zu lassen.

fraueninsel

Auf die Fraueninsel wollte ich, seit ich mein Referat über Teile des Klosters gehalten hatte. In den nächsten Tagen beginne ich die Hausarbeit zu diesem Thema und vorher wollte ich mir dann doch mal selbst anschauen, worüber ich da eigentlich schreibe. Auf der Autofahrt las ich dem ehemaligen Mitbewohner die kurzen Texte zur Insel aus zwei Reiseführern vor und quengelte diverse Male über Ungenauigkeiten, Fehler und Rumgemeine, freute mich aber über die Bezeichnung „knuffig“ für den Campanile. Ich ballerte den Herrn mit Jahreszahlen, Namen, Gegenständen und Malereien voll und wurde immer hibbeliger, bis wir endlich anlegten. Die Frage „Erst Kultur oder erst mal rumgucken“ wurde von mir dann auch mit ungläubigem Augenrollen quittiert, und ich sprintete schon in Richtung Torhalle, bevor der Mann überhaupt die Frage zuende formuliert hatte.

torhalle

Das Kloster auf der Fraueninsel ist recht gut erforscht, aber um die genaue Datierung einzelner Bauwerke bzw. Bauabschnitte streiten sich seit Jahrzehnten diverse Wissenschaftler; ich bin bei meinen Referatsvorbereitungen jedenfalls immer über die gleichen Namen gestolpert. Das Kloster wurde 782 geweiht; Stifter war Tassilo III. (741–nach 784), der letzte Herzog des bayerischen Geschlechts der Agilolfinger. Ihm wird bis heute als Stifter die Totenmemoria gehalten. Die erste heute noch bekannte Äbtissin ist die selige Irmengard (831/33–866), Tochter Ludwig des Deutschen (um 806–876) und Urenkelin Karls des Großen (747/48–814). Das Kloster war ein königliches Stift und stand adligen Mädchen und Frauen offen; sie mussten nicht in den Konvent eintreten bzw. ein Gelübde ablegen. Stattdessen war ihnen hier ein religiöses Leben in standesgemäßem Rahmen möglich, das Kloster diente der Erziehung und sorgte für das Gebetsgedenken (memoria) für verstorbene Familienmitglieder. Nach der Säkularisation 1803 wurde der Konvent aufgelöst, und der Besitz ging an den Staat über. Ludwig I. genehmigte 1836 die Wiederherstellung des Klosters, die Neueröffnung fand im März 1838 statt. In den Folgejahren war es neben der eigentlichen Klostertätigkeit unter anderem Mädchenpensionat und Schule, seit 1983 ist es ein Seminarhaus für Erwachsenenbildung.

Die Torhalle ist ein zweigeschossiges, rechteckiges Bauwerk nördlich der Hauptkirche. Im Erdgeschoss befinden sich drei Tonnengewölbe, die untereinander mit Bogenöffnungen verbunden sind sowie im Ostteil die kaum erforschte Nikolauskapelle. Im Obergeschoss liegt die Michaelskapelle, zu der ich gleich komme. Die Torhalle wurde vor den Grabungen von Vladimir Milojčić 1961–64 auf romanisch datiert; Milojčić fand allerdings zwischen Kirche und Torhalle Scherben und Fundamente und konstruierte eine Einheit von Klosterkirche, Torhalle und dazwischenliegenden Gebäuden (was durchaus diskussionswürdig ist, aber das erspare ich euch an dieser Stelle mal). Er datierte die Torhalle auf spätkarolingisch, also Ende 9. Jahrhundert. 1971 ließ er eine Radiokarbondatierung (C14-Datierung) eines Kantholzes von der Nordseite des Torbaus anfertigen, die das Holzstück auf um 880 plusminus 50 Jahre datierte. Diese frühe Datierung wurde von Großteilen der Wissenschaft angezweifelt, bis Hermann Dannheimer (ehemaliger Direktor der Prähistorischen Staatssammlung in München, Forschungsschwerpunkt seiner Veröffentlichungen ist die Archäologie des Mittelalters) in den 1980er Jahren weitere Grabungen durchführte. Er fand im ersten Bodenbelag der Torhalle einen Holzspan, der 2002 mit Radiocarbon-Messung auf 665–729 datiert wurde, was für ihn die frühe Datierung der Torhalle rechtfertigt. Vor allem Friedrich Oswald widersprach und wies auf die sehr geringe Größe der Insel hin: Baumaterial wurde so gut wie immer mehrfach verwendet, weil es zu aufwendig gewesen wäre, ständig neues heranzuschaffen. Der Holzspan könnte durchaus vorher schon mal verbaut worden sein, sein Vorkommen in der Torhalle sei rein zufällig.

tl;dr: Wir haben keine Ahnung, von wann genau die Torhalle ist.

Enter the Erzengel.

erzengel

Milojčić legte bei seiner Arbeit in den 1960er Jahren Fresken in der Michaelskapelle frei; sie zeigen Erzengel mit Stäben und der Erdscheibe. Ungewöhnlich ist an ihnen, dass sie nicht farbig ausgemalt sind, sondern offensichtlich nur als rote Umrisse gefertigt wurden, was wir aus der karolingischen Zeit nur als Vorzeichnung kennen, nicht aber als fertiges Kunstwerk. Außerdem erinnern sie eher an byzantinische denn an karolingische Bildwerke, ihre nächsten stilistischen Verwandten finden wir eher in ottonischer Zeit. Aber: Sie befinden sich auf der ersten Putzschicht der Torhalle, das heißt, auch sie könnten Auskunft über die Entstehung des Bauwerks geben – wenn wir denn mal wüssten, von wann sie sind. Hans Sedlmayr datierte die Engel trotz eingestandener mangelnder Vergleichsmöglichkeit auf um 860, die Große bayerische Kunstgeschichte von 1963 sinnierte locker was von „780–820“, Otto Demus sagte in Romanische Wandmalereien von 1968 „versuchweise erste Hälfte 11. Jahrhundert“, und Matthias Exner datierte sie 2003 auf „nicht vor dem ausgehenden 10. oder frühen 11. Jahrhundert“.

tl;dr: Wir haben immer noch keine Ahnung, von wann genau die Torhalle ist.

Mir war das in dem Moment egal, denn ich vertiefte mich in die Zeichnungen, bewunderte den klaren, bewussten Schwung der Gewänder, die kraftvolle Darstellung, die mir hier nach 1000 Jahren noch entgegenleuchtete und fand alles ganz großartig.

Nach der Torhalle marschierten wir auf meinen zweiten Liebling der Insel zu, das Kirchenportal.

portal

Auch hier kabbelt sich die Wissenschaft noch, von wann genau denn welches Bauteil ist. Die Kirche selbst steht auf tassilonischen Grundmauern, aber von wann das Portal ist, ist noch ungeklärt. Gehörte es womöglich schon zum Gründungsbau? Dann wäre es das älteste Kirchenportal, das wir kennen. Der Streit geht übrigens nur um das Tympanon und das erste Portal; das Trichterportal ist später davorgesetzt worden, genau wie die gotischen Bögen in der Vorhalle, die das Portal netterweise etwas vor der Witterung schützt und aus den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts stammt.

