Tagebuch 14. Oktober 2015 – Zwei neue Dozentinnen

Gestern wartete mein erstes Seminar auf mich: Ost-West-Dialoge. Zweimal deutsche Kunst nach 1960. Das hatte ich im ersten Belegverfahren nicht bekommen, im Nachrückverfahren schon. Dachte ich jedenfalls.

Die Dozentin ging die übliche Namensliste durch, auf der ich nicht auftauchte. Dann die Liste der Menschen, die im Nachrückverfahren einen Platz bekommen hatte, auf der ich auch nicht auftauchte. Dann fragte sie, wer hier säße, ohne einen Platz zu haben, und ich meldete mich zusammen mit drei Damen, die ähnlich sparsam guckten wie ich.

Die Platzvergabe läuft bei uns in Kunstgeschichte so: Im ersten Durchgang wählt man online alles, was man haben will oder muss und setzt per Drop-Down-Menü eine Priorität; das Seminar muss ich haben (Prio 1), das hier wäre toll (Prio 2), das hier ist nur dafür da, falls alles andere schiefgeht (Prio 3) usw. Sobald man einen Kurs angewählt hat, taucht er im elektronischen Stundenplan auf. In dieser Phase steht bei jedem Kurs „Angemeldet“, was aber nur heißt, dass man diesen Kurs gerne hätte. In den wenigen Tagen, in denen das System, das ich intern gerne HAL nenne, die Kurse vergibt, steht da „Platzvergabe noch nicht abgeschlossen, bitte warten“. Hat man einen Platz bekommen, steht da „Zugelassen“, ansonsten verschwindet der Kurs einfach vom Stundenplan.

In der Nachrückphase gilt: nix mehr mit Priorisieren, jetzt zählt Schnelligkeit. Wenn ein Kurs schon voll ist, kann er gar nicht mehr angeklickt werden. Hat man einen noch wählbaren und damit noch freien Kurs geklickt, erscheint das Seminar im Stundenplan, zusammen mit dem wunderbaren Wort „Zugelassen“.

So ergeben sich auch die zwei Namenslisten: Zuerst kamen die Glücklichen, die HAL nett fand, dann die Nachrücker. Und warum wir vier nicht auf einer dieser Listen standen, konnte uns die Dozentin auch nicht erklären. Wir haben von ihr alle einen Platz bekommen, hatten aber den Nachteil, uns bei der Referatsvergabe zurückhalten zu müssen, denn zuerst durften alle, die auf den Listen standen, sich ihre Sahnetorte raussuchen und wir kriegten dann die Selleriepizza.

Da der Kurs aber überfüllt ist, mussten die Referate sowieso doppelt und teilweise dreifach vergeben werden. Und das ist eigentlich etwas, was ich wirklich verabscheue: gemeinsam ein Referat erarbeiten zu müssen. In meinem Heimatkurs in Geschichte hatte ich das schon mal, aber da konnten wir drei ganz unterschiedliche Themen unabhängig voneinander bearbeiten. Hier lautet mein/unser Thema „Anselm Kiefer und die deutsche Mythologie“, und momentan fällt mir nur ein, dass wir uns jeder ein oder zwei Werke vornehmen und die getrennt voneinander vorbereiten. Wir werden sehen.

Wenn ich auf einer der Listen gewesen wäre, hätte ich mir ein Thema vorgeknöpft, das sonst keiner haben will. Das hat bis jetzt immer gut geklappt, und ich mag das eigentlich, Dinge so zu lernen, weil ich sie sonst schlicht nicht gelernt hätte. Da ich aber wusste, dass ich mich eh an jemanden ranhängen musste, konnte ich immerhin ein Thema wählen, das so halbwegs in meine drei großen Interessensgebiete passt, die ich im Master vertiefen will: Architektur, digitale Kunstgeschichte (die rückt allerdings immer mehr in den Hintergrund) und die Kunst des Nationalsozialismus. Kiefer hat sich in seinem Werk intensiv mit der NS-Zeit und ihrer Ikonografie auseinandergesetzt, und daher fand ich es logisch, ihn zu meinem Referatsthema zu machen. (Mal abgesehen davon, dass ich seine Kunst gerne anschaue.)

