Gut Essen, Tag 2 – das Erdbeerhuhn

Bisher bin ich Wochenmärkten stets großräumig ausgewichen. Erstens mag ich keine Menschenmengen und zweitens keine, die sich nur im Schritttempo fortbewegen. Ich bin eher der Listeneinkäufer; ich überlege mir vorher, was ich essen will, überschlage im Kopf, was noch zuhause ist (oder was weg muss) und schreibe mir dann auf, was ich noch brauche. Mit dem Zettel bewaffnet gehe ich in den nächstgelegenen Supermarkt und kaufe relativ stur nur den Kram, den ich mir notiert habe. Ich kenne es überhaupt nicht, mich von Obst- und Gemüseauslagen inspirieren zu lassen. Auch deshalb, weil ich nicht wüsste, was ich mit dem ganzen Kram anfangen sollte, aber eher, weil ich Esstrottel mich wohler fühle, kontrolliert eine Liste abzuarbeiten.

Über den Schatten musste ich jetzt aber springen, denn Lu zerrte mich gnadenlos in Richtung Isemarkt. Schon im Bus bemerkte ich ein erhöhtes Menschenaufkommen, von denen die meisten auch mit Körben und Taschen bewaffnet waren. Ich hatte aber keine lange Zeit zu jammern, denn schon vom ersten Stand an habe ich nur noch geguckt, gestaunt, gerochen – und GEBUMMELT. ICH BIN EIN BUMMLER GEWORDEN. Gut, die Gemüsestände sahen für mich auf den ersten Blick nicht anders aus als der Türke um die Ecke, aber Lu sorgte dafür, dass ich nicht ganz so saumselig durch die Gegend schlich, sondern bewusst Ausschau hielt. Nach verschiedenen Tomaten, die der Kerl so gerne isst, nach Angeboten, die vielleicht inspirieren, nach Gemüse, das ich noch nie probiert habe, es aber gerne mal machen würde, nach den Weinbergpfirsichen (die Nektarinen sind, wie ich jetzt weiß – „Ich will die ohne Haare“), die mir gestern so gut geschmeckt hatten. „Merk dir mal, wie viel die hier für ein Kilo haben wollen.“ Ich habe ehrlich gesagt noch nie auf Preise von Lebensmitteln geachtet (musste ich netterweise noch nie), habe aber ziemlich schnell daran Gefallen gefunden, von einem Stand zum nächsten zu gehen und vor mich hinzumurmeln: „5,40? Da geht noch was.“

Beim schönsten Tomatenstand haben wir fünf verschiedene Sorten erstanden und von der Verkäuferin den Tipp bekommen, beim Draußensitzen eine Zitrone mit Nelken zu spicken, das hielte die Wespen ab. Beim hamburgisch gefärbten Italiener haben wir die Nektarinen gekauft, die der Mann auf Anhieb aufs Gramm genau abgewogen hat. Trinkgeld galore. Am Fischstand (noch ein unbeschriebenes Blatt bis auf Fischstäbchen, Pangasiusfilet und Fischmac) habe ich gelernt, wie man frischen Fisch erkennt: Augen sollten klar sein, die Kiemen rosig, beim Druck mit dem Finger sollte das Fleisch wieder in die Ausgangsposition zurückkehren, und nicht zuletzt sollte es nicht so fies nach Fisch riechen. Ist mir sehr recht.

Eine Verkäuferin hatte statt eines meterbreiten Standes nur einen kleinen Tisch vor sich, auf dem sie zwei Sorten Olivenöl aus dem italienischen Familienbetrieb verkaufte. Ich habe zum ersten Mal auf einem Markt etwas probiert, nämlich Öl mit einem kleinen Weißbrotstückchen. Und ich habe zum ersten Mal gemerkt, wie unterschiedlich Öl schmecken kann. Ich entschied mich für die mildere Variante, die nicht ganz so scharf hinten im Rachen war, wir kauften noch zwei frisch geschlachtete Hühnchen, und so bepackt traten wir den Rückweg zur Homebase an – nur um zehn Minuten später wieder aufzubrechen. Diesmal in die Innenstadt, um uns einen Mörser zu kaufen.

