re:publica, Tag 1

Ich bin schon Dienstag angereist, weil ich keine Lust hatte, direkt mit dem Rollköfferchen vom Bahnhof zum Friedrichstadtpalat zu kommen. Und außerdem wollte ich endlich in dem Hochhaus wohnen, an dem ich in der Zeit, als ich in Berlin gebucht war, so ziemlich jede Mittagspause vorbeigelaufen bin. Das Ding steht in der Rochstraße 9, und ich gucke derzeit aus dem 16. Stock aufs Pergamonmuseum. Und höre der Baustelle zu. Und den S-Bahnen, die am Hackeschen Markt halten. Und dem Akkordeonisten, der gerne Klezmer spielt. Und dem Tram-Ersatzverkehr, der relativ dicht vor dem Haus hält. Aber für sowas hat man ja Ohropax im Reisegepäck.

Meine geliebte Tram fährt nicht und ich muss im schnöden Ersatzbus zum Friedrichstadtpalast, wo ich mir Armband und Namensschild zum Umhängen abhole („Mit rotem oder schwarzem Band?“ — „Schwarz.“ – Jens Scholz ca. 30 Minuten später: „Ich hab extra das rote genommen, weil alle das schwarze nehmen.“) und dann noch eine fies nach Gummi stinkende Konferenztasche eines Sponsors, in der immerhin unter anderem das Programm liegt, das letzten Donnerstag auch schon im Freitag war und das ich natürlich zuhause auf dem Küchentisch habe liegenlassen. Aber: Ich Fuchs habe meine iCal-Seiten ausgedruckt, damit ich nicht immer das ganze Programm durchscannen muss, sondern alle „meine“ Veranstaltungen übersehen kann.

Die erste ist gleich Peter Glaser, aber vorher laufe ich noch Caro in die Arme und eben Jens, Herrn ronsens, argh, Peter Noster und Frau Julie; im Saal sitzen wir bei Kiki, Nils, Matthias und da_niesl, wir schicken Herrn Svensson eine SMS, damit er sich umdreht und uns sieht, und ich komme schon nach fünf Minuten durcheinander, ob ich Leute mit Klarnamen, Blognick oder diesem neumodischen Twitternick anreden soll. Bei mir ist das ja netterweise ganz einfach, und deswegen fragt mich auch niemand, der auf mein Namensschild guckt, wie mein Blog heißt oder wer ich auf Twitter bin.

An Herrn Glasers Vortrag kann ich mich kaum erinnern, aber netterweise kann ich ihn auf seinem Blog nochmal nachlesen. Und er endet mit einem schönen Satz per Chart, den ich mir in mein Moleskine geschrieben habe (denn ich weigere mich, mein Macbook mit mir rumzuschleppen): Everything is going to be okay in the end. And if it’s not okay, it’s not the end.

Danach wollte ich mir “A Twitter Revolution without revoluationaries? What we know and what we don’t know about the impact of the Internet on authoritarian states” mit Evgeny Morozov anschauen. Leider spricht Herr Morozov ein sehr russisch gefärbtes Englisch, das ich überhaupt nicht verstehen kann. Und er erinnert mich ausgerechnet an Aleksandr Orlov von Compare the meerkats. (Ton anlassen, dann wisst ihr, was ich meine.) Ich bin anscheinend nicht die einzige, die dem Herrn nicht folgen kann – der Saal leert sich nach und nach. Jens, ronsens und ich gehen einen Kaffee trinken, laufen dann Franzi in die Arme, Felix, Florian und noch mehr Leuten, die ich schon wieder vergessen habe. (Weil zu viele und nicht weil doof.)