Das Tympanon zeigt einen sehr vereinfachten Lebensbaum mit Fruchtdolden. Die räderartig wirkenden Gebilde kann ich mir nicht erklären, und ich habe auch in der Literatur keine Erläuterung gefunden. Für mich sieht es aus wie Hände, die durch Radspeichen greifen. Der Lebensbaum ist eine alte Darstellung, was für Dannheimer Beleg genug ist, um das Tympanon auf Ende des 8. Jahrhunderts zu datieren. Friedrich Oswald weist darauf hin, dass diese architektonische Gestaltung in der von Dannheimer vorgeschlagenen Zeit keinerlei Entsprechung in anderen Bauwerken habe; gestaltete Türstürze und Tympana treffen wir erst im Hildesheimer Dom von 872 (also 100 Jahre später) oder in St. Genis-des-Fontaines in den Pyrenäen, dessen Türsturz laut Inschrift auf 1019/1020 datiert ist.

Ich habe keine Ahnung, ich stand da nur und guckte uraltes Zeug an, während diverse Besucher achtlos an mir und dem Tympanon vorbeigingen, um sich die olle Barockkirche anzugucken. Da waren sie in guter Gesellschaft, denn so ging es auch meiner Begleitung.

tympanon

„Und wann kommt jetzt endlich das Ding, von dem du so schwärmst?“

„DU STEHST GENAU DAVOR EINSELF!“

„WAS, DIESER STEIN, AUF DEM MAN NIX ERKENNT?“

„…“

Mpf. Der Mann hat ja recht. Zuerst habe ich mich natürlich aufgeplustert und was von Kulturbanause gejammert, aber dann ist mir eingefallen, dass ich vor zwei Jahren noch genauso geredet habe. Die Gotik in ihrer schieren Mächtigkeit erschließt sich, glaube ich, auch jedem, der kein Proseminar über sie belegt hatte. Die Romanik hingegen mit ihrer schlichten, fast naiven Gestaltung ist eher so joah. Gut. Whatever. Zumindest war sie das. Jetzt nicht mehr. Inzwischen kann ich sie einordnen, weiß so ein bisschen was darüber, was vorher und nachher kam und bin seitdem absolut fasziniert von genau dieser einfachen Gestaltung.

Ich glaube, Dinge zu schmücken oder sie mit Bedeutung zu versehen, ist eine sehr menschliche Eigenart, siehe Höhlenmalerei, antiker Schmuck oder ägyptische Grabbeigaben. Nach dem Niedergang des römischen Reiches und dem christlichen Bilderverbot kam der Menschheit die Fähigkeit abhanden, realitätsgetreu oder idealisiert Dinge abzubilden, die sie bereits besaß, wie wir von diversen antiken Statuen und Triumphbögen wissen. Auf den romanischen Baustellen gab es aber durchaus Handwerker aus den Reichsgebieten, die wir heute als Griechenland oder Italien bezeichnen, und sie kannten Bauwerke wie die Akropolis oder das Kolosseum, sie wussten, dass die Menschheit schon mal Derartiges in die Landschaft gestellt hatte. Die Romanik ist der erste Versuch, sich dieser klassischen Schönheit wieder zu nähern. Man kann quasi der Menschheit in unseren Breitengeraden dabei zugucken, wie sie sich Fähigkeiten wiedererkämpft, die sie schon mal hatte. Mich rührt das ungemein, und deswegen stand ich recht lange vor diesem Stein, auf dem man nichts erkennt und den Engeln, deren Kopflosigkeit vom Begleiter scherzhaft bemängelt wurde.

chiemsee

Irgendwann schob mich der Begleiter weiter in Richtung Inselrundgang, wir kauften im Klosterladen Schnaps (was sonst), aßen ein paar Sandwiches mit Blick aufs Wasser, ich stapfte kurz in den See und ärgerte mich, keinen Badeanzug mitgebracht zu haben, und dann schipperten wir aus der TOTAL SCHÖNEN Romanik in den VÖLLIG ÜBERZOGENEN Barock.

herrenchiemsee

Auf Herrenchiemsee darf man nicht einfach so ins Schloss, sondern muss sich eine Karte kaufen, die einen zu einer ganz bestimmten Uhrzeit in eine Gruppe steckt, die dann durch zehn (?) Räume des Schlosses geführt wird. Die Führung war gut, aber für mich mit ihren 30 Minuten natürlich viel zu kurz. Ich wäre gerne länger in jedem Raum geblieben, vor allem in dem mit dem Kronleuchter aus Porzellan, der mir wider Erwarten doch sehr gefallen hat, aber das ging leider nicht. Fotografieren und Filmen ging übrigens auch nicht. Dem Begleiter gefiel das Schloss deutlich besser als die Kirche, während ich mich nach der Schlichtheit der Fraueninsel zurücksehnte. Trotzdem ist Herrenchiemsee natürlich einen Besuch wert – alleine wegen der 5.000 Kerzen in den weißnichtmehrwievielen Kronleuchtern –, aber ich habe mich sehr zugekleistert gefühlt. Barock halt. Bzw. Barockimitation.

Eigentlich wollten wir auf der Rückfahrt irgendwo einkehren und fürstlich tafeln, aber uneigentlich waren wir verschwitzt und müde und hatten noch einen Berg an Salat in der Kühlbox. Daher endete der lange Tag in einem unserer Lieblingsbiergärten in München.

biergarten

Ich habe Sonnenbrand auf den Füßen und im Nacken und den ganzen Sonntag über war ich viel zu müde, aber das war’s wert. Chiemsee rockt. Und Frauenchiemsee rules. Ich komme wieder. Mit Badeanzug und einer hoffentlich großartig benoteten Hausarbeit.

Über die Fotografie

„[W]as die PHOTOGRAPHIE endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden: sie wiederholt mechanisch, was sich existenziell nie mehr wird wiederholen können. In ihr weist das Ereignis niemals über sich selbst hinaus auf etwas anderes: sie führt immer wieder den Korpus, dessen ich bedarf, auf den Körper zurück, den ich sehe; sie ist das absolute BESONDERE, die unbeschränkte, blinde und gleichsam unbedarfte KONTINGENZ, sie ist das BESTIMMTE (eine bestimmte Photographie, nicht die Photographie), kurz, die TYCHE, der ZUFALL, das ZUSAMMENTREFFEN, das WIRKLICHE in seinem unerschöpflichen Ausdruck. Um die Wirklichkeit zu bezeichnen, spricht der Buddhismus von sunya, dem Leeren, oder besser noch von tathata, dem so und nicht anders Beschaffenen, dem bestimmten Einen; tat bedeutet im Sanskrit dieses und erinnert an die Geste des kleinen Kindes, das mit dem Finger auf etwas weist und sagt: TA, DA, DAS DA! Eine Photographie ist immer die Verlängerung dieser Geste; sie sagt: das da, genau das, dieses eine ist’s! und sonst nichts; sie kann nicht in den philosophischen Diskurs überführt werden, sie ist über und über mit der Kontingenz beladen, deren transparante und leichte Hülle sie ist. Zeige deine Photographien einem anderen; er wird sogleich die seinen hervorholen und sagen: „Sieh, hier, das ist mein Bruder; das da, das bin ich als Kind“ und so weiter; die PHOTOGRAPHIE ist immer nur ein Wechselgesang von Rufen wie „Seht mal! Schau! Hier ist’s!“; sie deutet mit dem Finger auf ein bestimmtes Gegenüber und ist an diese reine Hinweis-Sprache gebunden. Daher kann man zwar sehr wohl von einer Photographie sprechen, doch, wie mir scheint, mitnichten von der PHOTOGRAPHIE.“

Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie,
14. Aufl., Frankfurt/Main 2012, S. 12/13.

