Saturday Night Nervscheiß

Seit letztem Montag beherrscht mich mein Magen-Darm-Trakt. Ich erspare euch die Details, möchte aber sagen, dass ich fast immer und bei fast allen Gebrechen meines Körpers nach 40 Lebensjahren inzwischen der Meinung bin: Das regelt sich von alleine. Ausnahme sind Zahnschmerzen, da bin ich innerhalb von fünf Minuten beim Arzt. Alles andere geht auch so wieder weg. Notfalls helfe ich mit Pfefferminztee, Zwieback, Schlafen und Rumnölen nach. So habe ich auch die letzte Woche verbracht, bis sich Samstag nachmittag mein Bauch zu den Blödmännern Magen und Darm gesellte und plötzlich fies geschmerzt hat. Und da half dann irgendwie gar nichts mehr, weder Wärme noch Rumlaufen noch Stillliegen noch Rumnölen. Nach drei Stunden habe ich den Kerl angejammert, mich bitte in die Notaufnahme zu begleiten, weil mein Kreislauf inzwischen so weit im Keller war, dass ich kaum noch die Treppe zum Taxi runtergekommen bin.

In der Notaufnahme stellten wir uns hinter einige lustig gewandete Gesellen in die Schlange am Empfangstresen. Der Schlagermove war in der Stadt und damit ne Menge viel zu gut gelaunter Leute mit viel zu viel Bier im Blut. Nach zehn Minuten Rumstehen und Bauchfesthalten und Frieren (Fiebermessen ergab 35,4°) waren wir dran, ich erzählte, wie’s mir so ginge, bekam zu hören „Das kann heute dauern“, nickte ergebenst und begab mich an Kerls Arm ins Wartezimmer. Keine zehn Minuten später wurde ich aufgerufen und schlurfte ins Untersuchungszimmer, wo ein Arzthelfer sich erzählen ließ, was ich so hätte und das in eine Mozilla-Eingabemaske tippte, wie mir der Kerl später berichtete, der einen besseren Blick auf den Monitor hatte, während eine freundliche Arzthelferin Blutdruck maß, mir zehn Elektroden irgendwohin klebte und dann eine Viertelstunde lang versuchte, mir Blut abzunehmen.

Dass ich anscheinend unsichtbare Venen habe, weiß ich schon länger. Ich schwärme heute noch von einer Spezialpraxis, die nur Blutuntersuchungen macht und daher Leute an den Nadeln sitzen hat, die schon alle Arme dieser Welt gesehen haben. Die Dame damals hatte ungelogen einmal auf meinen Arm getippt, die Nadel reingestochen, ohne dass ich es groß gemerkt habe und innerhalb von einer Minute fünf Ampullen voll. Sie war fast beleidigt, als ich – ich gucke beim Blutabnehmen nie hin – fragte, ob sie schon angefangen habe. Die andere Seite des Spektrums war der Arzt in der Reha, in der ich nach meiner Bandscheiben-OP war, der es zehn Minuten lang in jedem Arm probierte, dann noch in beiden Handrücken und mir schließlich eine Nadel seitlich am Handgelenk reinrammte, während ich damit beschäftigt war, nicht vor Kreislaufschwäche vom Stuhl zu rutschen, denn das ganze war morgens, ich war nüchtern und inzwischen so sturmreif gepiekt, dass ich kurz davor war, mich zu übergeben.

So schlimm war es diesmal nicht; die Nadel war relativ schnell drin, auch wenn das Auf-den-Arm-Klopfen, um die Venen hervorzulocken, und das Faustmachen nicht so richtig angeschlagen hatten. Diesmal waren dann nicht meine Adern zickig, sondern mein Blut, das sich nur tröpfchenweise in die Ampulle „ergoss“. Nach fünf Minuten suchte der Arzthelfer mal meinen anderen Arm ab, während die Arzthelferin sich mit meinem Handrücken beschäftigte. Das Stechen war dann auch eher ein Bohren, ich klapperte inzwischen mit den Zähnen, was aber alles prima von den Bauchschmerzen ablenkte, und schließlich hatte ich zwei Kanülen drin, aus denen endlich genug Blut fürs Labor raustropfte.

Eine gute halbe Stunde nach unserer Ankunft saßen wir also wieder im Wartezimmer, und ich dachte noch naiv, wenn’s in dem Tempo weitergeht, ist ja alles halb so wild. Neben uns saß ein ganz in Weiß gekleideter Typ, der auch schon eine Kanüle im Arm mit sich rumtrug und ansonsten Notizen auf alten Moleskine-Blättern machte, die er in der Hosentasche mit sich führte. Drei türkische Kinder spielten auf dem Fußboden, der große Bruder passte auf.

