Tagebuch Samstag, 27. Oktober 2018 – Sofatag

Morgens wie üblich Durchzug produziert, alle Fenster aufgerissen, außer die im Bad, denn da duschte ich schließlich, während die restliche Wohnung plötzlich kalt wurde. Danach die Bialetti auf den Herd gestellt, Kaffee bzw. Pseudo-Espresso gekocht, Milch in eine große Tasse gegossen, Kaffee drauf, mit ihr auf den morgendlichen Rausguck- und Ruheplatz auf dem Sofa im Arbeitszimmer gegangen und in Ruhe rausgeguckt. Dabei erfreut festgestellt, dass meine uralten Hannover-Gardinen am Balkonfenster genau das taten, weswegen ich sie aufgehängt hatte: Sie wehten ein bisschen im Wind. Sie sind eigentlich 50 Zentimeter zu lang, aber ich habe sie nie gekürzt, weswegen der untere Teil am Boden schleift, aber bei Luftzug weht deswegen nicht die ganze Gardine zwei Meter weit ins Zimmer, sie bläht sich einfach nur ein bisschen, wird aber am Boden quasi festgehalten, und ich sehe diesem Spiel sehr gerne zu. Das war schön.

Was auch schön war: Regen! Endlich wieder Regen. Mit Regengeräusch aufwachen, durch den Regen zum Supermarkt spazieren und den Tropfen auf dem Regenschirm zuhören, nach Hause kommen und von drinnen dem Regen zugucken. Dabei literweise schwarzen Tee mit Milch und Kluntjes trinken. You can take the girl out of Norddeutschland, but you can’t take Norddeutschland out of the girl.

Ich habe meine Umzugskiste voller Geschirr ausgeräumt, die die letzten drei Jahre in meiner Abstellkammer gestanden hat, weil ich in meinen Schränken kein Platz fürs Omas Goldrandgeschirr hatte. Ich hatte mir irgendwann angewöhnt, zwei Teller draußen stehen zu lassen, damit ich sie griffbereit habe und benutzen kann (im Link bis zu „Für gut“ scrollen), denn was bringt mir mein schönes Geschirr, wenn ich es für irgendwelche Gelegenheiten aufspare, die nie kommen. Aber das restliche Geschirr blieb in einem Umzugskarton in der Abstellkammer. Jetzt habe ich wieder Platz, es irgendwo hinzuräumen und seit ein paar Tagen auch ein Regal dafür. Ich weiß zwar, dass ich es irre oft abstauben werde müssen, aber ich mag es nicht mehr in der Kiste lassen, ich möchte es wieder sehen, denn es macht mir Freude, es zu sehen. Also packte ich die noch im Umzugspapier von vor drei Jahren eingewickelten Teller, Schüsseln und Platten aus, räumte sie ins Regal – und stellte fest, dass am Boden der Kiste noch eine flache Silberkiste lag. Die hatte ich völlig vergessen. Ich hatte wohl irgendwann mal eine der beiden Silberkisten rausgeräumt, weil in der das „Grundbesteck“ liegt, und diese hatte ich dann griffbereit im Regal in der Abstellkammer liegen gelassen. Die zweite Kiste mit den Fischmessern, den Vorlegegabeln und den großen Löffeln hatte ich aber anscheinend am Boden der Umzugskiste vergessen. Das war ein bisschen wie Weihnachten, sie zu finden.

Und gucken Sie mal, was in der Kiste noch drin war.

Den Rest des Tages habe ich gnadenlos in der Bibliothek auf dem Sofa verbracht. Zuerst Zeitung gelesen (hier ein kleiner Ausschnitt, den ich sehr schön fand), dann zugeguckt, wie Augsburg so gerade in Hannover gewinnen konnte, dann die letzten beiden Folgen Wanderlust auf Netflix geschaut und sehr gemocht, und schließlich die Nase in Feuchtwangers Exil gesteckt. Hach, der Feuchtwanger! Ich mag seinen Stil so gerne.