„Und, Anke, wie war so dein viertes Semester?“

(Erstes, zweites, drittes Semester)

Ich hatte mir vom Studium erhofft, dass ich nach sechs Semestern mit einem Diplom in der Hand da stehe und sagen kann: „Jetzt weiß ich alles.“ Inzwischen habe ich gelernt, dass ich nichts weiß, und je länger ich an der Uni bin, desto stärker wird dieses Gefühl. In jedem neuen Kurs habe ich plötzlich Dinge, Orte, Zeitläufte, Kunstwerke, Personen und ihre Aktionen vor der Nase, von denen ich noch nie gehört hatte, und meine Allgemeinbildung, die ich immer für eine recht gute gehalten habe, winkt hilflos aus der Ecke und zuckt die Schultern. Je mehr ich lerne, desto mehr merke ich, was ich noch alles lernen muss. Aber: Was ich im ersten Moment als einschüchternd empfand, entpuppt sich langsam als eine wunderschöne Lebensaufgabe. Ich weiß nichts – aber ich kann noch so viel lernen. Allerdings nicht in sechs Semestern.

Ich habe gelernt, dass ich manchmal etwas vorschnell in meinen nöligen Urteilen bin. (Was mich leider nicht davon abhält, sie trotzdem zu fällen.) Ich quengelte am Anfang des Semesters über den Dozenten, bei dem ich schon mal eine Vorlesung hatte, die ich als seeehr zääääh empfunden hatte und schob das auf seine Sprechweise. Die hat sich nicht geändert – aber mein Wissensstand. Inzwischen weiß ich nämlich, dass der Herr einfach sehr genau auf jedes Kunstwerk eingeht, jeden Schwung einer Initiale beschreibt, jede Fingerhaltung einer Majestas Domini im Vergleich zu einer anderen, jede Dekoration, die sich am Rand einer alten Buchseite befindet, jeden Ziegel, jedes Kapitell, jedes alles. Was ich im ersten Semester als Neu-Studi als zäh empfunden habe, empfinde ich jetzt als hingebungsvoll und exakt und es ergänzt mein bisheriges Wissen um eine Ebene, die es bisher nicht hatte und im ersten Semester nicht haben konnte. Ich habe innerlich reuig Abbitte geleistet und in der Evaluation eine Lobeshymne verfasst – auch um mein Gemecker aus dem ersten Semester wieder gutzumachen.

Ich habe gelernt, auf Twitter vielleicht mal die Klappe zu halten. Nach meiner spannenden Geschichtsübung zu Ludwig dem Bayern tönte ich rum, dass ich mit meinem bisherigen Wissen locker Leute eine Stunde rund um den Marienplatz führen könne – was drei Damen beim Wort genommen haben. Und so musste ich mir an einem ansonsten freien Wochenende eine kleine Tour zusammenbasteln und zeigte dann Frau Kaltmamsell und Frau Donnerhallen „mein“ München (Frau Mellcolm war leider erkrankt). Wir begannen am Isartor, wo ich über die zweite Stadtmauer Münchens sprechen konnte, zu der das Tor gehört, ich erwähnte die Fresken aus dem 19. Jahrhundert, die kunsthistorisch leider nix hergeben, aber – wenn Sie vorbeikommen, achten Sie mal drauf: Am linken Rand sieht man die MünchnerInnen noch hektisch das Stadttor schmücken, damit Ludwig als Sieger der Schlacht von Mühldorf einreiten kann. Wo wir schon im 19. Jahrhundert waren, konnte ich generell über Ludwig I. sprechen und seine Architekten von Klenze und von Gärtner, die für meine Lieblingsplätze in München verantwortlich sind.

Dann gingen wir zum Alten Rathaus, wo neben Ludwig noch Heinrich der Löwe als Statue zu sehen ist, bei dem ich auf meiner niedersächsischen Herkunft rumreiten konnte und den Damen die Welfen näherbrachte. (Und die Welfenspeise.) Am Alten Hof sprach ich über das Reisekönigtum und dass der Alte Hof eine der ersten festen Residenzen war, auf dem Marienplatz erwähnte ich, dass Ludwig dafür gesorgt hatte, dass der Platz heute noch so weiträumig ist wie damals vor 700 Jahren, denn er verfügte, dass er nicht bebaut werden solle, woran sich lustigerweise alle bis heute halten. Außerdem konnte ich über die Stadtfarben Münchens sprechen (schwarz und gold), die nur deswegen so aussehen, weil Ludwig Rom ärgern wollte, dessen Stadtfarben ebenfalls schwarz und gold waren.

Zum Abschluss wollten wir in die Frauenkirche, in der Ludwig bestattet liegt, aber ich Hirn hatte nicht daran gedacht, dass Kirchen irgendwann ihre Tore schließen. So standen wir auf den Stufen vor dem Eingang und ich zeigte mein liebstes Kunstwerk in der Kirche, den Schmerzensmann links vom Altar, stattdessen auf meinem iPhone rum, erklärte den Unterschied zwischen Schmerzensmännern und Ecce-Homo-Darstellungen und erläuterte Hallen– und Saalkirchen, Zentralbauten und Basiliken. Mir hat die Tour sehr viel Spaß gemacht und ich hoffe, die Damen hatten auch was davon. Und meine Dozentin, der ich davon erzählte, amüsierte sich ebenfalls.

Die Stadtführung war leider fast meine einzige extrakurrikulare Aktivität. In diesem Semester habe ich nur einen Vortrag besucht und nur einen einzigen Tag zum Spaß in der Kugi-Bib gesessen. Ansonsten war ich stets mit Zeug beschäftigt, für das es Noten bzw. ECTS-Punkte gab. Ich schiebe es ein wenig auf die WM und das Filmfest, aber das hat mir mittendrin des Öfteren gefehlt, dieses ziellose Rumblättern in Regalmetern oder das Kennenlernen von Sichtweisen außerhalb meines Stundenplans. Ein Vorsatz fürs Wintersemester wäre natürlich, das wieder in den Zeitplan einzubauen, aber das Semester wird leider noch arbeitsintensiver als das vergangene, denn es ist quasi mein letztes Semester, in dem ich noch Kurse und Vorlesungen besuche – im sechsten sollte eigentlich nur noch die Bachelorarbeit anstehen. Mal sehen, ob ich das schaffe, denn statt fünf Semestern Geschichte habe ich ja nur drei, in die ich die Pflichtkurse von fünf quetschen muss. Wobei die Kurse nicht das Problem sind, sondern die Hausarbeiten, für die ich in den Winterferien lausige acht Wochen Zeit haben werde. Und vier Hausarbeiten zu jeweils 30.000 Zeichen in acht Wochen – das wird selbst für mich Schnellschreiberin sehr eng.

Ich habe gelernt, dass in der Heraldik das Winterfell eines sibirischen Eichhörnchens eine Rolle spielt, dass es in Bayern diverse Klöster gibt, die noch viel zu wenig erforscht sind, dass die Fotografie nicht meine liebste Kunstgattung ist oder sein wird (immerhin eine, die ich von der Liste streichen kann), dass ich, wenn ich mich etwas anstrenge, mittelhochdeutsche Urkunden lesen und verstehen kann und dass überhaupt das Mittelalter eine sehr spannende Zeit ist. So spannend, dass ich dringend mehr über sie wissen will – und voraussichtlich auch meine Bachelorarbeit über sie schreiben möchte.