Stunde 2. Die Mutter der Kinder kommt aus der Untersuchung wieder und legt ihren Arm seltsam verrenkt neben sich auf den Stuhl. Sie verabschiedet ihre Kinder, die fröhlich das Krankenhaus verlassen, während sie hierbleibt. Ganz in Weiß geht zu einer Untersuchung und kommt kurz darauf wieder zurück, äußerlich unverändert. Er schreibt weiter auf seinen losen Blättern rum. Ein älterer Mann mit Regenschirm kommt rein, nimmt sich nichts zu lesen, sondern guckt nur. Draußen am Tresen sammeln sich die nächsten Schlagerfredels und verstreuen Kunstblumen im Eingangsbereich. Die Krankenwagen kommen ohne Blaulicht und schieben Leute auf Tragen an uns vorbei. Verbundene Füße, Köpfe und Hände.

Stunde 3. Zwei Frauen in meinem Alter mit Gucci-Täschchen machen es sich bequem. Ich habe keine Ahnung, was ihnen fehlt. Überhaupt sehen alle im Wartezimmer nicht so aus, als hätten sie irgendwas. Meine Bauchschmerzen sind inzwischen netterweise schwächer geworden (wie immer, wenn man beim Arzt ist), mein Kreislauf hat sich etwas stabilisiert und ich lese Proust. Zwei Polizisten führen ein hysterisches Mädchen mit Handy am Ohr zum Tresen und raunzen „Jetzt ist aber Schluss mit Telefonieren, wir sind hier im Krankenhaus.“ Das Mädchen muss anscheinend eine Urinprobe abgeben; jedenfalls geht sie aufs Klo, das vom Warteraum abgeht. Die beiden Gucci-Tanten bekommen Zuwachs, ein Freund von ihnen leistet ihnen beim Warten Gesellschaft. Zusammen erkunden sie den Heißgetränkeautomaten und stellen fest, dass es Vanillemilch gibt. Ich verkneife mir seit Stunden einen Gang zum Klo, weil ich ja denke, dass ich jederzeit dran sein müsste. Der ältere Herr mit dem Regenschirm verschwindet mit einem Arzt, Ganz in Weiß guckt in der Gegend rum. Nach einiger Zeit fällt den Polizisten auf, dass Handy-Mandy immer noch nicht wieder vom Klo zurück ist. Zusammen mit einer Schwester stürmen sie die Toilette, wo das Mädchen entspannt telefoniert anstatt zu pinkeln.

Stunde 4. Ich kann mich nicht mehr auf Proust konzentrieren und daddele am iPhone rum. Der Kerl sitzt neben mir und macht das gleiche mit seinem iPhone. Draußen rollen wieder blutende Schlagerdeppen an uns vorbei. Ganz in Weiß und Regenschirm haben sich angefreundet und tauschen Erzählungen hinter den Kulissen aus. Ganz in Weiß muss Montag auf Geschäftsreise und wollte vorher nur mal seine Blutwerte durchchecken lassen. Da habe er sich ja nen Supertag für ausgesucht. Regenschirm rückt nicht so recht raus, was er eigentlich hat, sagt aber immer jaja, und die beiden verabreden sich schon mal fürs Frühstück im Erikas Eck. Die türkische Mutter wird von einem Arzt abgeholt und darf endlich gehen. Dem Begleiter von Gucci-Täschchen wird es langweilig, und er setzt sich nach draußen ins Auto, wo es bequemer wäre als hier drinnen. Kerl und ich überlegen, an welchen Tagen man nicht in Hamburg in eine Notaufnahme gehen sollte: „Schlagermove … Hafengeburtstag … Welt-Astra-Tag … Harley Days … CyClassics … Hanse-Marathon … CSD … 1. Mai … Grand Prix d’Eurovision … wenn Pauli spielt … wenn der HSV spielt …“