Nachdem auch das erledigt war, kam wieder ein bisschen Theorie. Was machen Kohlehydrate, wieviel Eiweiß sollte ich essen, wieviele Mahlzeiten am Tag … und wann ich denn Zeit hätte, mal wieder vernünftig Sport zu machen. Nachdem wir auch das festgelegt hatten, erklärte ich Lu die Wii Fit, deren Aerobic-Stepprogramm jetzt zu meinem persönlichen Sportplan gehört. Zur Strafe habe ich Lu dafür im Tennis vermöbelt. Außerdem haben wir festgestellt, dass das Wii-Board eine fiese Stasikonsole ist. „Hallo Lu. Findest du, dass sich Anke verändert hat? Ist sie a) schlanker, b) dicker, c) gleichgeblieben …“ d) … keine Ahnung, ich war mit Aufplustern beschäftigt: „Was bilden sich dieses Board denn da bitte ein?!?“

Der Tag war fast schon rum, als wir endlich Zeit für das Abendessen hatten. Die zwei Hühnchen wurden aus der Folie gewickelt, ich entfernte das Gummi, das sie zusammenhielt und hatte das gleiche Gefühl wie gestern beim Lamm: Ich sehe das Tier und nicht mehr nur ein Stück Fleisch und ich kann mal kurz danke sagen. Jetzt weiß ich auch, warum eine Hühnerbrust so aussieht wie sie aussieht, weil ich jetzt weiß, wo sie sitzt. (Lus Mantra: Nähe zum Produkt. Nähe zum Produkt.) Die Vögel landen zum Anbraten in heißem Öl, werden mit Milch übergossen, eine Handvoll Salbeiblätter, abgeriebene Zitronenschale und gefühlte 20 Knoblauchzehen dazu, Deckel drauf, ab in den Ofen mit Omas Schmortopf.

Während das Huhn gar wird und mal wieder herrlichster Duft durch unsere Wohnung zieht, mixe ich aus verschiedensten Salzen und Kräutern eine Würzmischung, die in den nächsten Tagen auf irgendeinem Fisch landen soll. Dann verkosten Lu und ich mehrere Öle, darunter auch das neu erstandene; ein bisschen pur auf eine Untertasse gießen, dran riechen, kurz nippen und dann mit gespitztem Mund Luft reinsaugen, so dass sich alles verteilt und auch der Rachen noch was mitkriegt. Ich schmecke pures Olivenöl und finde es großartig, sich so ausführlich und liebevoll mit Essen zu beschäftigen – und kann es kaum fassen, welche Schätze ich in meiner Küche habe.

Der Kerl ist inzwischen auch zuhause und darf den Mörser einweihen; er produziert aus Meersalz und kleingeschnittenem Rosmarin ein Rosmarinsalz (ach was), das wir noch durch ein Sieb streichen, um es feiner und haltbarer zu machen. Währenddessen waschen wir noch eine Runde Kopfsalat und vermischen ihn mit ein bisschen Rucola und Radicchio. Das Dressing besteht aus Zitronensaft, einer Zwiebel, ein paar gelben Tomätchen aus Lus Garten, Olivenöl und – Ahornsirup. Den habe ich bisher nur über Pfannkuchen gekippt, lerne aber jetzt, dass er großartig mit Zitrone zusammenpasst. Trotzdem werden Salat und ich wahrscheinlich wirklich keine Freunde mehr, denn trotz der veschiedenen Geschmäcker, die mir grün und nussig und fein-bitter entgegenkommen, habe ich das Gefühl, einen Haufen Taschentücher zu essen. Ich vermisse Gurken, Tomaten und Paprika. Und überraschenderweise keine Schokolade.

Das Hähnchen ist gar, Lu zerteilt das erste, ich gucke zu und zerteile dann mit Omas Geflügelschere knackend das zweite. Das Fleisch ist buttrigzart, die Haut knusprig, und es duftet himmlisch. Zum Essen gibt es heute einen Tempranillo Rosé, der in seiner roten Form laut Weinbuch nach Brombeeren, Tabak und Schokolade schmecken soll. Ich schnuppere, finde keine Brombeere, kann aber auch nicht sagen, was es sonst sein soll, bis Lu meint: „Himbeere.“ Logisch. Himbeere. Klar. Ich finde es sehr spannend, Gerüche oder Geschmäcker in der Nase oder im Mund zu haben, sie zu kennen – und doch nicht benennen zu können. Lu vergleicht es mit dem Erlernen einer Fremdsprache, ich fühle mich an den Gesangsunterricht erinnert, wo ich mit meinen Händen einen imaginären Raum über mir beschrieben habe, um höher singen zu können. Einfach eine neue Art, sich mit etwas auseinanderzusetzen, eine Art, die ich noch lernen muss. Im Mund verwandelt sich die Himbeere in eine reife Erdbeere und erinnert an dicke Bowlegläser auf einer Terrasse mit bunten Lichtern. Das zarte Huhn macht die Erdbeere im Mund noch größer, das Zitronendressing bringt sie zum Hüpfen. Ich sitze wie gestern bräsig-beseelt am Tisch und freue mich auf morgen. Da gehen wir Käse kaufen. Und Wein. Und irgendwann diese Woche Fisch. Und dann krieg ich einen Crashkurs in Weinkunde. Und wir organisieren die Speisekammer um. Und irgendwann lese ich mal wieder ein Buch.