Dezemberjournal: Alles anders, alles toll

Das Bett ist schmaler, die Stockwerkzahl höher. Meine Postleitzahl fängt mit 80 an. Das Bad ist größer, aber es hat kein getrenntes Klo. Die Dusche hat mehr Druck, kann aber nur knapp zu heiß und arschkalt. Dafür ist der Wasserdruck in der Küche gleich null, und wenn ich abwaschen will, brauche ich nur noch ein Tröpfchen Spülmittel, weil das Wasser eh nix aufschäumt. Ich habe von allem im Geschirrschrank nur vier Teile: Teller, Schälchen, Wassergläser, Besteck. Außer Weingläser, davon habe ich sechs. (Davon habe ich in Hamburg allerdings auch zwölf.) Der Supermarkt heißt Tengelmann statt Edeka, die Bushaltestelle Josephsplatz statt Kottwitzstraße. Dafür steige ich nicht irgendwo in Ottensen aus und denke über Autos nach, sondern an der Universität und denke über Bilder und Musik nach.

Und jedesmal, wenn mich irgendwas nervt (und im Moment nervt noch viel, weil ich völlig unterschätzt habe, wie viel Kleinscheiß ich für ein „Jetzt isses Zuhause“-Gefühl brauche), denke ich daran: Ich beschäftige mich mit Bildern und Musik. Es sind gerade acht Wochen, aber es kommt mir viel länger vor. Weil ich mich intensiver mit dem Thema auseinandersetze, weil alles neu ist, weil ich mich in alles reinkämpfen muss. Es fühlt sich allerdings überhaupt nicht nach reinkämpfen an; ich muss zwar dauernd nachschlagen, was jetzt noch mal der olle Sonatensatz* ist, den ich gerade in den ersten Sätzen der Beethoven-Klaviertrios suche, aber es fühlt sich wie Ostereiersuchen mit Weihnachtsgeschenkeauspacken an, wenn ich alles gefunden habe, was ich suche. Oder eben nicht, und dann fühlt es sich an wie „Wow, der olle Beethoven. Schon schlau.“

Ich sehe allmählich Dinge, die ich vorher nicht gesehen habe. Notenverläufe, die Dialoge zwischen Instrumenten darstellen. Fermaten, die keine schnöde Pause sind, sondern den Sänger oder die Sängerin flehend zurücklassen. Akkorde sind mehr als ein paar gemeinsame Noten, sie sind der Weg zur Auflösung oder zur völligen Verzweiflung, sie klingen nicht, sie leiten mich. Und bei Bildern ist es genauso: Die Romanik ist nicht mehr oll und platt, sondern eine faszinierende Vorstufe zur geliebten Gotik. Ich sehe ganz langsam die Kunstfertigkeit an den Reliefs, Kapitellen und Tympana, die ich vor gerade acht Wochen noch als naiv und unfertig empfunden habe. Inzwischen benutzte ich hemmungslos das schwärmerische Vokabular des Professors, dessen Vortragsstil ich immer noch anstrengend finde, aber ich spüre inzwischen, warum er so begeistert ist und uns ebenso begeistern will.

So wie bei der Eva, die sich ursprünglich im Türsturz des Nordportals von Saint-Lazare in Autun befand und heute im Musée Rolin zu bewundern ist.

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Die Skulptur wurde ungefähr um 1130 gefertigt, und wir wissen sogar, von wem, denn der Herr meißelte seinen Namen mal eben ins Portal. Es ist Gislebertus, einer der ersten Meister, die wir namentlich kennen. Was an an der Eva so faszinierend ist: Sie ist einer der wenigen Akte im Mittelalter, wo die Damenwelt sich eher bekleidet zeigte. Außerdem liegt sie, was einerseits ihrer Position zu verdanken ist – ein Türsturz ist nun mal eher breit als hoch –, aber was Gislebertus daraus gemacht hat, ist spannend. Erzählt wird, wie man leicht erkennen kann, der Sündenfall: Eva greift nach dem Apfel. Aber: Wo ist die Schlange, die sonst gerne abgebildet wurde? Ganz einfach: Eva verkörpert auch sie. Ihre liegende Haltung könnte nämlich auch so gedeutet werden, dass sie sich schlangengleich fortbewegt. Ihre Beine sind versetzt anstatt unbewegt hintereinander; sie scheint die Pflanzen vor sich wegzuschieben, die Halme werden von ihrem Oberkörper und Kopf gebogen. Dann: ihre Hand, mit der sie nach dem Apfel greift – sie sieht ein wenig wie das geöffnete Maul einer Schlange aus. Und schließlich ihre Haare, die sich feingliedrig an ihrer Schulter und ihrem Oberarm entlangzüngeln: Auch sie erinnern an der verführerische Kriechtier.

Auch der Rest des Türsturzes ist durchgestaltet: Pflanzen in verschiedenen Ausführungen umranken die Figur, durch die sie sich hindurchschlängelt. Ihre rechte Hand liegt sanft an ihrer Wange: Zweifelt sie? Zögert sie? Fast sieht es so aus, als würde ihre linke Hand gar nicht zu ihr gehören. Aber: Sie greift trotz allem nach dem unheilbringenden Apfel. Die Verführung der Schlange ist perfekt.

Und so sehe ich inzwischen fast alle Skulpturen. Ich sehe anders. Ich sehe genauer. Ich denke länger über Gesten nach, Motive, Gewandfalten, Hintergründe, Perspektiven. Und ich lasse mich gnadenlos und Hals über Kopf fallen in diese Schönheit, vergesse meine Coolness, meine Abgebrühtheit, meine Distanz, ich schwärme in meinen Protokollen genau wie im Blog und anscheinend klinge ich auch beim Referat so. (Jede/r sollte so klingen!)

Gestern fielen überraschenderweise die Kurse zur Messe in der Renaissance und zu den Beethoven-Trios aus, und anstatt zu denken, yay, nach Hause fahren und Serien gucken, dachte ich: Ach Mist. Ich hatte mich doch so auf euch gefreut.

* Exposition (Hauptthema, Überleitung, Nebenthema), Durchführung, Reprise, Coda.