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Ich habe gelernt, meine Prüfungsordnung besser zu lesen. Nach vier Semestern habe ich es zum ersten Mal geschafft, einen falschen Kurs zu belegen. Okay, ganz falsch war er nicht, aber er bringt mir keine Punkte. So habe ich mich viele Dienstage lang um 6 Uhr aus dem Bett gequält, um um 8 Uhr (s. t.) am Gasteig zu sitzen und italienische Vokabeln und Grammatik zu pauken. Italienisch ist eine sehr schöne Sprache, aber jetzt, wo ich weiß, dass ich sie nicht lernen muss, werde ich das auch nicht weiter tun. Scusi. Aber danke dafür, dass ich meine Opernarien im Gesangsunterricht ein winziges bisschen besser verstehen und aussprechen kann.

Ich habe gelernt, dass ich im wissenschaftlichen Arbeiten inzwischen einen ähnlichen Anspruch an mich habe wie in meinem Brotberuf (der hoffentlich nicht mehr allzulange mein Brotberuf ist). Dieser Anspruch hat dafür gesorgt, dass ich in allen Referaten in diesem Semester ausgezeichnete Noten bekommen habe und ich hoffe, dass das dieses Mal auch endlich bei den Hausarbeiten klappt, denn da war ich bisher nie besser als 1,3. (Knurr.)

Das Blöde ist, dass ich diesen Anspruch inzwischen auch an meine KommilitonInnen habe. Das heißt, mich nerven schlecht vorbereitete Referate mehr, als sie sollten. Mich nervt es, Handouts mit Rechtschreibfehlern zu bekommen oder Handouts über fünf Seiten (braucht kein Mensch) oder Handouts mit einer einzigen Literaturangabe (geht’s noch?) oder überhaupt kein Handout. Es sollte mir egal sein, ich kriege ja keine Note auf die Referate anderer Leute, aber da sie ein wichtiger Bestandteil der Kurse sind, würde ich mir wünschen, dass sie einen gewissen Standard hätten. Klar, das lernen wir alle noch, dafür sitzen wir ja hier, aber nach vier Semestern hoffe ich allmählich auf mehr.

Und ja, ich weiß, das hört sich scheiße-großkotzig an. Das kann und will ich nicht ändern.

Ich habe ein Word-Dokument angelegt, in dem ich Ideen für die Bachelorarbeit sammele.

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(Und eine Autokorrektur bei Tweets. #lasttweeTTTT)

Ich habe zum ersten Mal in einer Kunstgalerie gestanden und mit meinen Kommilitoninnen darüber gestritten, ob jetzt Cy Twombly oder Silvia Bächli „besser“ ist. Ich habe Beuys verteidigt, ich habe Barnett Newmann als Referenz herangezogen, ohne darüber nachzudenken, ich habe über die Romantik und Caspar David Friedrich diskutiert, ich habe in Ausstellungen im Kopf Verbindungen hergestellt, ohne es darauf anzulegen, ich sehe anders, ich spreche anders über Kunst, ich gucke sie anders an als vor vier Semestern. Ich hatte zum ersten Mal im meinem Studium das Gefühl, fundiert über Kunst sprechen zu können, und zwar in der Galerie zwischen lauter Bächlis. Das war ein sehr großartiger Moment und ich hoffe, er kommt noch mal wieder.

Ich habe gelernt, dass ich am liebsten irgendwo alleine inmitten eines Bergs von Büchern und Aufsätzen sitze und aus diesem Berg ein kleines, überschaubares Häufchen mache, das ich dann meinen KommilitonInnen und DozentInnen präsentiere. Mir machen Referate sehr viel Spaß und ich freue mich das ganze Semester über auf die Hausarbeiten, weil ich da endlich schreiben kann. Ja, natürlich mag ich auch die Seminare und Vorlesungen, aber so richtig, richtig gerne sitze ich eben zwischen Büchern und lese und schreibe. Gibt es dafür irgendeine Berufsbezeichnung, die ich anstreben kann?

In diesem Zusammenhang: Ich fühle mich beim Studieren nicht mehr wie 20, aber beim Nachdenken darüber, was nach dem Studium passiert. Na super. Ich dachte, das hätte ich alles längst hinter mir. Ganz toll gemacht, Gröner.

Und noch mal in diesem Zusammenhang: Wenn ich nicht innerhalb des nächsten Jahres eine weitere Sinnkrise kriege – also so eine wie die von vor drei Jahren, die dafür gesorgt hat, dass ich gerade den Bachelor mache –, dann mache ich ab WS 2015 den Master. Das macht alles viel zu Spaß, um jetzt schon damit aufzuhören.

Zen

Diese Woche war die letzte Vorlesungswoche im Sommersemester. Am Mittwoch schrieb ich eine Klausur in meinem Mittelalter-Basiskurs in Geschichte und durfte befriedigt feststellen, dass ich alle Einzelteile einer Königsurkunde runterbeten kann – bis zu den tironischen Noten. Gestern standen die beiden restlichen Klausuren an, einmal in der Vorlesung über die Geschichte der Porträtfotografie und dann eine über karolingische Kunst. Vorher hatte ich noch die letzte Sitzung im Seminar zur Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts, und zum Abschluss des Tages hatte unser Dozent des Kurses über bayerische Klöster seit der Karolingerzeit uns angeboten, das Semester in einer Kirche zu beenden anstatt im Unterrichtsraum, was wir natürlich gerne wahrgenommen haben.

Das Seminar zur Mediengeschichte hat sehr viel Spaß gemacht, aber gestern hörte ich leider zwei eher nervige Referate, was mich etwas verstimmte, denn die Themen wären toll gewesen – wie alle Themen, weswegen das Seminar auch so viel Spaß gemacht hat (für mein Referat über die Gartenlaube hatte ich eine 1,0 bekommen – die gleiche Note, die ich auch in meinen Referaten zu Frauenwörth oder Grimald von St. Gallen bekommen habe. Stolzer Smiley). Gestern ging es um koloniale Presse, genauer gesagt, die englische in Indien und Afrika, und hier vor allem um Flora Shaw. Ich konnte beiden Referentinnen nur sehr schwer zuhören, weil sie sich, für meine Begriffe, ewig an Zeug aufhielten, das kaum was mit dem Thema zu tun hatte oder es viel zu lang vorbereitete. Vielleicht war ich auch im Kopf schon bei den beiden Klausuren, für die ich weitaus weniger gelernt hatte als für alle bisherigen Klausuren. Nicht weil ich keine Lust hatte (oder die WM und das Filmfest dazwischen kamen), sondern weil ich kaum was lernen musste. Vieles, was ich auf den Folien fand und wie üblich auf Vokabelkarten übertrug, hatte ich mir sowieso gemerkt oder wusste es beim ersten Lerndurchgang. Wo ich im letzten Semester (in dem ich allerdings fünf Klausuren hatte) bis zur letzten Minute panisch gelernt hatte, konnte ich Mittwoch abend äußerst entspannt ein Fußballspiel gucken, weil ich mich sehr gut vorbereitet fühlte. Trotzdem war ich natürlich hibbelig, wie immer vor Klausuren, und vielleicht hatten die Damen vorne es daher schwerer als sonst, mich zu erreichen.