Stunde 5. Ein Arzthelfer fragt mich, ob mich schon ein Arzt gesehen habe. Ich verneine und glaube, gleich dranzukommen. Ein Krankenwagen bringt ein heulendes Mädchen rein, das verzweifelt ihre Mutter auf dem Handy anfleht, schnell in die Notaufnahme zu kommen. Keine 20 Minuten später sind Mama und ein Kerl da. Der Kerl trägt ein Shirt mit der Aufschrift „Der frühe Vogel kann mich mal“ und scheint sich nicht sonderlich dafür zu interessieren, dass Stieftöchterchen (?) fast einen Nervenzusammenbruch hat. Mama tröstet leise, Wurm holt sich nen Kaffee. Oder eine Vanillemilch. Gucci-Täschchen und Freundin werden allmählich nölig, dass alles so lange dauert. „Ich meine, ich muss Montag zur Arbeit, wie stellen die sich das denn vor?“ Sie sucht einen Arzt, um sich zu beschweren. Der Begleiter scheint im Auto eingeschlafen zu sein. Ganz in Weiß und Regenschirm werden von verschiedenen Ärzten abgeholt, verschwinden, kommen wieder, setzen sich und plaudern weiter.

Stunde 6. Die ersten lauteren Besoffskis rollen festgeschnallt auf Tragen an uns vorbei. Ein Mädchen ist nicht zu erkennen hinter ihren Haaren, ihre Freundin hält ihre Hand. Einige der Leute, die vor Stunden an uns vorbeikamen, rollen oder humpeln jetzt wieder raus. Bis zu drei Krankenwagen gleichzeitig stehen immer an der Tür. Eine Schwester kommt rein und fragt, ob hier jemand einen silbernen Volvo führe, der würde gleich abgeschleppt. Gucci hat einen Arzt gefunden und berichtet stolz ihrer Freundin, dass sie gleich dran sei. Sie habe gedroht, sonst zu gehen, ohne irgendwas zu unterschreiben. „Die können mich doch nicht zwingen, hierzubleiben. Und überhaupt: gegen ärztlichen Rat. Ich hab doch noch gar keinen Arzt gesehen!“ Mama und das heulende Mädchen werden nach hinten gebeten, von wo sie sichtlich erleichtert wieder auftauchen. Zwei Schlagerdeppen, die ihren Freund mit Kopfverband abholen, machen Erinnerungsfotos vor dem Empfangstresen. Ich gehe endlich aufs Klo und teste dann den Wasserspender an. Zimmerwarm, kalt, mit Sprudel und ohne. Toll.

Stunde 7. Ein Arzt kommt auf uns zu: „Ich suche eine Frau Gröner?“ Kerl bringt mich zum Untersuchungsraum, wo ich all das nochmal erzähle, was ich vor sieben Stunden schon mal erzählt habe. Inzwischen geht’s mir deutlich besser, ohne dass ich irgendwas bekommen hätte. Der Arzt ist nett und geduldig, gibt mir zwei Tabletten, rät zu den frei verkäuflichen Medikamenten und meinte, ich müsse nochmal kurz ins Wartezimmer, bevor es den Entlassungsbrief gebe, er habe noch eine Patientin. Ich gehe raus und Gucci scharrt schon mit den Hufen. Ganz in Weiß und Regenschirm rauchen vor der Tür, bekommen ihre Entlassungsbriefe und gehen gemeinsam. Wir sind alleine im Wartezimmer.

Stunde 8. Gucci kriegt ihren Entlassungsbrief vor mir. Der Kerl schläft allmählich ein und ich schicke ihn nach Hause, weil ich noch auf jemanden warte, der mir meine blöde Kanüle aus dem Handrücken zieht. Ich bekomme meinen Entlassungsbrief und die Ansage, es käme gleich jemand, um mich zu entnadeln. Ich mache es mir im Eingangsbereich bequem, wo niemand mehr an mir vorbeirollt. Kein Krankenwagen ist mehr zu sehen. Ich warte 20 Minuten, bis ich mich traue, doch mal am Empfang nachzufragen, ob sich jemand um mich kümmern könnte. „Ach, wir dachten, Sie warten auf Ihren Freund.“ Zwei Minuten später habe ich ein blutiges Pflaster auf der Hand und gucke draußen an der Bushaltestelle dem Sonnenaufgang zu.

Sonntag. Kerl holt mir Medikamente aus der Apotheke plus lustiges Pulver für eine Glucoselösung, weil ich das selbstgebraute Zeug (ein Liter Wasser, einen Löffel Salz, drei Löffel Zucker) einfach nicht runterkriege. Die Apotheke hat ihm ein pinkfarbenes Pulver mitgegeben, das großartig und wie Kabafit Erdbeer schmeckt. Mir geht’s seit einer Woche zum ersten Mal wieder halbwegs gut. Ein bisschen müde vielleicht. Und nen riesigen blauen Fleck in der Armbeuge habe ich auch. Aber immerhin knapp 100 Seiten Proust geschafft.