Tagebuch, Montag, 23. Mai 2016 – Archivarbeit und Alles wird gut

Ich war am vergangenen Freitag im Stadtarchiv Rosenheim, dessen Bestände man teilweise online durchsuchen kann. Wie toll das ist, merkte ich, als ich am Wochenende versuchte, die Münchner Bestände zu durchsuchen, denn das ist leider nicht möglich.

In Rosenheim ließ ich mir eine Sammelmappe herauslegen (Archivsprech: ausheben), in der Zeitungsausschnitte zu Leo von Welden gesammelt wurden. Ein Fest, denn darauf war ich noch gar nicht gekommen, mal strunzdumm zu gucken, ob Ausstellungen von ihm irgendwo besprochen worden waren – manchmal wurden dort nämlich Werke abgebildet, die ich in keinem Katalog gefunden hatte. In den diversen Zeitungsausschnitten fand ich sogar Berichte zu Ausstellungen, die in der einzigen Monografie über ihn (2008) nicht verzeichnet sind. Dazu lag in der Mappe ein Redemanuskript zu einer Ausstellungseröffnung (leider undatiert, aber das konnte ich halbwegs zweifelsfrei zuordnen), in dem einige moderne Werke von Weldens positiv angesprochen wurden – also genau die Werke, die ich immer noch nicht kenne. Eine Preisliste war ebenfalls undatiert, und ich weiß auch nicht, vom wem sie stammt (der Ehefrau? der Tochter? der Galerie Rosenheim?), aber da sich fast alle Artikel in den 1960er Jahren abspielen, tippe ich auch hier auf diese Zeit.

Generell fand ich meine erste Archivarbeit sehr spannend, weil ich es toll fand, in alten Originaldokumenten rumzuwühlen, auch wenn es fast ausschließlich aufgeklebte Zeitungsausschnitte waren. Ich durfte leider nichts fotografieren, aber immerhin konnte ich ein paar Blätter kopieren. In einem Artikel von 1995 fand ich eine als Zitat gekennzeichte Phrase wieder, deren Ursprung mir immer noch nicht klar ist, die aber auch zur Legende des „entarteten“ Künstlers passte: Angeblich wurde ihm in Freiburg mal bescheinigt, sich künstlerisch eher mit „Untermenschen“ zu befassen, daher wolle man ihn nicht ausstellen. Dass er zeitgleich in Köln, Stuttgart, Berlin und München hing, reichte anscheinend nicht als Gegenbeleg. Ich frage mich, ob diese Hinweise bewusst ausgelassen wurden bei seiner Heldenerzählung oder ob sie schlicht nicht bekannt waren. Letzteres kann ich mir kaum vorstellen, denn mich als absoluten Newbie auf diesem Gebiet hat es ungefähr drei Wochen gekostet, um an diese Infos zu kommen; dass die Leute, die sich schon viel länger mit ihm befassen, das nicht mitkriegen, scheint mir unwahrscheinlich.

Ich verstehe diese Intention des Verschweigens nicht. Dass direkt nach 45 angeblich alle im Widerstand waren und nicht wussten, was da zwölf Jahre mit ihnen passiert ist, kann ich ja sogar nachvollziehen, auch wenn’s eklig ist. Aber dass Mitte der 1990er und eben in der Monografie von 2008 immer noch ein offensichtlich falsches Bild gezeichnet wird, macht mich irre. Ich frage mich, ob diese Autor*innen glauben, die Kunst von Weldens nach 1945 würde durch das geschmälert, was er vor 1945 gemacht hat, was ich für falsch halte. Kleiner Schwenk zu meinem gestrigen Biografieforschungsseminar: Dort besprachen wir zwei Biografien über Max Weber, die von Dirk Kaesler, der sehr werkimmanent arbeitete und vieles von Webers Wesen anhand seiner Texte herausarbeitete; und die von Joachim Radkau, der sich auf neues Quellenmaterial stützte, unter anderem intime Briefe zwischen Weber und seiner Geliebten Else Jaffé, in denen Webers masochistische Neigung sehr deutlich wird. Die wissenschaftliche Kritik hat Radkaus Biografie mehrheitlich verrissen; ein Kritikpunkt war, dass diese offenherzige Darstellung das Werk Webers schmälern würde. Das sahen wir im Kurs anders: Das Werk Webers wird doch nicht weniger gut, wenn wir wissen, dass es nicht nur beim einsamen Studium entstanden ist, sondern auch beim, ich erfinde frei, lustvollen Stiefellecken.