Nach zwei Stunden wechselte ich vom Historischen Seminar ins Hauptgebäude der LMU, stellte mich in die Schlange der Studis bei den Hiwis, die Studienausweise mit ihrer langen Liste verglichen, denn in der Porträtklausur saßen gefühlt 100 Leute. Ich war relativ früh da, damit ich mir einen Platz ganz außen in den Stuhlreihen sichern konnte, denn nach drei Semestern weiß ich inzwischen, dass ich fast immer als erste fertig bin. Und anstatt ewig auf die Mädels neben mir zu warten, kann ich so leise und ohne jemanden zu stören nach zehn Minuten abgeben und mich rausschleichen.

So war es auch dieses Mal: Ich musste bei keiner Frage wirklich überlegen, alle Namen fielen mir ein, alle Daten waren da, alle offenen Fragen schrieben sich wie von selbst – und da war der erste Zen-Moment des Tages. Das Gefühl, etwas zu wissen bzw. ziemlich viel zu wissen, hatte ich während einer Klausur hier das erste Mal. Es fühlte sich anders an als die Einzelteile von Königsurkunden zu kennen, denn die waren in diesem Semester ganz neu für mich, die hatte ich mir mühevoll in den Kopf geklopft. Aber zum Beispiel Literatur von Hans Belting, Walter Benjamin und Roland Barthes hatte ich schon früher kennengelernt, weswegen ich sie nicht mehr großartig lernen musste. Ich hatte mich schon mit einigen der KünstlerInnen befasst, die in diesem Semester drankamen, und alle, die ich neu lernte, klickten einfach so in die Lücken zwischen denen, die ich schon kannte, weswegen ich mich dafür auch nicht mehr großartig anstrengen musste. Und so saß ich im Riesenhörsaal, schrieb, kreuzte an, dachte kaum darüber nach, hielt nur einmal kurz inne, um diesen Zen-Moment zu bemerken, gab ab und ging raus.

Jogurt essen, aus dem Fenster gucken, noch mal die Vokabelkarten mit der karolingischen Kunst durchgehen, eBook auf dem iPad lesen, das überhaupt nichts mit Kunstgeschichte zu tun hat, Wasser trinken, noch mal die Vokabelkarten durchgehen, und dann war die Zeit rum, um zur nächsten Klausur zu gehen. Über Quantenphysik. (Sorry. Ich wollte nur gucken, ob ihr noch da seid.)

Eben waren wir 100, jetzt waren wir neun Studis, die sich im Hörsaal verliefen. Ausweise kontrollieren, Klausurbögen bekommen, umdrehen, Name und Immatrikulationsnummer aufschreiben, „BA Kunstgeschichte HF“ unterstreichen, Fragen durchlesen – und bei der letzten sehr stocken. Was ist der Einhardsbogen und woher kennen wir ihn? Gute Frage. Was zum Teufel ist der Einhardsbogen? Mein Gehirn wühlte im Geiste mein Notizbuch der letzten Sitzung durch, in der wir über diesen Bogen gesprochen hatten (immerhin das wusste ich noch), aber sonst konnte mein Hirn nichts finden. Erstmal die anderen Fragen, bei denen ich auch merkte, dass ich dieses Mal anscheinend das Falsche gelernt hatte. Ich hätte super erklären können, was die Admonitio generalis war oder was so toll an der Lorscher Torhalle ist oder worin sich die Hofschule von der Palastschule unterscheidet (und natürlich kam Einhard dran), aber ein, zwei Fragen ließen mich sehr ratlos zurück – woher kommt der Name des Godescalc-Evangelistars? Und was ist jetzt dieser verdammte Einhardsbogen? Ich konnte mich nicht mal daran erinnern, ob er Teil eines Gebäudes oder eines Kunstwerks oder einer Buchmalerei war. Kompletter Blackout. So viel zum Zen-Moment, in dem alles klickt und klackt und ich Susi Superschlau bin.

Aber anstatt wie sonst mit mir und meinen dusseligen Ansprüchen zu hadern, ließ ich die Felder weiß, die ich nicht wusste und gab ebenfalls nach wenigen Minuten ab – im Bewusstsein bestanden zu haben, wenn es auch kaum für eine 1 reichen wird. Das wurmte mich zwar, aber ich war kurzfristig wieder im Zen – das Semester ist rum, das war’s mit Klausuren, die außerdem in Kunstgeschichte nicht benotet sind, im Transcript of Records steht nur „bestanden“, es ist völlig egal, ob ich alles weiß … also theoretisch, ich will natürlich alles wissen, aber anscheinend weiß ich’s eben nicht, und vielleicht komme ich langsam in das Alter, in dem ich das hinnehmen kann.

Nein, komme ich nicht, denn natürlich war der Zen-Moment nur kurz. Ich habe noch direkt vor dem Hörsaal gegoogelt, was der Einhardsbogen ist und ich werde es nie wieder vergessen, genau wie ich das Wort praecipitare nie wieder vergessen habe, das mir in der zehnten Klasse in einer Lateinklausur nicht mehr einfiel.

Wie schon nach der ersten Klausur hatte ich nun anderthalb Stunden Zeit bis zum nächsten Termin. Ich schnappte mir mein Fahrrad und radelte entspannt meine geliebte Ludwigstraße entlang, stellte mein Rad am Marienhof ab und schlenderte am Dom vorbei zu St. Michael, wo wir uns nachher treffen wollten. Ich huschte einmal quer durch die Kirche und guckte, damit ich nachher nicht alles zum ersten Mal sah, entdeckte Engel mit den Marterwerkzeugen, erkannte zwei Evangelisten (die anderen zwei sind wirklich nicht da, was auch unseren Dozenten latent verwirrte) und immerhin zwei Jünger (Petrus (Schlüssel) und Andreas (Kreuz), alle anderen habe ich mir immer noch nicht gemerkt), bewunderte den Reliquienschrein und guckte mir in Ruhe die Fassade an. Immer noch eine Stunde Zeit. Ein kurzer Gedanke an Kaffee, aber da erinnerte ich mich, an einer Augustiner Gaststätte vorbeigekommen zu sein, und genau dahin ging ich dann auch. Ich sah anscheinend aus wie ein Touristin (Hoodie, Sneakers, Rucksack), jedenfalls sprach mich der Mensch am Empfang auf englisch an, was ich mit „Servus“ beantwortete und um einen Platz bat. Ich wurde platziert, bestellte ein Bier, wie sich’s gehört und las weiter im eBook.

Die Klausuren waren durch, das Buch leidlich spannend, ich roch die gute bayerische Küche um mich herum, hörte den vielen Sprachen zu, genoss mein Bier – und war wieder im Zen. Wieder ein Semester rum (bis auf die Hausarbeiten, aber die sind ja immer mein Sahnehäubchen, auf das ich mich von Anfang an freue), nur noch ein einziges Semester mit richtigen Kursen und dann kommt schon das sechste, in dem ich die Bachelorarbeit schreibe, nur noch wenige Monate, fast fertig, wie ist das denn passiert, wo ist die Zeit hin? Ich genoss es plötzlich sehr, alleine irgendwo zu sitzen, was ich in München sehr selten mache, wo ich höchstens alleine in Museen gehe, aber sonst bin ich fast immer in Gesellschaft. Jetzt nicht, jetzt trank ich ein Bier alleine, vor mir ein Buch, hinter mir die Arbeit, noch eine Kirche und ein paar kunsthistorische Überlegungen auf dem Programm, aber im Prinzip war ich gerade frei wie ein Vogel, und das war ein grandioses Gefühl.