Die Leute, die schon öfter auf der re:publica waren, finden das wahrscheinlich schon total albern, aber ich gucke die ganze Zeit gespannt in der Gegend rum. Diese seltsame Intimität, die Bloggen hat, das Gefühl, man kenne den oder die doch, liegt in der Luft. Jens und Caro schwelgen in alten Zeiten – damals, als man eben noch gebloggt und nicht getwittert hat – und ich rede mit Herrn Knüwer über die Indianapolis Colts und die Cheerleader von Rhein Fire. Beim Sushi in der Mittagspause mit Franzi sitzen cdv und Henning neben uns, dem ich hiermit endlich mal für den Neil-Gaiman-Artikel danken will, den er mir neulich per Mail geschickt hat.

Der Vortag von Jeff Jarvis, „The German Paradox – Privacy, publicness, and penises“: sehr unterhaltsam, wenn auch recht schlagwortreich. Der Vortrag von Mortesa Dariani, „Kostenloskultur vs. Paid-Content – Zwingt die Werbekrise die Medienindustrie zu Paid-Content?“ ist erstens überfüllt, weswegen ich in der Ecke stehe, was doof ist, und entpuppt sich zweitens als Werbeveranstaltung seiner (?) Firma, weswegen ich nach fünf Minuten gehe.

Dann das Panel, auf das ich mich am meisten gefreut habe: „Feministische Netzkultur 2.0 – Chancen, Herausforderungen und Risiken einer neuen Bewegung“. Auf dem Podium saßen Menschen von diestandard.at, Missy Magazin, der Mädchenmannschaft und des Genderblogs. Leider reichte die Zeit nicht aus, um die vielen Fragen zu beantworten, die im Programm gestellt wurden. Trotzdem fand ich die Veranstaltung gut, denn es zeigte, dass es noch genug zu tun gibt, dass die lustige Idee von „Post-Gender“ ziemlicher Quatsch ist und dass Blogs und deren Vernetzungen uns die Chance geben, alle Strömungen des Feminismus abzubilden – und damit eben auch die Chance besteht, Mädchen und Frauen davon zu überzeugen, sich zu engagieren oder ihnen zumindest einen Ort zu geben, an dem sie sich verstanden fühlen.

Abends habe ich dann noch versucht, mir den Vortrag von Melissa Gira Grant, „Sex and the Internet“, anzugucken, fand ihn aber relativ unspannend. Dass Sex eine normale Sache sei, die wir bitte nicht an den Rand des Internets drängen lassen sollen – ja gut. Aber die letzten zehn Minuten haben dann alles wieder rausgerissen, denn dann wurde Chatroulette gespielt. Und natürlich erschien relativ schnell eine entspannte Hand, die einen nicht mehr ganz entspannten Penis bearbeitete. Melissa chattete den Typ an, ob er gerne beobachtet werde – ja – auch von 500 Leuten? – Fragezeichen – woraufhin sie das MacBook umdrehte und nun der johlende und ziemlich gut gefüllte Friedrichstadtpalast im Chatfenster sichbar wurde. Woraufhin die entspannte Hand seeeehr langsam wurde – und dann das Fenster weg war.

Nach Sascha Lobos „How to survive a shitstorm“ (sehr unterhaltsam) habe ich mir meine erste Twitterlesung live anstatt im Stream angeschaut (ebenfalls sehr unterhaltsam und mit Stargast Jeff Jarvis, der ein paar englische Tweets vorlas), um dann bei diversen Flaschen Bier in der Kalkscheune noch weitere Menschen zu treffen, viele leider zu kurz. Herr Niggemeier mag neuerdings meine Fressgeschichten, das iPad von Herrn Lobo hat mich überraschenderweise ziemlich kalt gelassen, ich habe Dirk, Stefan und Frau Elise immerhin kurz Hallo gesagt, mir in aller epischen Breite nochmal sehr gerne die Manchester-Reise von Jens angehört und mich beschwert, dass er zu wenige Fotos von Mario Gomez gemacht habe („Anke – der sieht in echt noch besser aus!”) und habe dann den Abend mit einer sehr freundlichen Genderdiskussion mit den beiden Piraten Lars und Torben ausklingen lassen.

Wer meint, die re:publica sei ein Klassentreffen, hat Recht.
Wer meint, die re:publica sei nur ein Klassentreffen, hat keine Ahnung.