Was mir trotz der Überfüllung und der doofen Referatsvergabe gut gefallen hat, war die Dozentin und wie sie uns auf den Kurs eingestimmt hat. Sie begann mit den üblichen Formalien und teilte auch gleich einen Zettel aus, auf dem üppige Literaturhinweise waren (das erwarte ich eigentlich gar nicht, vor allem nicht in einem Hauptseminar – umso schöner, dass ich es bekomme) sowie eine genaue Aufstellung darüber, wie sie sich das Handout zum Referat und die Hausarbeit vorstellt. Sie erzählte uns dann noch, dass sie gerne kommentierte PDFs verschicke – „Da steht dann auch die Note drauf, dann haben Sie die eher, als sie im LSF (HAL) auftaucht.“ Sowas mag ich: alle Infos, die ich als Studi haben will, auf dem Silbertablett. Auch die Einführung in die einzelnen Referatsthemen war sehr gut, man wusste sofort, was das jeweils Reizvolle an jedem Thema war und wie es ins Gesamtseminar passte. Das Seminar selbst klang natürlich auch spannend, und obwohl mich das gemeinsame Referat per se erstmal nervt, möchte ich diesen Kurs ganz dringend weitermachen.

Heute nachmittag gucke ich mir einen Alternativkurs an, aber der muss sich schon verdammt lang machen.

Zwei Stunden später radelte ich ins Hauptgebäude, wo ich endlich mal wieder in meinem geliebten B201 saß; den baugleichen B101 nehme ich sogar noch lieber, dann muss ich nur in den ersten Stock klettern, was sich bei den riesigen Freitreppen des alten Gemäuers schon wie in den dritten Stock Altbau anfühlt. Der Hörsaal sieht auf allen Bildern wie ein schlimmer Holzsarg aus, aber ich mag die breiten Sitze gerne, man sieht überall gut, die Akustik ist angenehm und die Klimaanlage funktioniert (meist sogar zu gut, im Sommer habe ich hier immer ein Jäckchen dabei).

Auch hier eine für mich neue Dozentin, was aber kein Wunder ist, denn die Dame ist eine Vertretung. Ihr Vorlesungsthema: Artists on the Move. Künstlerische Reiseerfahrung seit der Frühen Neuzeit. Darunter konnte ich mir nur sehr schwammig etwas vorstellen, was auch leider nicht sofort entschwammt wurde. Die Dozentin präsentierte erst eine Viertelstunde vor Schluss ihren Seminarplan, den ich gerne von Anfang an gehabt hätte, um überhaupt zu wissen, wo die Reise (haha) hingehen soll.

Stattdessen sprang sie etwas hin und her, von Pilger- zu Handelsreisen und Forschungsexpeditionen, auf denen Künstler zugegen waren, vom Paradigmenwechsel, der sich um 1750 zutrug, als die Antikenbegeisterung nachließ und man sich auf die Heimat besonn, was bedeutete, dass die Grand Tour durch Italien etwas aus der Mode kam und man lieber im Harz wandern ging. Das erste Bild, das wir uns anschauten, war dann auch Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer, wofür sie sich fast entschuldigte – vermutlich guckten alle ähnlich wie ich, so „Was, den ollen Friedrich? Kenn ich, weiter!“ Spannend war dann aber der Kontrast, den sie zu diesem Bild aufmachte. Sie zeigte nämlich anschließend einen Blick vom Corcovado von Augustus Earle, der ähnlich angelegt ist wie der Wanderer. Wir sehen eine männliche Figur in Rückansicht, die beide über eine Berglandschaft schauen. Bei Friedrich sieht es so aus, als ob der Mensch die Natur bezwungen habe, bei Earle hingegen scheint der Mann völlig überwältigt zu sein von der Schönheit, die sich ihm bietet.

Und damit waren wir beim Thema Augenzeugenberichte, als die künstlerische Umsetzung von Landschaften gelten können, die aber niemals objektiv sind und dementsprechend vorsichtig interpretiert werden müssten. Wir sprachen über die kulturelle Voreingenommenheit von reisenden Europäern, wenn sie andere Kontinente bereisten, wir lernten, dass Reisen in der Frühen Neuzeit ein fast ausschließlich männliches Phänomen war (I am Jack’s total lack of surprise), wir hörten, dass viele Expeditionen bestimmte Künstler anfragten, damit sie die Reise visuell begleiteten. Das klang alles so spannend, wie ich es mir erhofft hatte – der einzige Wermutstropfen bleibt die momentan noch etwas unkoordiniert scheinende Rangehensweise ans Thema und dass die Dozentin leider fast komplett abliest. Das strengt mich beim Zuhören ungemein an, und leider produziert ein derartig strenges Skript gerne Sätze, die gelesen super sind, gehört aber nur schwer verständlich.

Wobei ich gestern etwas sah, das ich noch nicht kannte: Mehrere Kommilitoninnen ließen die ganzen 90 Minuten ihr Smartphone auf Aufnahme mitlaufen, um den Ton mitzuschneiden. So haben sie immerhin auch die Antwort auf die übliche Erste-Sitzung-Scheißfrage aus den hinteren Reihen: „Kommen in der Klausur mehr Multiple-Choice- oder mehr Essay-Fragen dran?“

*schnauf*