Eine Touristin blieb neben meinem Tisch stehen und fotografierte die Speisekarte, was ich nur aus den Augenwinkeln registrierte, weil ich las und trank und mich ganz großartig fühlte. Sie sagte „Merci, madame“, und ohne zu überlegen, antwortete ich „de rien“ und blickte nicht mal auf. Sie lachte und sprach mich an, und erst in dem Moment fiel mir auf, dass ich französisch gesprochen hatte und musste gestehen: “That’s about all the French I know.” Sie lachte wieder und redete weiter, ich glaube, irgendwo war ein „au revoir“ drin, aber das mag ich mir eingebildet haben. Und jetzt wollte ich nicht mehr lesen oder trinken, jetzt wollte ich nur da sitzen und den Moment festhalten, in dem alles gut war, ich, allein, in einer Stadt, die mir sehr ans Herz gewachsen ist, mit so viel neuem Zeug im Kopf, so viel altem, das wieder hochkommt und noch so viel mehr, das da reinpasst. Das wollte ich festhalten. Und das habe ich dann gemacht.

Next Goal Wins

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Next Goal Wins (UK 2014, 93 min.)

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Die Fußball-Nationalmannschaft von Amerikanisch-Samoa hat seit ihrer FIFA-Mitgliedschaft 1994 noch nie ein offizielles Spiel gewinnen können. 2001 verloren sie ihr Qualifikationsspiel zur WM 2002 gegen Australien in der Rekordhöhe von 31:0. Jetzt ist es 2011 und die Quali zur WM 2014 in Brasilien steht an.

Next Goal Wins lief auf dem Filmfest München, und nach dem Film diskutieren die Regisseure und Produzenten Mike Brett und Steve Jamison informativ-unterhaltsam mit dem Publikum. Ein Satz von ihnen war: „Wie gehst du nach der Halbzeitpause wieder aufs Spielfeld, wenn du 16:0 zurückliegst?“ Das habe ich mich gleich zu Beginn des Films auch gefragt, denn dort bekam man sämtliche Tore zu sehen, in all ihrer Unerbittlichkeit. Torwart Nicky Salapu griff wieder und wieder hinter sich, und als Publikum war man schon nach zwei Minuten im Film weichgekocht und in die Jungs verliebt, die dort unten auf dem Platz so unterirdisch miesen Fußball spielten.

Aber das soll sich nun ändern. Der Verband der Insel fragt beim großen Bruder USA nach, ob sie einen Trainer erübrigen könnten, der sich um die Mannschaft kümmert, der große Bruder postet eine Stellenanzeige – und ein einziger Mann meldet sich: Thomas Rongen, ein holländischer Coach, der seit Jahren US-Teams betreut, darunter auch die amerikanische U20. Er hat eine strikte Vorstellung davon, wie ein Fußballtraining auszusehen hat. Das Problem ist nur: Die Spieler haben eher andere.

Was den Film so interessant macht, ist nicht unbedingt die Fußballgeschichte, sondern das Aufeinanderprallen zweier Welten – und damit meine ich nicht die Kultur. Die Wikipedia verrät mir, dass zwei Kulturen schon zur Insel gehören, also das, Zitat, „Nebeneinander von modernem amerikanischem Lebensstil und samoanischen Traditionen“. Was ich meine, ist die Professionalität eines Trainers, der auf den Amateurstatus eines winziges Verbandes trifft, in dem die meisten Spieler einen Ganztagesjob haben und nur nebenbei kicken können, aber trotzdem den Anspruch haben, sich mit anderen FIFA-Teams messen zu wollen.

Als die beiden Regisseure sich an den Verband wandten, um den Film drehen zu können, konnten sie nicht ahnen, was sie alles filmen würden. Sie wussten nicht, dass ein neuer Coach kommen würde und mit ihm eine ganz neue Dynamik. Sie kannten kaum Einzelspieler, sondern waren eher am Kollektiv interessiert. Eigentlich wollten sie sich nur selbst die Frage beantworten, die ich oben schon ähnlich wiedergegeben habe: Wie motiviert man sich, wenn man weiß, dass man immer verliert? Was sind das für Menschen, die schlicht nicht einsehen wollen, dass sie keine Chance haben?

Einige dieser Menschen lernen wir besser kennen, zum Beispiel den unglücklichen Torwart, der inzwischen in Seattle lebt, aber für die Quali wieder in die Heimat zurückfliegt. Einen Spieler, der sich bei der US-Armee verdingt, weil auf Amerikanisch-Samoa kaum Jobs zu finden sind und der auch wieder auf der Insel landet. Oder Jaiyah Saelua, auf die man sehr schnell aufmerksam wird, denn sie bewegt sich anders als die Mannschaftskameraden (“I run like a girl”). Sie ist ein Fa’afafine, ein drittes Geschlecht, das einen Mensch bezeichnet, der biologisch ein Mann ist, sich aber dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlt. Jaiyah studiert auf Hawaii und lebt dort als Frau; auf Amerikanisch-Samoa spielt sie aber mit den Männern Fußball. Das passiert alles sehr unaufgeregt und ohne dass es großartig thematisiert wird (und ohne, dass ihre Mannschaftskameraden Angst davor haben, von ihr unter der Dusche angegangen zu werden, was ja anscheinend eine große Angst hiesiger Spieler ist). Schließlich lernen wir auch noch den Coach besser kennen, der zunächst nur rumschreit und kurz davor ist abzureisen, aber nach nur drei Wochen lächelnd und mit geschlossenen Augen friedlich den Ozean genießt und mit seinen Spielern eine tränenreiche Geschichte teilt.

Zur angedrohten Abreise des Trainers hatten Brett und Jamison auch noch eine Geschichte zu erzählen. Die Situation ist im Trailer zu sehen, Coach und Verbandsfunktionär liefern sich ein Shouting Match, während alle Spieler dabei sind. Brett erzählte, dass sie sich untereinander mit Blicken verständigt hätten, schalten wir die Kameras aus, sollten wir hier dabei sein, ist das jetzt nicht zu intim, sollten wir vielleicht ganz gehen? Sie entschieden sich, den Ton laufen zu lassen, die Kameras aber abzudrehen und sich möglichst unsichtbar zu machen. Als die Männer damit fertig waren, sich anzuschreien, drehten sich beide zu den Regisseuren um und meinten unisono: “I hope you were filming this!”

Wer wissen will, ob Rongens Schreien und schließlich das Training Erfolg gehabt haben, kann sich diesen Artikel von 2011 aus der NY Times durchlesen. Oder den hier über Jaiyah, die erste transsexuelle Spielerin, die bei einer offziellen FIFA-WM-Qualifikation aufgelaufen ist (der Artikel spoilert allerdings auch das Spielergebnis). Oder ihr guckt euch den Film an, wenn ihr die Chance bekommt.