„Sie hängte den Hörer ein und schaute, von ihrem Bett aus, hinüber zum Schreibtisch, wo Fritzchens Bild stand. Sie war zufrieden mit sich, daß sie das Bild Tag und Nacht dort stehen hatte. Fritzchen hatte reizvolle Augen. Manchmal hatte er einen treuen Hundeblick, manchmal schaute er wild verzweifelt, aber es waren geniale Augen. Niemand begriff, warum sie, die Tochter reicher, angesehener, „arischer“ Eltern, den unscheinbaren, jüdischen Journalisten geheiratet hatte, der bei all seiner Brillanz recht anrüchig war. Sie wußte gut, warum, nur selten begriff sie es selber nicht, und auch dann spürte sie Hochachtung vor sich, daß sie es getan hatte.

Wenn sie an die Zeit bei ihren Eltern zurückdenkt, dann sind diese Pariser Jahre [im Exil] trotz ihrer kleinen Sorgen noch immer ein erfüllter Wunschtraum. Sie wurde, seinerzeit, von ihren reichen Eltern verwöhnt, konnte haben, was sie wollte, flirtete, ritt, chauffierte, spielte Tennis, plapperte französisch, englisch, italienisch, reise, hörte ausgefallene Vorlesungen. Aber was für bürgerlich stickige Luft hatte bei dem allen dieses Kaufmannshaus angefüllt, wie kontrolliert war sie gewesen, von wie vielen Konventionen umgeben, von wie vielen Vorurteilen. Aus purer Opposition mußte man in einem solchen Hause highbrow werden; schon der Widerspruchsgeist, der jedem halbwegs persönlichen Menschen eingeboren ist, mußte es einem als höchstes Ziel erscheinen lassen, den Bürger zu verblüffen. Der Tag, an dem sie sich entschlossen, Benjamins Frau zu werden, war ein großer Tag gewesen, der größte ihres Lebens; niemals sonst war sie sich so geistig vorgekommen, so vorurteilsfrei, so originell.

Noch heute kostete sie den Vorgang aus, der sie veranlaßt hatte, ihn zu heiraten. Die Sentimentalität und Zähigkeit, mit welcher dieser Mensch mit dem anziehend häßlichen Gesicht sie belagert hatte, seine zynischen, leidenschaftlichen, maßlosen Schmeicheleien hatten auf sie, die Zwanzigjährige, Eindruck gemacht und sie hatte bald beschlossen, mit ihm zu schlafen. Da aber, als sie das erstemal in seine Wohnung kam, hatte sich der „Vorgang“ ereignet. Es war eine sonderbare Wohnung gewesen, gemischt aus Dürftigkeit und ungeschickt arrangiertem Prunk, neben einem mehr als armseligen Badezimmer stand unter einer geschmacklosen Ampel ein üppiges Bett, sie hatte geduldet, daß Friedrich Benjamin sie halb auszog, und wartete nun gierig, höchst willig auf das, was kommen werde. Er aber hatte mit einemmal brüsk, unvermutet von ihr abgelassen. Seine Passion, hatte er ihr erklärt, sei stark und ehrlich, sie aber scheine nur Appetit darauf zu haben, ein- oder zweimal mit ihm zu schlafen. Er fürchte, er dürfe bei ihr auf nichts weiter rechnen als auf Lust und Neugier; das aber habe er oft genug gehabt, das reize ihn nicht mehr. Dieses Argument hatte Eindruck auf sie gemacht, der ganze, freche Mensch hatte Eindruck auf sie gemacht, er imponierte ihr noch heute. Sie hielt es heute noch für die beste, klügste Tat ihres Lebens, daß sie die maßlose Dummheit begangen hatte, ihn zu heiraten.“

Lion Feuchtwanger: Exil, Berlin 2012 (Text von 1940), S. 53/54.