Zurück nach Rosenheim: Nach der Archivarbeit ließ ich mich wieder mit der Bahn nach München chauffieren und nahm mir vor, die Zeitungsbestände im Müncher Archiv genauso durchzuwühlen, denn von Welden hatte dort bis 1943 gelebt. Gestern stand ich also um kurz nach Öffnungszeit das erste Mal im Lesesaal des Münchner Stadtarchivs und bat eine Angestellte um Hilfe. Da ich online nichts hatte einsehen können, wusste ich nicht, was alles kommt. Leider kam gar nichts. Das Archiv hatte zu von Welden keine Mappe angelegt, aber: Es fanden sich ein paar Fotos, die allerdings bestellt werden mussten. Normalerweise hebt das Archiv an mehreren Tagen in der Woche zu drei Tageszeiten aus; ich muss aber leider am Dienstag wiederkommen und gucken, was das überhaupt für Fotos sind. Mir wurde außerdem eine Mailadresse gegeben, bei der ich eine Kollegin fragen könnte, ob sie für die Chronik Infos zu von Welden hätte. Ich habe keine Ahnung, was diese Chronik ist, aber ich nehme an, das werde ich dann auch per Mail erfahren.

Nachmittags setzte ich mich in ein LMU-Seminar, das für uns KuGi-Studis offen steht, ohne dass wir angemeldet sein müssen: Berufsperspektiven für Kunsthistoriker. Gestern ging es um den Bereich Museum, und weiterhin anschauen will ich mir noch Journalismus (hauptsächlich, um Kia Vahland anzuhimmeln), Denkmalpflege und Universität, auch wenn ich mir letzteres eigentlich schon abgeschminkt habe.

Die Runde gestern war äußerst unterhaltsam und zudem sehr informativ. Dass es nicht den einzig wahren Lebensweg gibt, um dort zu landen, wo man hin will, muss man mir zwar nicht mehr erzählen, aber für 22Jährige ohne Berufserfahrung ist es vermutlich ganz schön, das mal zu hören. Für mich neu war das Arbeitsfeld Kulturstiftungen, bei denen ich immer BWLer*innen vermutet hatte. Der Referent erzählte auch freimütig, dass er alles tut, um genau diese Nasen rauszuhalten und stattdessen Kunsthistoriker*innen einzustellen, denn es ginge schließlich erstmal um Kunst und dann erst um Geld. Sehr sympathisch. Außerdem meinten alle, dass Geschichte die perfekte Ergänzung zu Kunstgeschichte sei; nur eine von den dreien hatte das als Nebenfach, die anderen beiden meinten, sie hätten sich die Fähigkeiten selber reinprügeln müssen. „Alleine die Hilfswissenschaften! Alte Schriften lesen können! Das ist Gold wert, ganz egal, worauf Sie sich spezialisieren.“ Frau Gröner dachte versonnen an ihre Urkundenlesekünste und freute sich: Endlich mal was richtig gemacht. (Frau Gröner denkt aber neuerdings auch sehr oft daran, endlich mal Kurrent und Sütterlin zu lernen; das ist für die Beschäftigung mit der NS-Zeit recht sinnvoll.)

Im weinseligen Gespräch nach der Veranstaltung fragte ich dann konkret nach: Habe ich in meinem Alter überhaupt noch eine Chance, was alle bejahten. Sie gaben mir allerdings den dringenden Rat, es vor allem an kleineren Häusern zu versuchen – „nach Berlin und München wollen alle, da wächst dauernd junges Volk nach, das für sehr wenig Geld sehr viel tut.“ Auch für die Stipendiensuche während der Promotion hatten sie einen guten Rat; angeblich gebe es viele Stipendien für „Frauen mit gebrochenenen Lebensläufen“, die oft gar nicht ausgeschöpft würden, weil genau wir Damen gar nicht damit rechnen, ein Stipendium zu bekommen.

Das tat sehr gut, all das zu hören, auch wenn ich natürlich weiß, dass ich mehr Glück als Können brauche, um wirklich irgendwo als irgendwas Kunsthistorisches in meine gefühlt fünfte Karriere zu starten (ich habe immer die Moritat der Kaltmamsell im Hinterkopf). Was mir aber auch gut getan hat, war eine Aussage einer der Referentinnen, die zusätzlich zu ihrem Hauptjob noch an der Uni unterrichtet: „Das merkt man bei den Studierenden sofort, wer da wirklich was wissen will und wer nur seine Zeit absitzt.“ Na immerhin.