Ich mochte an ihm zwei Dinge besonders: die Freude am Spiel und die überall mitschwingende Spiritualität. Es scheint ganz normal zu sein, dass der Gouverneur des kleinen Nicht-Staates in der Kirche mit der Mannschaft betet und ihr alles Gute für das nächste Spiel wünscht. Die Kraft einer höheren Macht anzurufen, hat hier etwas Selbstverständliches, Gemeinschaftliches, es fehlt der Show-Charakter, den ich vielen Spielern unserer Breiten unterstelle, die direkt auf dem Spielfeld, vor Publikum und Kameras, noch mal offensiv beten, ganz egal ob zu einem muslimischen oder einem christlichen Gott. Mit dieser Einschätzung mag ich sehr daneben liegen, aber so fühlt es sich für mich an.

Der zweite Punkt, der mir so gefallen hat, gerade jetzt, während der WM-Zeit: das Erden dieses Sports. Das Runterkommen vom Big Business, von Sponsorenlogos überall – wobei es sehr niedlich war, die FIFA- und die Brasilien-2014-Fahne auf dem winzigen Acker wehen zu sehen, den Amerikanisch-Samoa als Fußballplatz bezeichnet –, von millionenschweren Spielern und Funktionären. Hier war Fußball ein Sport, der gemeinsam erlebt wird und der, ganz simpel, ein großartiges Hobby ist, das vom Alltag ablenkt.

Ich habe mich die ganzen 90 Minuten lang gefragt, wie Profi-Spieler den Film empfinden würden. Die Nationalmannschaft von Amerikanisch-Samoa erinnert manchmal an die Jungs (und Mädels), die nach der Schule zwei Colaflaschen aufstellen und sie als Tor bezeichnen, um dann ewig davor rumzubolzen. Weil sie es können und weil sie es wollen, und nicht, weil sie es müssen, weil es inzwischen ein Job ist, weil der Berater schon mit dem nächsten Vertrag wedelt, weil noch ein Fotoshooting für den Merchandisingkatalog ansteht und weil draußen die Autogrammjäger warten, die einen nicht unbedrängt zum arschteuren Sportwagen lassen. Auch diese Frage konnten die Regisseure beantworten: Ein Screening fand bei Athletico Bilbao statt (ich hoffe, ich habe mir den Verein richtig gemerkt), wo anscheinend aus Profis wieder Jungs mit leuchtenden Augen wurden, die sich daran erinnerten, dass Fußball zuallererst immer noch ein Spiel ist, auch wenn sie inzwischen damit anständig Geld verdienen.

Und mit genau diesem Gefühl kommt man aus Next Goal Wins raus: mal wieder alles auf Null drehen und gucken, was wirklich wichtig ist. Der Trailer sagt es so schön: „Every country dreams of winning the World Cup. Some just want to win a game.“ Was ein fürchterlich pathetischer Sportfilm hätte werden können, ist eine Werbung für Polynesien und seine Menschen geworden, für das Überdenken des eigenen Wegs und für die Hoffnung, dass man manchmal jemanden trifft, der Impulse zur eigenen Entwicklung geben kann – oder den man selbst in eine neue Richtung schickt. Next Goal Wins ist charmant, liebevoll, sehr lustig und ich habe im Kino zwei toughe Kerle neben mir gehabt, die, genau wie ich, des Öfteren verstohlen ins Taschentuch schneuzten. Große Empfehlung.

Clouds of Sils Maria

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Clouds of Sils Maria (D/F/SUI 2014, 123 min.)

DarstellerInnen: Juliette Binoche, Kristen Stewart, Chloë Grace Moretz, Lars Eidinger, Angela Winkler, Hanns Zischler
Kamera: Yorick Le Saux
Drehbuch und Regie: Olivier Assayas

In Clouds of Sils Maria spielt Juliette Binoche eine Schauspielerin, die ihre Karriere einer Rolle verdankt, die sie als 18-Jährige am Theater spielte – sie definierte die Rolle einer jungen Frau, die sich die Zuneigung einer älteren Frau zunutze macht. Ein Regisseur will dieses Stück jetzt erneut aufführen und bietet Binoche dieses Mal die Rolle der älteren Frau an. Sie überlegt, diskutiert mit ihrer jungen Assistentin (Kristen Stewart), sagt erst ab, dann zu, probt mit Stewart im Haus des Theaterautoren, mit dem sie befreundet war, der aber direkt zu Filmbeginn verstirbt, probt weiter, wandert durch die Schweizer Alpen, zweifelt, raucht, trinkt, und probt einfach weiter.

Klingt erstmal alles sehr unaufregend und hat mich doch zutiefst beeindruckt und begeistert. Das Stück im Stück ist natürlich eine prima Dialogvorlage – alles, was die junge Frau zu älteren im Stück sagt, sagt hier die Assistentin, die durchaus als Vertraute und Fast-Freundin präsentiert wird, zu Binoche, bei der nie ganz klar wird, welches Verhältnis sie gerne zur jüngeren Begleitung hätte. Umgekehrt gilt das auch, und das ist ein Grund, warum ich den Film so mochte. Es wird viel angedeutet, wortlos gezeigt, stehengelassen, es gibt keine Erklärbärsätze, kein Runterdummen des Stoffes. Man hört vielen schlauen Sätzen zu, die kaum jemand wirklich von sich geben würde, aber genau das verstärkt diese seltsam entrückte Stimmung, die in Sils Maria herrscht. Ich twitterte direkt nach dem Kino, dass mir der Film „wie ein kleines, aus der Zeit gefallenes Juwel“ vorgekommen ist.

Sils Maria verwebt viele Themen: Oberflächlich mag es um das Älterwerden gehen und der Auseinandersetzung, wer man mal war und wer man jetzt ist. Das wird auch bei den Proben angesprochen, als Binoche mit ihren Zeilen hadert – liest man einen Text anders, wenn man älter wird, wenn man sich ändert? Liest man Texte in der Rückschau anders? Ich musste an Bücher oder Lieder denken, die einem mit 20 wichtig waren und mit 40 plötzlich egal sind und umgekehrt: Dinge, die ich mit 20 belanglos fand, haben auf einmal eine Wichtigkeit oder einen Platz in meinem Leben, den sie damals nicht hatten. Was ich sehr spannend fand: wie sehr sich Binoches Figur an ihren alten Charakter klammert – so als ob ihr klar wird, dass sie diese Rolle und damit ihre Jugend (und ihre Karriere? die Macht der Jugend und dieser Karriere?) unwiderruflich verlieren wird. Auch darüber sprechen Binoche und Stewart: Die Erfahrung des Alters versus die Energie und Leidenschaft – und vielleicht Rücksichtlosigkeit und Kompromisslosigkeit – der Jugend. Der Film wirft einem ständig Stichworte hin und man kommt kaum hinterher damit, sie an der eigenen Biografie zu überprüfen.

Jedenfalls habe ich das gemacht. Vielleicht auch, weil ich hier zwei weibliche Figuren vor mit hatte, mit denen ich mich ganz simpel besser identifizieren kann als mit männlichen (obwohl das ständig von mir im Kino erwartet wird). Auch über das Thema Weiblichkeit kann man bei dem Film lang und breit nachdenken. Was mir aufgefallen ist: wie selten die beiden der Klischeeweiblichkeit entsprechen, die ich in 30 Jahren Konsum hauptsächlich amerikanischer Filme, Massenmedien und seit ein paar Jahren dem Internet verinnerlicht habe. Stewart trägt Jeans und Bandshirts, ihre Tattoos sind sichtbar, ihre Haare gerne strähnig und ungekämmt. Sie trägt derbe Schuhe, raucht und flucht und ist fast den ganzen Film damit beschäftigt, zu arbeiten. Sie organisiert Termine, regelt den Tag ihres Bosses, spielt Chauffeuse, Probenpartnerin, Freundin. Man erfährt sehr wenig Privates über sie – bis auf kleine Details. In einer Szene an einem Bergsee, an den die beiden Frauen nach einer Wanderung gelangen, ziehen sie sich aus und baden, wobei Stewart ihre Unterwäsche anbehält. Sie trägt einen schlichten, schwarzen BH und einen fast Boxershorts-artigen weißen Baumwollschlüpfer, über den ich ewig nachgedacht habe, weil er so gar nicht der Unterwäsche entsprach, die ich inzwischen an einem normschönen, jungen Körper erwarte.

Die zweite Szene: Stewart nimmt sich ein paar Stunden frei und trifft sich mit einem Fotografen, dem sie etwas nähergekommen ist – auch hier nur Andeutungen, kurze Momente des Zusammenstehens neben der Arbeit. Wir sehen, wie sie sich ins Auto setzt und losfährt, um ein paar Stunden später wieder in das Berghaus zurückzukehren, in dem Binoche und sie für das Stück leben und arbeiten. Sie ist müde, entkleidet sich nur halb, wie wir aus Binoches Perspektive sehen, die nach ihr schaut, wirft sich aufs Bett und trägt dabei einen schwarzen String. Ich habe keine Ahnung, ob das eine zufällige Klamottenwahl des Kostümdepartments war, aber dafür waren mir beide Kleidungsstücke zu sehr sichtbar, und sie haben mir nebenbei gesagt, dass Stewart im Job die Kleidung trägt, die halt grad praktisch ist und in ihrem Leben neben der Arbeit anscheinend andere Dinge wichtig sind. Über die erfahren wir aber nichts, sie werden nur in dieser Autofahrt, einem nicht sichtbaren Treffen und einem kleinen Stück Stoff angedeutet.

Auch über Binoches Kleidung habe ich nachgedacht. Der Film beginnt mit einer Ehrung für den gestorbenen Dichter; Binoche hält eine Rede und wird dafür von Chanel eingekleidet. Es ist das einzige Mal im Film, dass wir sie in typisch weiblich konnotierter Kleidung sehen: lange Abendrobe mit tiefem Ausschnitt, hohe Absätze und ihre Haare sind schulterlang. Ich habe das an ihr, genau wie die Bandshirts an Stewart, als Arbeitskleidung gesehen. Sie repräsentiert eine gefeierte Schauspielerin und so sehen gefeierte Schauspielerinnen halt aus. Wie anders lässt es sich erklären, dass es bergeweise Websites gibt, die Fotos von ungeschminkten Schauspielerinnen in Jeans und Crocs veröffentlichen und damit anscheinend gut Kohle machen? Weil es ein Anblick ist, der anscheinend etwas besonderes ist (oder von diesen Quatschsites zu einem besonderen Anblick hochgejazzt wird).

Sobald die Probenarbeit beginnt, trägt Binoche ihre Haare kurz – ich musste an die übel beleumdeten, sogenannten praktischen Kurzhaarfrisuren für Frauen über 40 denken –, dazu entweder Jeans oder bei offiziellen Anlässen wie dem Treffen mit ihrer jungen Kollegin, die ihre alte Rolle übernimmt, eine Art geschlechtsloses Outfit aus Blazer und Bluse, das genauso gut ein Jackett und ein Hemd sein könnte. Ihr jüngeres Ich hingegen trägt ein Kleid und lange Haare, und auch ihre Figur hat eine Botschaft. Chloë Grace Moretz spielt eine junge Frau, die von TMZ gejagt und abfotografiert wird, in Interviews eher uninformierten Quatsch von sich gibt und bis jetzt nur in Superheldenfilmen mitgespielt hat: das Klischee-It-Girl, hübsch und dumm.

Aber auch sie hat eine andere Seite, die wir, wie die von Stewart, nur angedeutet bekommen, hier ein Satz, dort ein kaltes Lächeln. Die einzige Frau, die sich im Film vor uns entblößt und schutzlos macht wie ihre Figur im Theaterstück, ist Binoche. Ich mochte den Kontrast, den der Film zunächst aufbaut, indem er Alter mit Erfahrung und Sicherheit gleichsetzt und genau diese Prämisse dann Stück für Stück demontiert, indem die beiden jüngeren Frauen viel besser wissen, was sie können und wollen, während die ältere immer noch sucht und stolpert.

Moretz’ Figur hat aber noch eine weitere Funktion: Sie ist die Verbindung zwischen Kunst und Alltag, der, Zitat, „eigenen Subjektivität“ des Theaters, das auf eine Außenwelt trifft, die keine Zeit mehr haben will für Kunst und Reflektionen, wenn Klicks und Hektik mehr Umsatz machen. Und sie ist eine Figur, an der die Medien mehr Interesse haben als an dem Stück, in dem sie auftritt. Hier löst sich der Film gefühlt kurz von seiner Zeit- und Ortlosigkeit, denn natürlich musste ich an Stewart und ihre Twilight-Zeit denken, in der jede ihrer Privatangelegenheiten im Netz und in den Klatschspalten begleitet wurden und jeder andere Film, den sie zu der Zeit machte, völlig unterging. Der Film lässt den Regisseur des Theaterstücks sagen, dass er nicht glaube, dass diese Außenwelt dem Stück irgendwie zu nahe kommen könnte bzw. diese zwei Welten sich vermischen, aber ich ahne, dass das ein Satz ist, der wunschgedacht ist.

Ich habe den Film trotzdem – oder gerade wegen dieses Dialogs – als eine sehr bewusste Pause vom Alltag empfunden, von der Realität, die draußen vor dem Kino rumstresst, vor den Anforderungen, die täglich in mich gesetzt werden bzw. die ich mir selber setze. Hier durfte ich einfach zuschauen, zuhören, mitfühlen und vor allem mitdenken. Der Film lief beim Filmfest München, ist dort heute und morgen noch mal zu sehen und startet regulär am 18. Dezember in den deutschen Kinos, und ich bitte euch jetzt schon mal, den Termin im Kalender einzutragen. Meiner Meinung nach lohnt sich Sils Maria sehr. (Und guckt euch nicht den Trailer an, der verzerrt den Film völlig.)

Bechdel-Test bestanden?

Mit Bravour.

Mein Lieblingsgenöle nach so gut wie jedem Film ist der Satz: „Die und die Rolle hätten auch von einer Frau gespielt werden können, hätte keinen Unterschied gemacht.“ Bei diesem Film habe ich mich gefragt, ob die drei großen Frauenrollen auch von Männern hätten gespielt werden können. Ich denke ja, aber das wäre dann ein ganz anderer Film geworden. Es hätten auch drei Männer sein müssen, gemischtgeschlechtlich funktioniert der Film nicht, glaube ich. Aber, auch auf die Gefahr hin, jetzt selbst in die Klischeefalle zu stolpern, was der Film so wunderbar vermeidet: Ich glaube, Älterwerden ist für Männer kein so großes Thema wie es vielleicht für einige Frauen ist. Die biologische Komponente hockt uns mehr im Nacken als euch – jedenfalls den Frauen, die sich fortpflanzen möchten. Und dass grauhaarige Frauen mit Falten genauso sexy gefunden werden wie Männer, sehe ich leider auch nicht.